Was macht ein Gedicht zum Gedicht? Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Lyrik-Analyse und entdecken Sie die verborgenen Strukturen, die ein Gedicht von bloßer Prosa unterscheiden. Dieser Band enthüllt die essentiellen Werkzeuge und Prinzipien, um die komplexen Schichten poetischer Texte zu entschlüsseln. Von der lineardynamischen und räumlich-statischen Analyse bis hin zur strukturalen Semantik nach Greimas, lernen Sie, wie Bedeutungsmuster, Isotopien und Oppositionen die Tiefenstruktur eines Gedichts prägen. Entdecken Sie, wie Jakobson's Kommunikationsmodell und das Konzept des "foregrounding" die Wahrnehmung von Sprache verändern und zur "Verfremdung" und "Aktualisierung" führen. Erfahren Sie, wie sprachliche Wiederholungen, Parallelismen und Äquivalenzen eingesetzt werden, um die poetische Funktion der Sprache zu verstärken. Das Buch bietet einen umfassenden Einblick in die spezifisch poetischen Strukturen von Texten, von Reim und Rhythmus bis hin zu Metaphern und anderen Stilmitteln. Ein Grundmodell der Poetizität hilft, verschiedene Ebenen der Äquivalenzbildung zu ordnen, von phonologischer Wiederholung und rhythmischen Parallelen bis hin zu semantischer und syntaktischer Äquivalenz. Doch nicht nur die Ordnung, sondern auch die gezielte Unordnung spielt eine Rolle: lexikalische, grammatikalische, grafologische und semantische Abweichungen tragen zur Einzigartigkeit eines Gedichts bei. Anhand von John Wains "Poem Without a Main Verb" wird demonstriert, wie grammatikalische Deviationen und das Fehlen von Isotopien einen merkwürdig statischen Charakter erzeugen und die Resignation des modernen Menschen widerspiegeln. Dieses Buch ist ein unverzichtbarer Leitfaden für alle, die die Kunst der Lyrik-Analyse beherrschen und die Schönheit und Komplexität poetischer Sprache in ihrer ganzen Tiefe erfassen möchten. Es bietet sowohl theoretische Grundlagen als auch praktische Anleitungen, um Gedichte auf einer neuen Ebene zu verstehen und zu interpretieren. Tauchen Sie ein in die Welt der Poesie und entdecken Sie die verborgenen Botschaften, die in den Zeilen und zwischen den Zeilen verborgen liegen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
a) Analyse der linear-dynamischen Struktur von Texten
b) Analyse der räumlich-statischen Struktur
c) Strukturale Semantik
d)das strukturale Verfahren der Bedeutungsanalyse
2. spezifisch poetische Strukturen von Texten
3. Ordnung der poetischen Strukturen mit Hilfe eines Grundmodells der Poetizität
4. Resümee
1. Einführung
Um Lyrik analysieren zu können, muss der Betrachter geeignete Ansatzpunkte für die Erschließung von Texten kennen. Deshalb muss er wissen, nach welchen Prinzipien Texte strukturiert sind.
Grundsätzlich lassen sich zwei Prinzipien der Textstruktur unterscheiden:
1) lineardynamische Struktur:
Sie besteht aus verschiedenen aufeinander bezogenen Sinnabschnitten, die eine zusammenhängende Handlungsabfolge, Zeitabfolge oder - in den meisten Fällen - eine Abfolge von Argumenten ergeben. Zuallererst sollte man sich bei einer Textanalyse an den äußeren Gliederungsmerkmalen (wie etwa dem Druckbild oder den Satzgrenzen, den sog. sentence and clause boundaries) orientieren.
Gedichte machen es durch die Einteilung in Strophen und die Verwendung von Zeileneinzügen (indented lines) besonders einfach. Eine weitere Hilfe bieten auch Funktionswörter wie but, yes, oder so (sequence forms). Sie sind oft ein wichtiger Zugang zum Sinnverständnis eines Textes.
2) räumlich-statische Struktur:
Sie erscheint als eine Kette von Sequenzen, sowie eine Konstellation von gleichzeitig präsenten Elementen - Begriffen, Werten oder Figuren. Dies ist besonders wichtig bei Gedichten.
Diese Struktur wird von verschiedenen Faktoren bestimmt, die den sinnvollen Zusammenhang des Textes garantieren. Die dem Text zugrundeliegende Situation ist die am deutlichsten greifbare Ebene der Kohärenz (= Zusammenhang). Der Sprecher eines Gedichts (the poetic persona) und sein Adressat (the addressee) sind häufig nicht einfach der Autor und sein Leser, sondern fiktive Figuren wie etwa ein Liebhaber, der sich an seine Geliebte wendet oder etwa ein Toter, ein Tier oder ein bloßer Gegenstand. Man sollte also Textelemente, Zeitadverbien, Ortsadverbien, Personal - und Demonstrativpronomina genauer betrachten. Enthält ein Text jedoch keine textinterne Kommunikationssituation, wird die Kohärenz oftmals durch bestimmte Bedeutungsmuster (die Wiederkehr sinnverwandter Wörter; patterns of meaning) garantiert.
Mitte der 60er Jahre wurde die Strukturale Semantik von A. Greimas entwickelt. Jedes Lexem setzt sich aus Sememen (= minimale Bedeutungseinheiten) zusammen.
Bsp.: boy = +living +human +male etc.
tree = +natural +wooden +green
Klasseme: im Textzusammenhang dominant gesetzte ,
wiederkehrende Seme
Wenn solche Klasseme sich zu einem größeren
Bedeutungsmuster vereinen, bezeichnet man das als ISOTOPIE.
ISOTOPIE: von griechisch „iso-topos“: gleicher Ort, gleiche Ebene. bestehen aus :
a) Oppositionen
(z.B. Kultur vs. Natur; Leben vs. Tod)
b) parallele Bedeutungsmuster
(z.B. Natur und Religion in romantischen Gedichten)
das strukturale Verfahren der Bedeutungsanalyse:
Schritt 1: Zerlegung der einzelnen Wörter in Seme, und Suche nach wiederkehrenden Elementen.
Schritt 2: Verzeichnung aller ermittelten Bedeutungsmuster
Schritt 3: Ordnung in Parallelität, Opposition und Suche nach Isotopie
Bsp: John Wains Poem Without a Main Verb
2. spezifisch poetische Strukturen von Texten
Zuerst sucht man nach den Gundmerkmalen, welche die poetische Funktion der Sprache von der Normalsprache unterscheiden. Danach muss man die gedichtstypischen Stilmittel (Reim, Rhythmus, Metaphern etc.) anhand dieser Merkmale erklären, um weitere Verfahren ableiten zu können.
Jakobsons Kommunikationsmodell:
Allen 6 Faktoren dieses Modells (Sender, Botschaft, Kanal, Empfänger, Kontext, Code) lässt sich eine besondere Sprachfunktion zuordnen, die sich in den Texten unterschiedlich ausprägt.
foregrounding: Statt des signifiés tritt das signifiant in den Vordergrund Eine Dominanz der poetischen Sprachfunktionen führt zu einer „ Entautomatisierung “ der Wahrnehmung der Sprache und bewirkt deren „ Verfremdung “ und „ Aktualisierung “.
Erreicht wird ein foregrounding durch:
- sprachliche Wiederholung, Rekurrenz (linguistic repetition)
- Parallelismus
- Äquivalenz (d.h. Gleichwertigkeit von Teilen der Sprache)
Jedem verbalen Verhalten liegen laut Jakobson zwei grundlegende Operationen
zugrunde: - Selektion
- Kombination
z.B. Selektion aus „Kind“ „Bub“ „Knirps“ etc und „ruhen“, „schlafen“ etc. und danach deren Kombination etwa zu „der Knirps schläft“.
2 Achsen bei der Entstehung von Texten:
a) paradigmatische Achse
- Selektion
hier gibt es zahllose Klassen von Wörtern (Paradigmen), die im Bezug auf ein best. Merkmal (z.B. ihre Bedeutung) äquivalent sind. Normalerweise kommt nur eines der Elemente in den Text.
Ausnahme: poetische Texte, wie etwa bei Shakespeare. Bei ihm wandern oft viele Elemente der paradigmatischen Achse in ein Gedicht.
b) syntagmatische Achse
- Kombination
„ The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination ” Jakobson
=> es bestehen also in poetischen Texten, über die Kombination hinaus noch zusätzliche Äquivalenzbeziehungen. Diese kommen auf allen Ebenen vor: der semantischen, der phonologischen, der rhythmischen, der syntaktischen und sogar der graphischen Ebene. (Bsp. „ r “ und „ d “ als ALLITERATION bei Wain)
3.Ordnung der poetischen Strukturen mit Hilfe eines Grundmodells der Poetizität
In diesem Modell können verschiedene Mögliche Ebenen der Äquivalenzbildung zusammengefasst werden.
- Überstrukturierung (foreground regularity) durch:
- phonologische Wiederholung (Alliteration, Reim etc.)
- rhythmische Parallelen (Metrum, betonte und unbetonte Silben)
- semantische Äquivalenz (succession of synonyms etc.)
- syntaktische Parallelen (z.B. von grammatischen Einheiten)
- verbale Wiederholungen (Stilfiguren, anaphora, chiasma etc.)
- Unterstukturierung (foreground irregularity) durch:
- lexikalische Abweichung, wie etwa mit Hilfe von Neologismen oder functional conversion (d.h. ein Nomen wird z.B. als Verb verwendet)
- grammatikalische Abweichung (Verletzung syntakt. Regeln)
- grafologische Abweichung (Anordnung als Vers statt als Prosa => wirkt verfremdend, aufmerksamkeitserregend)
- semantische Abweichung, d.h. Formen uneigentlichen Redens
(Ironie, Metaphern, Metonymie...) oder auch Über- und Untertreibung (Hyperbel, Litotes), Doppelaussage (Pleaonasmus, Tautoligie) und Widersprüchlichkeit (Oxymoron, Paradoxon)
- Abweichungen vom normalen Sprachregister, wie etwa Stilbrüche und Stilvermischungen
- Abweichung von der normalen Sprachperiode, z.B. durch den Gebrauch von Archaismen (=veraltete Begriffe)
-
In Wains Gedicht hat die grammatikalische Deviation (die Tatsache dass in ihm kein „main verb“ vorkommt) eine zentrale Funktion. Durch das Fehlen der
Isotopie (Analyse von Lyrik) 10.05.01
Hauptverben erhält das Gedicht einen merkwürdig statischen Charakter. Nichts kann sich fortbewegen. => Das Gedicht endet in Resignation
4. Resümee
Poesie hat nicht nur mit einer besonderen Form, sondern auch mit besonderen Inhalten zu tun. Die Analyse der spezifisch poetischen Struktur eines lyrischen Textes muss also immer mit der Analyse seiner inhaltlichen Oppositionen und Parallelen einhergehen.
Poem Without a Main Verb
Watching oneself being clever, being clever: keeping the keen equipoise between always and never;
delicately divining (the gambler’s sick art) which of the strand must hold, and which may part;
playing off, playing off with pointless cunning the risk of remaining against the risk of running;
balancing, balancing (alert and knowing) the carelessly hidden with the carefully left showing;
endlessly, endlessly finely elaborating the filigree threads in the web and the bars in the grating;
at last minutely and thoroughly lost in the delta where profit fans into cost;
with superb navigation afloat on the darkening, deepening sea, helplessly, helplessly.
by John Wain
cleverness (Bedeutungselemente der Cleverness)
balance (Bedeutung der schwer zu haltenden Balance)
menace (Bedeutungsmuster der Bedrohung)
- Opposition zwischen „cleverness“ und „menace“
- „cleverness“ als Vorraussetzung für die „balance“, das Halten der Balance
- in der Schwierigkeit des „Balancehaltens“ besteht aber auch „Bedrohung“
= Da es in diesem Gedicht keinen besonderen Sprecher gibt („oneself“), geht es dem Dichter wohl um die Beschreibung der Gesamtsituation des modernen Menschen, der trotz all seiner „cleverness“ nicht imstande ist die rechte „balance“ zu wahren, und deshalb in die Sackgasse der „Hilflosigkeit“ und „Verzweiflung“ gerät.
Literatur:
Häufig gestellte Fragen
Was sind die grundlegenden Prinzipien der Textstruktur, die in der Lyrik-Analyse unterschieden werden?
Grundsätzlich werden zwei Prinzipien unterschieden: die lineardynamische Struktur, die aus aufeinander bezogenen Sinnabschnitten besteht und eine Handlungs-, Zeit- oder Argumentabfolge darstellt, und die räumlich-statische Struktur, die als eine Konstellation von gleichzeitig präsenten Elementen wie Begriffen, Werten oder Figuren erscheint.
Was ist die Bedeutung der äußeren Gliederungsmerkmale bei der Analyse von Texten?
Bei einer Textanalyse sollte man sich zuerst an den äußeren Gliederungsmerkmalen wie Druckbild, Satzgrenzen, Stropheneinteilung und Zeileneinzügen orientieren. Funktionswörter wie "but", "yes" oder "so" können ebenfalls wichtige Hinweise zum Sinnverständnis liefern.
Wie wird die räumlich-statische Struktur in Gedichten bestimmt?
Die räumlich-statische Struktur wird von verschiedenen Faktoren bestimmt, die den sinnvollen Zusammenhang des Textes garantieren. Dazu gehören die dem Text zugrundeliegende Situation, die Identität des Sprechers (poetic persona) und seines Adressaten, sowie Bedeutungsmuster, die durch die Wiederkehr sinnverwandter Wörter entstehen.
Was ist Strukturale Semantik und wie funktioniert sie?
Die Strukturale Semantik, entwickelt von A. Greimas, geht davon aus, dass jedes Lexem aus Sememen (minimale Bedeutungseinheiten) besteht. Im Textzusammenhang können bestimmte Seme als Klasseme dominant werden und sich zu einem größeren Bedeutungsmuster, der Isotopie, vereinen.
Was ist Isotopie und welche Elemente beinhaltet sie?
Isotopie, abgeleitet von griechisch "iso-topos" (gleicher Ort, gleiche Ebene), bezeichnet ein größeres Bedeutungsmuster, das aus Oppositionen (z.B. Kultur vs. Natur) und parallelen Bedeutungsmustern (z.B. Natur und Religion) besteht.
Wie funktioniert das strukturale Verfahren der Bedeutungsanalyse?
Das strukturale Verfahren der Bedeutungsanalyse umfasst drei Schritte: 1) Zerlegung der Wörter in Seme und Suche nach wiederkehrenden Elementen, 2) Verzeichnung aller ermittelten Bedeutungsmuster, und 3) Ordnung in Parallelität, Opposition und Suche nach Isotopie.
Was sind die grundlegenden Merkmale, die die poetische Funktion der Sprache von der Normalsprache unterscheiden?
Die poetische Funktion der Sprache zeichnet sich durch eine Dominanz des signifiant (sprachliche Form) gegenüber dem signifié (Bedeutung) aus. Dies führt zu einer "Entautomatisierung" der Wahrnehmung der Sprache und bewirkt deren "Verfremdung" und "Aktualisierung".
Was ist Foregrounding und wie wird es erreicht?
Foregrounding bezeichnet die Hervorhebung bestimmter Elemente in einem Text, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu lenken. Dies wird erreicht durch sprachliche Wiederholung, Parallelismus und Äquivalenz (Gleichwertigkeit von Sprachelementen).
Welche zwei grundlegenden Operationen liegen laut Jakobson jedem verbalen Verhalten zugrunde?
Laut Jakobson liegen jedem verbalen Verhalten zwei grundlegende Operationen zugrunde: Selektion (Auswahl aus einer Menge von Alternativen) und Kombination (Verknüpfung der ausgewählten Elemente).
Was sind die paradigmatische und die syntagmatische Achse bei der Entstehung von Texten?
Die paradigmatische Achse bezieht sich auf die Selektion von Wörtern aus Klassen von Wörtern, die im Bezug auf ein bestimmtes Merkmal äquivalent sind. Die syntagmatische Achse bezieht sich auf die Kombination der ausgewählten Wörter zu Sätzen und Texten.
Wie ordnet man poetische Strukturen mit Hilfe eines Grundmodells der Poetizität?
Das Grundmodell der Poetizität umfasst Überstrukturierung (foreground regularity) durch phonologische, rhythmische, semantische, syntaktische und verbale Wiederholungen, sowie Unterstrukturierung (foreground irregularity) durch lexikalische, grammatikalische, grafologische und semantische Abweichungen, Abweichungen vom normalen Sprachregister und der normalen Sprachperiode.
Welche Bedeutung hat das Fehlen eines "main verb" in John Wains "Poem Without a Main Verb"?
Das Fehlen des "main verb" verleiht dem Gedicht einen statischen Charakter, der Resignation und Hilflosigkeit ausdrückt.
Was sind die zentralen Themen in John Wains Gedicht?
Die zentralen Themen sind die Beschreibung der Gesamtsituation des modernen Menschen, der trotz seiner Cleverness nicht imstande ist die rechte Balance zu wahren und deshalb in Hilflosigkeit und Verzweiflung gerät.
- Quote paper
- Daniela Aulich (Author), 2001, Isotopienanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104522