Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Sehnsucht im Osten nach alten Zeiten?
2.1 Gründe für das Phänomen der Ostnostalgie
3. Sozialisationshypothese oder Situationshypothese - welcher Erklärungsansatz scheint plausibler?
3.1 Ostnostalgie- eine westdeutsche Angst vor Veränderung und Kritik?
4. Wie unterscheiden sich Ost und West in ihrer Beziehung zur Leistung?
4.1 Erwartungen an den Sozialstaat Deutschland
4.2 Freiheit oder Gleichheit? Unterschiedliche Gewichtung von Ost und West
4.3 Unterschiedliche Wahrnehmung der Chancengleichheit in Ost und West
4.4 Vergleich mit dem Nachbarn - Forderung nach gerechter Verteilung
5. Resümee
6.Literaturangabe
1. Einleitung
Das Ende des zweiten Weltkriegs läutete, mit der Aufteilung des besiegten Kriegsverursachers Deutschland in vier Besatzungszonen, den kalten Krieg ein. Vier Jahrzehnte später wurde mit der Wiedervereinigung Deutschlands das globale Ende des Staatssozialismus besiegelt.
Politische Prozesse aber, welche sich zwischen diesen unbestreitbar wichtigen Ereignissen der Weltgeschichte entwickelt haben, lassen sich keineswegs in solch einer knappen Form beschreiben.
So soll in dieser Arbeit nicht der Versuch unternommen werden, die Unterschiede zwischen der kommunistischen Weltanschauung und den pluralistischen Ideologien oder deren Auswirkungen auf Staaten oder einzelnen Bürgern, zu klären.
Es wird weiterhin auc h nicht versucht, tiefenpsychologisch die Auswirkungen einer Vereinigung von Menschen, welche durch Staaten mit völlig verschiedenartigen, konträren und konkurrierenden Gesellschaftsordnungen geprägt wurden, zu ergründen. Vielmehr gilt es, das Hauptaugenme rk auf die Bürger des wiedervereinten Deutschlands zu legen und in dieser Hinsicht die Frage zu klären, ob Menschen, welche über vierzig Jahre hinweg unterschiedlich geprägt wurden, nun zehn Jahre nach der deutsch - deutschen Wiedervereinigung, zu einem Vo lk zusammengewachsen sind.
Es soll zumindest die Frage aufgeworfen werden, wie stark und langfristig der institutionelle Rahmen Einstellungen von Bürgern prägt, die zwar mit gleichen traditionellen Wurzeln und unbestritten mit ein und der selben Sprache miteinander verbunden, dennoch aber, bedingt durch die Teilung des Landes durch völlig verschiedenartige Ideologien voneinander getrennt waren.
Die grundlegende Frage in dieser Arbeit ist also, ob es Differenzen zwischen der westdeutschen und der ostdeutschen Bevölkerung gibt und, in beschränktem Maße wird zu klären sein, auf welchen Feldern menschlichen Denkens, Empfindens oder auch Handelns sich diese Differenzen zeigen, wie sie sich auswirken und welche Bedeutung sie innerhalb des Prozesses der Wiedervereinigung Deutschlands haben.
Es sind zu dieser Thematik sowohl in der Politikwissenschaft, wie auch in der Soziologie zahlreiche Beiträge zu finden, deren Überlegungen sich zumeist darin unterscheiden, dass unterschiedliche Gewichtungen auf die Identitätsfähigkeit der Deutschen mit ihrem Staat gelegt werden und dementsprechend eine positive oder auch negative Zwischenbilanz der deutsch- deutschen Wiedervereinigung gezogen werden.
Die innere Zustimmung zu den Grundpfeilern der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft wird ebenso in den meisten Veröffentlichungen zu Indikatoren einer vollzogenen oder bis dato gescheiterten, bzw. noch nicht vollendeten inneren Vereinigung gemacht, wie auch die Mentalitätsunterschiede der beiden Bevölkerungsgruppen und ihrer Sympathien bzw. Antipathien füreinander.
Und auch diese Ausführung bedient sich demoskopischer Auswertungen, welche sich auf die Wertemuster und Einstellungen der gesamtdeutschen Bevölkerung, ihres politischen und wirtschaftlichen Systems betreffend und der inneren Haltung der beiden Bevölkerungsgruppen zueinander, beziehen.
Es wird die Frage zu klären sein, wie viel Unterschied in den genannten Feldern einen echten Unterschied ausmacht und ob diese Unterschiede gar eine Bedrohung für den Status quo, also für die Stabilität der Demokratie, ihren Institutionen und den in ihnen wiedervereinten Menschen darstellen.
Leitender Faden in dieser Arbeit wird die Frage nach der inneren Mauer in den Köpfen der Menschen sein.
2. Sehnsucht im Osten nach alten Zeiten?
Menschen haben die Angewohnheit seit Ursprung her, das Vergangene als besser zu erachten. Dies lässt sich wohl damit erklären, dass man die Probleme der Vergangenheit schon bewältigt hat und die aktuellen oder zukünftigen Probleme als „groß“ empfindet, da sie noch nicht bewältigt sind.
Ein Jahrzehnt nach der deutsch- deutschen Vereinigung beschäftigt Politiker und vor allem Soziologen und Politikwissenschaftler dieses Phänomen der Wahrnehmungsverzerrung.
Parolen wie: „Wir sind das Volk, Egon wir kommen, schließt euch an“ und Massenaufläufe, wie die Montagsdemonstration in Leipzig mit rund 700 000 Menschen, führten ganz aktiv die Wiedervereinigung herbei.
Die Bürger der ehemaligen DDR kämpften für ihre Freiheit, Rechtstaatlichkeit und so darf man wohl annehmen, mehrheitlich für Demokratie und die westlichen Luxusgüter im Auge, auch für die freie Marktwirtschaft.
Im Hier und Jetzt aber lässt sich feststellen, dass viele Ostdeutsche eine für den Westdeutschen völlig unverständliche Ostnostalgie überkommt. Mit dem 09 November 1989, so ist der Westdeutsche geneigt zu sagen, bekam das Ostdeutsche Volk, wonach es strebte und lautstark protestierte.
Garantierte Grundrechte, damit verbundene Pflichten, materiellen Wohlstand auf einem bisher unbekanntem Niveau und vor allem die persönliche Freiheit aus dem eigenen Leben das zu machen, wonach jedem der Sinn steht.
Woher also resultiert diese Ostnostalgie? Wie kommt es, dass die Menschen im Osten ihren selbst abgesetzten Staat die DDR mit seinem maroden Wirtschaftssystem und seinem repressivem Stasi-Apparat und der totalitären Diktatur als das menschlichere Staatssystem empfinden als das der BRD?
2.1 Gründe für das Phänomen der Ostnostalgie
Ist die Ostnostalgie „eine tief verwurzelte Sehnsucht nach dem Totalitären“?1 Fasst man diese Frage, so wie Matussek (1999) als Behauptung auf, so stellt sich die Frage, wie sich eine solche, latente Neigung der Ostdeutschen entwickeln konnte. Recht eindeutig kann man an dieser Stelle wohl ausschließen, dass solche Eigenschaften genetischer Natur seien könnten. Die Antwort auf diese Frage muss also auf dem Gebiet der Soziologie zu finden sein. Wurden die ostdeutschen Bürger über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren zu einem obrigkeitsdenkenden und unselbstständigen Kollektiv geprägt, ähnlich einer Ente, welche das erste Lebewesen, das es nach dem Schlüpfen erblickt, als Muttertier akzeptiert?
Detlef Pollack hält solcherlei Aussagen für nicht stimmig und im Hinblick auf das zu erreichende Ziel, nämlich die innere Einheit zwischen Ost und West zu vollziehen, für kontraproduktiv.
Pollack ist der Auffassung, dass die Unzufriedenheit der Ostdeutschen nicht mit einer übertriebenen Anhänglichkeit an ihren alten sozialistischen Staat zu tun hat, sondern dass die Kritik auf ihre Erfahrungen mit dem wiedervereinten Deutschland zurückzuführen ist. Pollack geht also mit einem völlig andersartigen Verständnis an diese Thematik heran. Er sieht den Ost-Bürger nicht als ein Produkt einer DDR Sozialisation an, welches einmal geprägt, sein ganzes Leben lang nach Werten wie Gleichheit und Gemeinschaft jammert, sondern für ihn resultiert der zu beobachtende Konflikt aus der aktuellen Situation, in der sich die Menschen der ehemaligen DDR befinden.
Diese unterschiedlichen Herangehensweisen oder Auffassungen lassen sich in der Sozialwissenschaft auch terminologisch differenzieren.
Man spricht in diesem Zusammenhang von der Sozialisationshypothese und von der Situationshypothese.
3. Sozialisationshypothese oder Situationshypothese - welcher Erklärungsansatz scheint plausibler?
Sozialisationshypothese:
Menschen werden unter unterschiedlichen Bedingungen durch unterschiedliche Wertorientierungen unterschiedlich geprägt.
Der Westdeutsche erlernte nach dem Krieg die Demokratie mit ihren bekannten
Wertemustern und wurde durch die freie Marktwirtschaft geprägt und zum selbstständig denkenden, leistungsbezogenem Individuum.
Die Ostdeutschen hingegen wurden durch den väterlichen Sozialstaat zum konsensorientierten, harmoniesüchtigen und unselbstständigen Kollektiv.
Situationshypothese :
Soziale Differenzen haben ihren Ursprung in der aktuellen Situation.
Differenzen zwischen Ost und West sind auf zahlreiche Kausalitäten zurückzuführen, die jedoch in der augenblicklichen Situation zu suchen sind.
Hierunter sind sowohl unterschiedliche ökonomische, soziale wie auch gesellschaftlichstrukturelle Determinanten zu verstehen.
Pollack differenziert die Situationshypothese, indem er die negativen Erfahrungen der
Ostdeutschen mit Ins titutionen und gesellschaftlichen Problemen wie der Arbeitslosigkeit, Kriminalität und dem Mangel an sozialer Sicherheit von den direkten Erfahrungen der Ostdeutschen mit ihren westlichen Nachbarn unterscheidet . Hierunter sind Erfahrungen der Abwertung, Ab lehnung oder Unterlegenheitsempfinden zu verstehen. Das erstere Interpretationsangebot nennt er die Erfahrungshypothese und stellt ergänzend die Kompensationshypothese hinzu.
Es gilt festzuhalten, dass Pollack davon ausgeht, „dass die Wertdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschen weniger gravierend sind als allgemein angenommen und dass dort, wo es Ost/West Differenzen in den Einstellungen und Werthaltungen gibt, diese weniger auf sozialisatorische Einflüsse in der DDR als auf bestehende Unterschiede in der gegenwärtigen sozialen Lage und auf gegenwärtig gemachte Erfahrungen im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses zurückzuführen sind.“2
Fritze (1995) ist der Ansicht, „dass der diktatorische Charakter des politischen Systems allein für die meisten kein hinreichender Grund gewesen wäre, diesen Staat abzulehnen.“3 Den ausschlaggebenden Faktor für die friedliche Revolution sieht Fritze in der herrschenden Misswirtschaft begründet.
Diese Reduktion des inneren Antriebs zur Wiedervereinigung auf rein materielle Gesichtspunkte ließe einem westdeutschen Beobachter dieses Phänomens eigentlich genügend Raum, um die schwärmerische und romantisierte Sehnsucht nach der DDR- Zeit, eben auf die latente Neigung der Ostdeutschen zu totalitären Systemen oder Strukturen zurückzuführen.
Fritze bestreitet allerdings die Existenz einer DDR- Nostalgie, welche politisch beachtenswert wäre, da er davon ausgeht, dass es keine relevante Anzahl von Bürgern der ehemaligen DDR gibt, die sich die vergangene Zeit tatsächlich zurückwünschen.
Er konstatiert den Ostdeutschen lediglich eine Sehnsucht nach einzelnen Elementen der früheren leninistisch- marxistischen Zeit.
Aus diesem Grund schlägt er die Verwendung des Begriffes Partial-Nostalgie vor.
Die Konfrontation mit den neuen Lebensumständen in dem vereinigten Deutschland führt seiner Ansicht nach zu einer Art Trotz-Nostalgie, in der wider besseren Wissens behauptet wird, dass es dieses oder jenes „ nicht einmal bei den Kommunisten gegeben(...)“3 hätte.
Fritze und Pollack eint also die Ansicht, dass die Unzufriedenheit der Ostdeutschen auf deren Erfahrungen mit der Wirklichkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems und den negativen Begleiterscheinungen eines durch Freiheit gekennzeichneten demokratischen Staates (z.B.: hohe Kriminalitätsrate), zurückzuführen ist.
3.1 Ostnostalgie- eine westdeutsche Angst vor Veränderung und Kritik?
Fritze kritisiert im Zusammenhang mit der angeblichen DDR-Nostalgie die Haltung des Westens, „ dass die DDR bei ihrem Beitritt zur Bundesrepublik so gut wie nichts vorzuweisen hatte, dessen Übernahme sich empfohlen hätte(...)“.3
Diese Haltung und die Unfähigkeit zur Kritik am eigenen Staats- und Wirtschaftssystem führt seiner Ansicht nach zur Fehlinterpretation des Westens, die Kritik der ostdeutschen Bevölkerung als reine DDR-Nostalgie abzutun.
„Die Angst vor DDR-Nostalgie, die eher ein westdeutsches Phänomen ist, scheint vor allem der Angst zu entstammen, es könnten von sozialistischem Gedankengut kontaminierte Ideen allzu großen politischen Einfluß gewinnen.“3
Dem entgegnen könnte man allerdings, dass den Westdeutschen nach mehr als einem
Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung keine Angst überkommt, sondern dieser lediglich Ungeduld und Undankbarkeit der Ostbevölkerung empfindet.
Die Transferleistungen bezifferten sich gegen „Ende 1999 auf 1,2 Billionen Mark“4, umgerechnet auf die westliche Bevölkerung wäre dies eine „Pro-Kopf-Zahlung von 20 000 Mark.“4 Hinzu kommt, dass durch die hohen Transferleistungen Kredite notwendig geworden sind, die spätere Generationen abbezahlen müssen. Schon heute beträgt die „Pro-Kopf- Verschuldung 20 000 Mark.“4 Diese immensen Subventionszahlungen schüren einen Erwartungsdruck, dem die Ostdeutschen standhalten müssen.
Fraglich aber ist, ob unter einem solchen Erwartungsdruck freiwillig gute und kreative Höchstleistungen beim Aufbau Ost erbracht werden können.
Neben diesem Erwartungsdruck tritt noch ein weiterer Faktor, der das zwischenmenschliche Verhältnis der beiden Teile Deutschlands in der Weise belastet, dass Diskrepanzen und Unverständnis beinah als selbstverständlich erscheinen.
„Wer als DDR-Bürger über eine der Transitautobahnen knatterte - das waren Strecken, die auch Westeuropäer zur Durchreise benutzen durften -, den überholten immerzu größere, schnellere und schönere Westautos. Trotz der Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf das Trabimaß - 100 Kilometer in der Stunde- hatten solche Begegnungen etwas Demütigendes“.5
Dieses Minderwertigkeitsgefühl wurde über 40 Jahre verstärkt und durch die westlichen Medie n, welche bis auf kleine Gebiete in der ehemaligen DDR empfangen werden konnten, auch in gewisser Weise geschürt.
Dieses Gefühl der geringeren Wertigkeit ist nun nach dem Fall der Mauer nicht einfach aufgehoben. So sind auf der Suche nach Kausalitäten für eine eventuell vorhandene Ostnostalgie vielleicht auch diese beiden Faktoren, der Erwartungsdruck des Westens und das Minderwertigkeitsgefühl des Ostens, zu berücksichtigen.
Eine genauere Aussage über Ursache und Wirkung wird diese Arbeit jedoch schuldig bleiben. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit gilt es sich die einzelnen Felder, auf denen sich die demoskopisch nachweisbaren unterschiedlichen Wertorientierungen erstrecken, etwas näher zu beleuchten. Außerdem ist zu klären, ob diese unterschiedlichen Werthaltungen als Kriterien für die Beurteilung der Frage nach einer gelungenen Wiedervereinigung beider deutschen Teile, zulässig sind.
4. Wie unterscheiden sich Ost und West in ihrer Beziehung zu Leistung
und der Belohnung der Selbigen und dem damit verbundenen Lebensstandard?
Die nachfolgende Tabelle ist das Ergebnis einer Umfrage, die im Auftrag des Bundesministeriums vom IPOS Institut durchgeführt wurde.
Anlass zu dieser Studie waren die Untersuchungen über Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik.
Die Umfrage zielte auf die Akzeptanz der Deutschen bezüglich der leistungsabhängigen
Ungleichheit ab. Die Befragten sollten zwischen einem Leistungsbezogenen Lebensstandard und einem staatlich gesicherten Mindestlebensstandard abwägen.
Auf einer Skala von 1-7 sollten Punkte vergeben werden, wobei 1-3 für leistungsbezogenen Lebensstandard spricht und 5-7 die Zustimmung zu einem staatlich gesicherten Mindestlebensstandard bedeutet.
Hierbei ist auffällig, dass die erstere Alternative einem kapitalistischen Wirtschaftssystem entspricht und die zweite wohl eher kennzeichnend für den Sozialstaat ist.
Entwicklung der Akzeptanz von Leistungsabhängiger Ungleichheit in West- und Ostdeutschland.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Vor die Alternative gestellt, ob z.B. der Lebensstandard leistungsabhängig sein soll oder ein Mindestlebensstandard gesichert werden soll, konnten die Befragten auf einer Skala von 1-7 angeben, ob sie mehr dem ersten Wert (1-3) oder mehr dem zweiten Wert (4-7) zustimmen. Quelle: Studie „Einstellung zu aktuellen Fragen der Innenpolitik“, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums vom IPOS- Institut in Mannheim.
Diese Tabelle gibt zum einen darüber Auskunft, dass die Unterschiede zwischen Ost und West, zumindest was diese Frage anbelangt, nicht sehr signifikant sind und zum anderen, dass die Sozialisationshypothese hier wiederlegt wird. Obwohl die Bürger der ehemaligen DDR über 40 Jahre hinweg zu einem sozialistischen Verteilungsmodell erzogen wurden, sprach sich 1990 der Osten für einen leistungsabhängigen Lebensstandard aus und zwar in einem noch höheren Maße als die Westbevölkerung.
Im Verlauf von 5 Jahren ist zwar eine Tendenz, zur egalitären Einkommensverteilung sowie zu einem staatlich gesicherten Mindestlebensstandard, zu erkennen, allerdings ist diese Tendenz auch im Westen zu beobachten, welches wiederum für die Situationshypothese sprechen würde.
4.1 Erwartungen an den Sozialstaat Deutschland
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Anschauungen und Erwartungen der Ost- und Westdeutschen sich nicht so stark voneinander unterscheiden, erhält man durch die Auswertung des folgenden Diagramms, welches Auskunft darüber gibt, was die Bevölkerung von ihrem Staat an sozialen Leistungen erwartet.
Die Befragten sollten ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung gegenüber der Forderung, dass sich das Einkommen nicht nur allein nach der Leistung richten sollte, sondern dass jeder das haben sollte, was er zum anständigen Leben bräuchte, geben. Eine eher sozialistische Idee, welche von Ost und West beinahe gleich bewertet wurde.
Vertreter der Sozialisationshypothese sehen sich zumindest durch diese Graphik eines Besseren belehrt. Obwohl der Westen Deutschlands eine über vierzig jährige Erfahrung der Marktwirtschaft aufzuweisen hat, sprechen sich 1991 47% der befragten Westdeutschen für ein Konzept aus, das mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht vereinbar ist.
Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung jedes Einzelnen richten.Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht (in %).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Allbus (1991,1994)6
Nach diesen beiden ersten Ergebnissen unterschiedlicher Umfrageinstitute und unterschiedlichen inhaltlichen Themen der Umfrageforschung ist man genauso wie Pollack (1999), Walz und Brunner(1997) oder auch Veen(1997) geneigt, die Differenzen zwischen den Werthaltungen und Bedürfnissen der Menschen in Ost und West als gering zu bezeichnen.
Problemlos aber lassen sich Umfrageergebnisse präsentieren, welche einen anderen Tenor vermitteln.
4.2 Freiheit oder Gleichheit? Unterschiedliche Gewichtung von Ost und West
Die folgende Tabelle lässt sich anführen, um das vereinte Deutschland als ein im Grunde doch noch geteiltes zu beschreiben.
Geteilt deswegen, weil sich die beiden Hälften in einem sehr wichtigen Faktor unterscheiden. Es wäre wohl etwas vermessen, diesen Faktor als einen staatsdefinierenden zu bezeichnen.
Jedoch ist eine stark unterschiedliche Gewichtung der Prinzipien Freiheit und Gleichheit innerhalb eines Staates sehr wohl ein Zeichen einer Diskrepanz innerhalb der Werthaltungen. In einem solchen Kontext, in dem sich Bürger gegenüberstehen, welche die Sozialisation eines demokratischen bzw. sozialistischen Staates durchlaufen haben, verbindet man mit „Gleichheit“ im Allgemeinen den Sozialismus.
Die Freiheit ist im selben Zusammenhang wohl konstitutiv für die Demokratie anzusehen.
Die Befragten sollten sich in dieser Umfrage dazu äußern, ob eher Freiheit oder doch Gleichheit Aller wichtiger wäre.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle : Noelle- Neumann / Köcher (1993)7
Klar zu erkennen ist hier, dass die Westdeutschen sich 1989 klar mit einer Mehrheit von 63% für die Freiheit entscheiden und die Gleichheit nur von 22 % gefordert wird. Die Ostdeutschen hingegen messen der Freiheit, für die sie im selben Jahr auf die Straßen gegangen sind nur mit einer knappen Mehrheit gegenüber der Gleichheit Bedeutung zu. (46%gegenüber 43%)
Scheinbar greift hier die Sozialisationshypothese:
Über vier Jahrzehnte geprägt, wissen die Ostdeutschen nicht, welchen Schwerpunkt die Freiheit in einem demokratischen Staat innehat.
Gegen die Sozialisationshypothese allerdings spricht der Umstand, dass die Veränderung der Gewichtung innerhalb der zwei Jahre nicht zur Freiheit tendiert, so wie es die Sozialisationshypothese erwarten würde, sondern sich die Ostdeutschen zwei Jahre danach noch stärker für die Gleichheit aussprechen.
Dieselbe Tendenz ist auch im Westen erkennbar, wenn auch hier die Veränderung nicht ganz so gravierend ist wie im Osten.
Pollack liefert an dieser Stelle einen Erklärungsansatz, der davon ausgeht, dass der Wert
Gleichheit mit der zunehmenden Erfahrung der sozialen Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschland an Bedeutung gewinnt. Pollack hält also, mit dem Deutungsmuster dass sich Werthaltungen erst durch die konkrete Erfahrung von Situationen verschieben, an der Situationshypothese fest.
4.3 Unterschiedliche Wahrnehmung der Chancengleichheit in Ost und West
Zwischen 1991 und 1994 wurde die gesamtdeutsche Bevölkerung in Umfragen hinsichtlich ihrer Einschätzung der Chancengleichheit in unserer Gesellschaft befragt.
Die Ergebnisse dieser Umfrageerhebungen zeigen signifikante Unterschiede zwischen Ost und West in folgenden Kategorien.
1992 stimmen 35% im Westen, aber nur 26% im Osten der Aussage zu: „Jeder hat die
Möglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung, wenn er nur will.“6
Die Aussage, dass „heute bei uns jeder die Möglichkeit hat, sich ganz nach seiner Begabung und seinen Fähigkeiten auszubilden“6, wurde von 64% der Westbevölkerung, jedoch nur von 34% des Ostens bestätigt.
Ebenfalls eine starke Differenz in der Wahrnehmung der Deutschen zeigte sich in der
Zustimmung zu der Aussage, dass die wirtschaftlichen Gewinne heute in Deutschland im großen und ganzen gerecht verteilt werden.“.6
22% des Westens und 47% des Ostens lehnt diese Meinung ab.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen die Gleichheit betreffend, führen sich sogar auf der rechtsstaatlichen Ebene fort. Das durch das Grundgesetz ( Artikel 3, Satz 3) formal zugesicherte Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, wird von 81% der Ostdeutschen bezweifelt.
Allerdings wird diese Skepsis auch von 72 % der Westdeutschen geteilt.7 (Institut für Demoskopie 1995)
Heiner Meulemann interpretiert diese Ergebnisse als allgemeinen Pessimismus im Osten, die Chancengleichheit realisieren zu können.
Differenzen zwischen den Landesteilen sieht er nicht etwa schmelzend, sondern konstant oder gar sich verstärkend.
„Die stärkere Unterstützung der Ostdeutschen für die Ergebnisgleichheit ist... eine Prägung aus der DDR, die in der neuen Bundesrepublik überlebt hat. Die DDR war ein autoritärer Wohlfahrtsstaat, der die Mitwirkungschancen der Bürger beschnitten, aber die Führsorge für sie ausgeweitet hat.“8
Die Umfrageuntersuchungen hatten ebenfalls das Verantwortlichkeitsverständnis der Menschen zum Thema.
So wurden sie danach befragt, ob es Aufgabe des Staates sei, „einen Arbeitsplatz für jeden bereitzustellen, der arbeiten will“8.
1990 bejahten 21 Prozentpunkte mehr Ostdeutsche diese Ansicht als Westdeutsche und 1991 betrug die Differenz sogar 34 Prozentpunkte.
Als weiteres Indiz für die Konstanz der innerdeutschen Differenzen führt Meulemann das Ergebnis einer Umfrage an, wonach sich im Osten 30 Prozentpunkte mehr dafür aussprachen, dass „der Staat für ein gutes Auskommen auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter sorgen muß“8, als im Westen.
Diese Frage betreffend, sei eine Konstanz zu beobachten.
Die Herstellung „gleicher Lebensverhältnisse“ ist nach einer weiteren Umfrage für 83% der Ostdeutschen, aber nur 35% der Westdeutschen ein sehr wichtiges Ziel der Politik.
Diese und weitere Ergebnisse demoskopischer Untersuchungen leiten Meulemann dazu, sich nicht nur darauf zu beschränken, die Umfrageergebnisse in der Weise zu deuten, dass er den Ostdeutschen ein schlechtes Zeugnis über ihre Fähigkeiten Eigeninitiativen zu entwickeln ausstellt, sondern auch ein Erklärungsversuch zu geben, der auf der Sozialisationshypothese basiert. Seiner Ansicht nach verankerten 40 Jahre der Prägung durch die DDR Sozialisation im Ostdeutschen „(...) eine Haltung des Etatismus (...)“8 und eine Forderung nach materialen Gleichheitsrechten.
4.4 Vergleich mit dem Nachbarn- Forderung nach gerechter Verteilung
Diese Studie, die in einem Zeitraum von acht Jahren durchgeführt wurde, hatte die subjektive Wahrnehmung der Deutschen betreffend der Verteilung des Reichtums in der Bevölkerung zum Untersuchungsthema.
Diese Studie gibt also nicht, wie die vorrausgegangenen Tabellen und Diagramme, Auskunft über etwas doch recht Abstraktes, wie beispielsweise über persönliche Einstellungen zu den Grundpfeilern eines demokratischen Staates oder über die grundsätzliche Vorstellung der Menschen, wie Leistung belohnt werden sollte, sondern hier sollten die Bürger ihre persönliche Situation betrachtend darüber urteilen, ob sie gemessen an anderen ihren gerechten Anteil am Leben erhalten.
Im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten?
„Weniger als den gerechten Anteil in %“
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Datenbasis: Allbus (1991,1992,1996); Wildenmann Studie für Daten (1990)
Die klare Unzufriedenheit der Ostdeutschen ist über acht Jahre hinweg, wenn auch fallend, dennoch zu jeder Zeit ausgeprägter, als die der Westbevölkerung.
Pollack sieht diese Differenz darin begründet, dass sich die Ostdeutschen offenbar als kollektiv benachteiligt wahrnehmen.
Zur Beurteilung der eigenen Situation wird nicht mehr der Maßstab der DDR verwandt, sondern die eigene Situation wird an den Menschen der alten Bundesländer gemessen. Diese Ergebnisse, mit der angeblich starken Gleichheitsorientierung der Ostdeutschen, erklären zu wollen, erscheint wenig plausibel, da nach dieser Theorie die Forderung nach gerechterer Verteilung der Anteile, 1990 am stärksten hätte seien müssen. Schließlich geht die Sozialisationshypothese davon aus, dass das Erlernte erst nach einer Weile der Umgewöhnung verändert wird.
Pollack geht davon aus, dass „ mit der zunehmenden Angleichung der Lebensverhältnisse an das westdeutsche Niveau (...) auch das Gefühl der Verteilungsgerechtigkeit zurückgehen“2 wird.
5. Resümee
Man ist angesichts der Komplexität dieses Themas und der zum Teil schwer zu bestimmenden psychologischen Faktoren innerhalb dieser Positionsbestimmung der inneren Einheit Deutschlands geneigt, es mit Theodor Fontanes Worten in Effi Briest, „dies ist ein weites Feld“, abzuhandeln.
Eine andere Möglichkeit eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es Differenzen im wiedervereinten Deutschland gibt, bestünde in der lapidaren Haltung, dies zwar zu bejahen, gleichzeitig aber zu fragen: so what?
Es gibt sie wohl die Differenzen zwischen den neuen und alten Bundesländern, zwischen Ost und West. Dies zu bestreiten wäre wohl angesichts der beinahe täglich erscheinenden Umfrageergebnisse, die diese Differenzen bestätigen, sinnlos.
Weniger sinnlos erscheint aber die Frage, wieso gerade diese beiden Teile Deutschlands immer noch ein so großes Interesse erfahren.
Provokanterweise könnte man fragen, ob diese Differenzen nicht genauso durch die Medien gepuscht werden, wie die Euphorien für die Wiedervereinigung, die einst durch dieselben Zeitungen und Fernsehsender verstärkt wurden.
Hans Joachim Veen macht darauf aufmerksam, dass sich bisher scheinbar noch Niemand für die Mentalitätsunterschiede zwischen süddeutschen Katholiken und norddeutschen Protestanten oder Rheinländern und Preußen interessiert hat, geschweige denn diese Differenzen zu einem Problem einer inneren Einheit deklariert hat.
Außerdem kritisiert Hans Joachim Veen in diesem Zusammenhang, dass „der Begriff innere Einheit zu einer wohlfeilen, wohlklingenden und zu tiefst verquollenen und missdeutbaren Metapher geworden und daneben natürlich lä ngst zu einem politischen Instrument in der Ost - West Auseinandersetzung über knappe Mittel geworden ist.“ 11
Veen stellt provokant die Frage, ob es denn verwunderlich sei, dass Ostdeutsche eine schwerere Gewichtung bei der Gleichheit vornehmen als bei der Freiheit, wenn diese die realen Einkommensunterschiede Tag für Tag noch vor Augen haben.
Angesichts der politischen Brisanz einer Wiedervereinigung zweier Staaten und der immensen Auswirkungen auf die Weltpolitik, durch den dadurch eingeleiteten
Zusammenbruch des Sozialismus, ist die Aufmerksamkeit, welche die Beziehungen des Westund Ostteils Deutschlands erfahren, sehr wohl verständlich.
Jedoch muss dann auch gestattet sein, ein komplettes Zusammenwachsen beider Teile und eine Angleichung in Werthaltung und Normverständnis zu bezweifeln, wenn andauernd die Frage nach solcherlei Dingen gestellt wird.
Hans Joachim Veen beschränkt die Beurteilung über das Gelingen einer inneren Einheit auf ein paar wesentliche Faktoren:
- Die Zustimmung aller zur gemeinsamen Grundlage der staatlichen Ordnung muss gegeben sein
- Zustimmung zum Grundgesetz
- Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem
- Akzeptanz der Einbindung der BRD in die Europäische Union
- und in das transatlantische Verteidigungsbündnis
- und als letztes muss aus beiden Teilen Deutschlands immer noch ein bekennendes
„Ja“ zur Einheit eines über 40 Jahre getrennten Landes kommen.
Akzeptiert man diese Kriterien Veens als Indikatoren einer gelungenen Einheit, kann man durchaus zu dem Ergebnis gelangen, dass zwei Staaten zusammengewachsen sind. Mehr Einheit, so ist man geneigt zu sagen, haben wir bis dato nicht erreicht; aber mehr Einheit brauchen wir vielleicht auch nicht.
Das vehemente Streben nach der selbigen könnte sich ja auch denkbarer Weise irgendwann einmal fatal auswirken, wenn es wiedereinmal in Deutschtümelei ausufert und wir zwar eine innere Einheit der Deutschen erzielt haben, darüber hinaus aber vergessen haben, das unsere pluralistische Gesellschaft auch aus anderen Nationalitäten besteht.
6. Literaturangabe
1 Matusssek, Matthias, 1999: Sehnsucht nach dem Totalitären, in: Der Spiegel, Nr.11, S. 46-60.
2 Pollack, Detlef, 1999: Das geteilte Bewusstsein, in: Von der Bonner zur Berliner Republik, 10 Jahre deutsche Einheit, Leviathan Sonderheft 19/1999
3 Fritze, Lothar, 1995: Identifikation mit dem gelebten Leben. Gibt es DDR-Nostalgie in den neuen Bundesländern, in: Das wiedervereinigte Deutschland, S. 278
4 Rheinischer Merkur Nr. 41 - S. 7
5 Die Mauer fiel, die Mauer steht, S. 238
6 Allbus, 1994: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, Köln: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität Köln
7 Noelle-Neumann, Elisabeth und Renate Köcher, 1993: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, München, S. 573
8 Billig, Axel, 1994. Ermittlung des ökonomischen Problembewusstseins der Bevölkerung. Forschungsbericht im Auftrag des Umweltbundesamtes Berlin.
9 Institut für Demoskopie Allensbach, 1995. Deutschland im Frühjahr 1995. Das Muster wechselseitiger Beeinflussung von Ost- und Westdeutschen.
10 Meulemann, Heiner, 1996. Ergebnisgleichheit als Staatsaufgabe, in:Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wiedervereinten Nation, S. 278-279
11 Veen, Hans- Joachim: Vereint, aber noch nicht wirklich eins? , in: Deutschland Archiv 2000/2, S. 269
- Quote paper
- Daniel Fehler (Author), 2001, Ost-West-Differenzen in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103879
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