Was geschieht, wenn politische Parteien ihre ideologischen Wurzeln kappen und sich dem Lockruf des maximalen Wählerpotenzials hingeben? Diese Frage steht im Zentrum einer einsichtsvollen Analyse der Transformation des westeuropäischen Parteiensystems, insbesondere unter den Bedingungen der USA im Jahr 1965. Entdecken Sie, wie sich die ehemals ideologisch geprägten Massenintegrationsparteien zu anpassungsfähigen Allerweltsparteien wandeln, die weniger auf tiefgreifende Überzeugungsarbeit als vielmehr auf breite Akzeptanz und rasche Wahlerfolge setzen. Die vorliegende Untersuchung beleuchtet diesen Wandel anhand der Ursachen für die Entwicklung zur Volkspartei und deren Selbstverständnis. Es wird die verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland und deren Aufgaben kritisch beleuchtet und analysiert, inwiefern Grundgesetz, Bundesverfassungsgericht und Parteiengesetz die Rolle der Parteien definieren. Tauchen Sie ein in die spannende Frage, welche Funktionen der Parteien in diesem Prozess vernachlässigt werden und welche in den Vordergrund rücken. Ein Vergleich mit Ergebnissen der Parteiensoziologie offenbart überraschende Wählerprofile und Unterschiede in den Mitgliedschaften der großen Parteien, die im Kontext der veränderten politischen Landschaft interpretiert werden. Lassen Sie sich provozieren von der kontroversen These, ob Volksparteien trotz ihrer Anpassungsfähigkeit eine Quelle für Stabilität und Effizienz der Demokratie darstellen oder ob sie durch den Verlust ihrer ideologischen Identität die politische Landschaft verwässern. Diese Analyse regt zur Auseinandersetzung mit der Rolle politischer Parteien in modernen Demokratien an und bietet wertvolle Einblicke in die Mechanismen der Wählergunst und die Herausforderungen der politischen Repräsentation, indem sie die Verlagerung von tiefgreifender Ideologie hin zu breiter Anziehungskraft untersucht und so die komplexen Zusammenhänge zwischen Parteien, Wählern und dem politischen System aufzeigt. Ein Muss für alle, die sich für Politikwissenschaft, Parteienforschung und die Zukunft der Demokratie interessieren und verstehen wollen, wie sich Parteien anpassen, um in einer sich ständig verändernden politischen Arena relevant zu bleiben.
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Hinweis: Ausgehend von den Bedingungen in den USA beschreibt der Politikwissenschaftler Prof. Otto Kirchheimer 1965 den Wandel der Parteien.
Die bürgerliche Partei alten Stils mit ihrer individuellen Repräsentation wird jetzt zur Ausnahme. Wenn auch einige dieser Parteien sich weiter am Leben halten, so bestimmen sie doch nicht mehr den Charakter des Parteiensystems. Zugleich formt sich die Massenintegrationspartei, die in einer Zeit schärferer Klassenunterschiede und deutlich erkennbarer Konfessionsstrukturen entstanden war, zu einer Allerweltspartei (catch-all party), zu einer echten Volkspartei, um. Sie gibt die Versuche auf, sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern, und lenkt ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft; sie opfert also eine tiefe ideologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einen rascheren Wahlerfolg. Die Perspektive einer mehr begrenzten politischen Aufgabe und des unmittelbaren Wahlerfolgs unterscheidet sich wesentlich von den früheren, umfassenden Zielen; heute werden die Ziele von früher als erfolgsmindernd angesehe n, weil sie Teile der potentiell die ganze Bevölkerung umfassenden Wahlklientel abschrecken. [...]
Wenn die Partei auch nicht hoffen kann, alle Wählerschichten zu erreichen, so darf sie doch vernünftigerweise erwarten, mehr Stimmen in all den Schichten zu gewinnen, deren Interessen nicht so stark miteinander kollidieren, daßjeder Versuch, sie gleichzeitig zu gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre oder die Gefahr der Selbstzerstörung einschlösse. Kleinere Differenzen zwischen Ansprüchen verschiedener Gruppen, z. B. zwischen Angestellten und Arbeitern, können überbrückt werden, wenn die Betonung besonders auf Programmpunkten liegt, die beiden Gruppen zugute kämen, etwa eine Absicherung ge gen die nachteiligen Auswirkungen der Automation.
Noch wichtiger ist die absolute Konzentration auf Fragen, mit denen solche Ziele berührt werden, die in der Gemeinschaft kaum Widerstand hervorrufen. Wenn eine Partei danach trachtet, einen Appell, der sich zuvor nur an eine besondere Bevölkerungsschicht richtete, auf eine größere Wählerschaft auszudehnen, dann bieten gesellschaftliche Ziele, die über Gruppeninteressen hinausgehen, die besten Erfolgsaussichten. Wenn eine Partei z. B. sehr intensiv bessere Bildungsmöglichkeiten propagiert, so wird sie wahrscheinlich schwache Proteste gegen die hohen Kosten oder die Gefahr einer Nivellierung der Bildung von seiten der Elite zu hören bekommen, die ehemals Bildungsprivilegien genossen haben. Die Popularität einer solchen Partei wird bei allen anderen Schichten nur davon beeinflußt, wie schnell und mit welcher Intensität sie im Vergleich zu ihrer Konkurrenzpartei diese wichtige Frage, die alle angeht, aufgegriffen hat und wie geschickt ihre Propaganda die Zukunftsaussichten der einzelnen Familie mit den ve rbesserten Bildungsmöglichkeiten zu verbinden gewußt hat. In dieser Hinsicht ist die potentielle Wählerschaft fast unbegrenzt. Das umfassende Ansprechen großer Schichten hat sich hier bereits zu einem fast unbegrenzten Appell an die Gesamtbevölkerung ausgeweitet.
(Otto Kirchheimer: Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems. In: Politische Vierteljahresschrift. Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1965, S. 20-41, S. 27 f.)
Aufgabe
1. Textanalyse
Untersuche den Text im Hinblick auf a) die Ursachen der Entwicklung zur Volkspartei und b) ihr Selbstverständnis.
2. Erläuterung der verfassungsrechtlichen Verankerung der Parteien; Einordnung des Textes
2.1 Erläutere, wie Grundgesetz, Bundesverfassungsgericht und Parteiengesetz die Stellung und die Aufgaben der Parteien in der Bundesrepublik bestimmen. (Wo liegen Grenzen?)
Anzustreben ist nicht unbedingt Vollständigkeit, sondern Konzentration auf das Wesentliche sowie Klarheit u. Logik der Gedankenführung, argumentative Absicherung u. angemessener Gebrauch der fachsprachlichen Termini.
2.2 Auf welche Funktionen der Parteien geht Kirchheimer vorwiegend ein, auf welche nicht?
3. Vergleich mit Ergebnissen der Parteiensoziologie
Untersuc he die folgenden Tabellen: Welche Wählerprofile bzw. Unterschiede der Mitgliedschaften zeigen sich für die beiden großen Parteien? Vergleiche Deine Antworten mit der Aussage des Textes.
Tabelle 1: Parteianteile bei den Berufsgruppen (Bundestagswahl 1994)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Lesebeispiel: Von allen am Tag der Bundestagswahl 1994 befragten Beamten gaben 32,9 Prozent an, SPD gewählt zu haben. (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Mannheim, Befragung am Tag der Bundestagswahl 1994 [n=17708])
Tabelle 2: Die Berufsstruktur der Parteimitglieder (1990)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: W. Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996)
3. Beurteilung
Gegenüber einer kritischen Sicht der Volksparteien wurde von anderen Wissenschaftlern betont, sie seien heute eine Ursache für Stabilität und Effizienz der Demokratie. Erörtere!
(Auch die folgende Karikatur soll Dich zur Auseinandersetzung mit Kirchheimers Thesen anregen.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ivan Steiger (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9.9.1980)
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Inhalt des Textes über den Wandel des westeuropäischen Parteiensystems von Otto Kirchheimer?
Der Text von Otto Kirchheimer beschreibt den Wandel bürgerlicher Parteien hin zu Massenintegrationsparteien und schließlich zu Allerweltsparteien (catch-all parties) oder Volksparteien. Er argumentiert, dass diese Parteien ihre ideologische Tiefe zugunsten einer breiteren Wählerschaft und schnelleren Wahlerfolge aufgeben. Sie konzentrieren sich auf Themen, die möglichst viele Wähler ansprechen, und vermeiden kontroverse Positionen, um keine potenziellen Wählergruppen abzuschrecken. Der Text beleuchtet die Ursachen für diese Entwicklung und das veränderte Selbstverständnis der Parteien.
Welche Aufgaben werden in der Textanalyse gestellt?
Die Textanalyse umfasst folgende Schwerpunkte: a) Untersuchung der Ursachen für die Entwicklung zur Volkspartei und b) Analyse des Selbstverständnisses dieser Parteien laut Kirchheimer.
Wie soll die verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien erläutert und der Text eingeordnet werden?
Es soll erläutert werden, wie Grundgesetz, Bundesverfassungsgericht und Parteiengesetz die Stellung und Aufgaben der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland bestimmen. Dabei sollen auch die Grenzen dieser Bestimmungen aufgezeigt werden. Es soll außerdem geklärt werden, auf welche Funktionen der Parteien Kirchheimer vorwiegend eingeht und auf welche nicht.
Was beinhaltet der Vergleich mit Ergebnissen der Parteiensoziologie?
Der Vergleich beinhaltet die Untersuchung von zwei Tabellen: Tabelle 1 zeigt die Parteianteile bei den Berufsgruppen bei der Bundestagswahl 1994, und Tabelle 2 zeigt die Berufsstruktur der Parteimitglieder im Jahr 1990. Diese Daten sollen analysiert werden, um Wählerprofile und Unterschiede in den Mitgliedschaften der großen Parteien zu identifizieren und mit den Aussagen von Kirchheimer zu vergleichen.
Welche Beurteilungsaufgabe wird gestellt?
Die Aufgabe besteht darin, die kritische Sicht auf Volksparteien, wie sie Kirchheimer vertritt, mit der Gegenposition zu erörtern, dass Volksparteien heute eine Ursache für Stabilität und Effizienz der Demokratie sind. Die beigefügte Karikatur soll ebenfalls zur Auseinandersetzung mit Kirchheimers Thesen anregen.
Welche Tabellen werden zur Analyse zur Verfügung gestellt?
Es werden zwei Tabellen zur Verfügung gestellt: Tabelle 1 zeigt die Parteianteile bei den Berufsgruppen bei der Bundestagswahl 1994, und Tabelle 2 zeigt die Berufsstruktur der Parteimitglieder im Jahr 1990.
Was zeigt die Karikatur?
Die Karikatur von Ivan Steiger (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9.9.1980) soll zur Auseinandersetzung mit Kirchheimers Thesen über den Wandel des westeuropäischen Parteiensystems anregen.
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- Thomas von Machui (Author), 1999, Klausur über die Aufgaben von Parteien in verschiedenen politischen Systemen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104133