Was, wenn Liebe und Schuld untrennbar miteinander verbunden sind? Bernhard Schlinks Der Vorleser entfaltet eine ebenso verstörende wie fesselnde Geschichte um Michael Berg, einen Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland, der eine leidenschaftliche Affäre mit der geheimnisvollen Hanna Schmitz eingeht. Diese Beziehung, geprägt von sinnlicher Nähe und dem Vorlesen literarischer Werke, nimmt eine abrupte Wendung, als Hanna spurlos verschwindet. Jahre später, als Jurastudent, begegnet Michael ihr unerwartet wieder – als Angeklagte in einem NS-Prozess. Konfrontiert mit Hannas Vergangenheit als KZ-Aufseherin, ringt Michael um Fassung und Verständnis. Ist es möglich, die Frau, die er einst liebte, mit den Gräueltaten der NS-Zeit in Einklang zu bringen? Der Roman verwebt auf meisterhafte Weise die Themen Liebe, Verrat, Schuld und Vergangenheitsbewältigung. Schlink wirft unbequeme Fragen auf: Welche Verantwortung trägt die Nachkriegsgeneration für die Verbrechen ihrer Vorfahren? Kann es Vergebung für unvorstellbare Taten geben? Und wie beeinflusst die Vergangenheit unsere Fähigkeit zu lieben und zu vertrauen? Der Vorleser ist mehr als nur eine Liebesgeschichte; es ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der menschlichen Natur. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe, die vor dem Hintergrund der deutschen Nachkriegszeit eine universelle Frage nach Schuld und Sühne stellt. Ein Roman, der lange nach dem Zulesen nachhallt und den Leser zwingt, sich mit den eigenen moralischen Überzeugungen auseinanderzusetzen. Zwischen juristischer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und persönlicher Verstrickung in ein dunkles Geheimnis, entfaltet sich ein Drama, das die Grenzen von Liebe und Gerechtigkeit auslotet. Der Vorleser ist ein Schlüsselroman der deutschen Nachkriegsliteratur, der die Frage nach der Verantwortung der Tätergeneration und die Last der Schuld auf eindringliche Weise thematisiert und den Leser mit einer tiefen Ratlosigkeit zurücklässt. Ein literarisches Meisterwerk, das zum Nachdenken anregt und die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auf eine sehr persönliche Ebene transportiert. Die moralischen Grauzonen, in denen sich die Figuren bewegen, machen den Roman zu einer beklemmenden Leseerfahrung, die lange im Gedächtnis bleibt.
“[K]lassische Kindsmißbraucherin” - so bezeichnet eine amerikanische Leserin von
Bernhard Schlinks Roman “Der Vorleser” in einem Artikel der “Süddeutschen Zeitung” (Z. 30f.) vom 24./25. April 1999 Hanna, die Hauptprotagonistin. In der Tat wird eine Liebesbeziehung, wie Hanna Schmitz sie führt, in der Gesellschaft abgewertet, geradezu als anormal angesehen: Die zu Beginn des Buches 36jährige Hanna hat ein Verhältnis mit dem 21 Jahre jüngeren Michael Berg.
“Ungesund” nennt dies eine andere Leserin (Z. 28). Doch gegen solche Kommentare entgegnet Schlink nur, dass das Verhältnis zwischen den beiden nur eine “Metapher für das Verhältnis der Nachgeborenen zur Tätergeneration” (Z. 48f) ist. Dieses Statement ist nicht auf Anhieb zu verstehen, steht doch eine Liebesbeziehung im Mittelpunkt des Romans. Doch “Der Vorleser” ist nicht nur als Entwicklungsroman oder Doppelbiographie zu sehen - er stellt auch eine Art Essay über die Schwierigkeiten der Nachgeborenen dar, wie diese mit den Verbrechen der nationalsozialischtischen Zeit umgehen sollten. Denn im Verlauf der Handlung erfährt man von Hannas früheren Aktivitäten in der NS-Zeit, und es kommt zu einem Gerichtsprozess, in dem sie für diese verurteilt werden soll. Als Michael davon erfährt, kann er dies zuerst gar nicht glauben. Seine früher geliebte Hanna als Verbrecherin? Somit beginnt er sich mit der Thematik der NS-Zeit zu beschäftigen, um Hanna verurteilen, aber auch verstehen zu können.
Alles beginnt damit, dass der 15jährige Michael an Gelbsucht erkrankt. Auf dem Nachhauseweg von der Schule muss er sich übergeben, und eine Frau, Hanna, kommt ihm zu Hilfe. “Fast grob” (S. 6) nimmt sie sich seiner an, tröstet ihn aber auch und bringt ihn nach Hause. Als Michael wieder gesund ist, drängt seine Mutter ihn, sich bei der Frau zu bedanken, die ihm geholfen hat. So geht er also zu Hannas Wohnung. Wieder zu Hause muss er ständig an diese Frau denken, da er sie beim Umziehen beobachtet hatte und dabei ihren Körper mit seinen weiblichen Reizen gesehen hatte. Besonders gefesselt ist er allerdings von ihrer Haltung und der Art, wie sie sich bewegt. Da sie ihm nicht mehr aus dem Kopf geht, besucht er sie eine Woche später nochmals und wird von ihr verführt. Dies ist der Anfang einer Liebesbeziehung, der Michael in den folgenden Wochen und Monaten total verfällt. Zu Beginn war allein körperliche Befriedigung die Basis dieses Verhältnisses, erst nach und nach verbessert sich auch die Kommunikation zwischen den beiden. Doch gleich “das erste richtige Gespräch, das [sie] miteinander hatten [...]” (S. 36), entwickelte sich zu einem Streit. Da Michael am liebsten die ganze Zeit mit Hanna zusammen wäre, schwänzt er oft die Schule; sie jedoch reagiert darauf sehr zornig und meint, er solle nicht wiederkommen, wenn er seine Arbeiten nicht erledigt habe (vgl. S. 36). Michael gibt daraufhin sofort klein bei, ordnet sich Hannas Dominanz unter und entschuldigt sich bei ihr.
Mit der Zeit entsteht ein gewisses Ritual bei ihren Treffen: Anfangs besteht es nur aus Duschen und sich Lieben, später muss er ihr immer aus Romanen vorlesen, wobei Hanna “eine aufmerksame Zuhörerin” (S. 43) ist. Überdies zeichnet sich immer stärker ab, wie abhängig Michael von Hanna ist, da er sich ihr bei jedem Streit unterordnet, auch wenn er denkt, im Recht zu sein (vgl. S. 48f./ S. 54f.). Besonders auffällig wird dies bei einem Streit an seinem Geburtstag, als er plötzlich “[...] wieder die Angst [bekam] sie zu verlieren und [sich] erniedrigte und entschuldigte [...]”, in einer Art, die bereits an Unterwürfigkeit grenzt. Doch Michael war dennoch glücklich in dieser Beziehung, Hanna gab ihm “Sicherheit” (S. 41) und er entwickelte sich in vielen Punkten weiter, so wird er selbstständiger, “verantwortungsbewußter und vertrauenswürdiger ” (S. 58).
Somit ist es auch ein großer Schock für ihn, als Hanna von einem Tag auf den nächsten die Stadt verlässt. Am Tag zuvor hatte er sie im Schwimmbad ignoriert, weil er mit seinen Schulfreunden dort war, die nichts von seiner Beziehung wussten. Jahrelang bleibt Michael der Überzeugung, dass sie wegen diesem Verrat gegangen war.
Sieben Jahre später studiert Michael bereits Jura und hat sich zu einer Seminar- Gruppe gemeldet, die einen NS-Prozess beobachten soll und sich die “Aufarbeitung der Vergangenheit!” (S. 86) zur Aufgabe macht. Während er seinen Blick über die Leute im Gerichtssaal schweifen lässt, entdeckt er Hanna auf der Anklagebank. Michael ist nicht darauf gefasst, Hanna ausgerechnet hier wiederzusehen. Umso mehr “erschrak [er, als er] merkte, [...] Hannas Haft als natürlich und richtig [zu empfinden]” (S. 93). Doch der Grund dafür ist nicht die Anklage, sondern dass er “[...] sie weit weg von [sich] haben [will]” (S. 93). Schnell wird er in den Bann des Prozesses gezogen und so geht er, im Gegensatz zu den anderen Studenten, täglich zu den Verhandlungen. In dieser Zeit ist “[s]ein Gefühl wie betäubt”, was er manchmal auch provoziert: Er beginnt, Hanna sich bei dem, was sie getan hatte, vorzustellen, sich in die damalige Situation hineinzuversetzen.
Zunehmend beschäftigt er sich mit in der folgenden Zeit mit der Thematik des Prozesses. Der Problembereich Täter/Opfer spukt beispielsweise in seinem Kopf herum, genau wie die Frage, was “[...] [s]eine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen[?]” (S. 99) soll. Sollte es Sinn des Prozesses sein, dass “einige wenige verurteilt und bestraft” (S. 100) werden und “die nachfolgenden Generationen [,] in Entsetzen, Scham und Schulden verstummen würden [...]” (S. 100)?
In der zweiten Verhandlungswoche beginnt die Lesung der Anklageschrift. Hanna und vier mit ihr angeklagte Frauen waren Aufseherinnen in einem Außenlager von Auschwitz gewesen. Monatlich gab es dort Selektionen, bei denen 60 Frauen nach Auschwitz zurückgeschickt wurden, um dort getötet zu werden. Darüberhinaus werden die Angeklagten beschuldigt, in den letzten Tagen des Krieges, bei der Verlagerung des Konzentrationlagers, die inhaftierten Frauen in eine Kirche gesperrt und bei einer Bombardierung hilflos dort eingesperrt gelassen zu haben, wodurch fast alle Häftlinge verbrannten.
Den ganzen Prozess lang wirkt Hanna unbeholfen, widerspricht ihren früheren Aussagen, obwohl sie sehr darauf bedacht ist, alles richtig zu machen (vgl. S. 105). Zudem erzählt eine Mitangeklagte, dass Hanna immer “Lieblinge” im KZ hatte, was Hanna gegenüber dem Gericht in ein noch schlechteres Licht rückt. Eine Überlebende erklärt diesen Begriff “Liebling” genauer: Es war “immer eine von den jungen, schwachen und zarten [...]” (S. 112), der sie das Leben im KZ so angenehm wie möglich machte. Die Aufgabe dieser Mädchen war es, Hanna abends vorzulesen. Dies war die einzige Situation, in der Hanna sich umdrehte und Michael ansah, der ja genau wie diese Mädchen einst “ihr Vorleser” war.
Als weiterer Anklagepunkt wird Hanna vorgeworfen, einen Bericht über die Geschehnisse an dem Tag des Kirchenbrandes geschrieben zu haben, dessen Inhalt sie jedoch dauernd widerspricht. Hanna hört auf zu widerlegen, dass der Bericht von ihr stamme, als das Gericht einen Schriftenvergleich machen will.
Michael beschäftigt sich rund um die Uhr mit dem Prozess und denkt viel über Hannas Schuld nach. Durch diese Überlegungen enthüllt sich ihm ein lang verschwiegenes Geheimnis: “Hanna konnte nicht lesen und schreiben.” (S. 126). Nun erklärt sich für ihn vieles: Warum sie sich hatte vorlesen lassen, weswegen sich ihre jetzige Aussage mit dem früheren Protokoll widersprach, das sie nicht gelesen haben konnte, und auch ihr Verhalten, als das Gericht einen Schriftvergleich machen wollte. Der Leser, der von Beginn der Verhandlungen an einen schlechten Eindruck von Hanna hat, bekommt mit einem Mal Mitleid mit ihr. Hanna, die Täterin, stellt sich nun als beinahe unschuldiges Opfer dar, war sie doch ihr Leben lang davor geflüchtet, als Analphabetin erkannt zu werden. Zwar war sie Aufseherin in einem Konzentrationslager gewesen, doch eigentlich war sie nur eine Mitläuferin. Der Leser ist schockiert festzustellen, dass er sofort dazu bereit wäre, ihr zu verzeihen, alles zu entschuldigen oder zumindest die Schwere ihrer Schuld geringzuhalten.
Da Michael nun über Hannas Beweggründe aufgeklärt ist, überlegt er, ob es seine Aufgabe ist, Hanna zu helfen. Doch würde er ihr wirklich einen Gefallen damit tun,
“[...] zum Vorsitzenden Richter [zu] gehen und ihm [zu] sagen, daß Hanna Analphabetin war.” (S. 132)? Um diese Frage beantworten zu können, sucht er Rat bei seinen Kommilitonen und seinem Vater, ohne das Problem direkt beim Namen zu nennen; doch auch sie können ihm nicht weiterhelfen.
Als die Verhandlungen für zwei Wochen pausieren, kann Michael seine Gedanken immer noch nicht auf etwas anderes lenken. Es fällt ihm zu schwer, Hannas Taten zu verstehen, auch wenn er ihre Lebenslüge nun entlarvt hat. Sie hatte nichts desto trotz ein schweres Verbrechen begangen, wofür sie verurteilt werden mußte. Immer wieder erscheinen ihm Bilder von Hanna. Einerseits bestehen sie aus schönen Erinnerungen an ihre gemeinsamen Zeit, andererseits sieht er sie in der Rolle einer KZ-Aufseherin, “Lagerstraßen entlanggehen[d] und in Häftlingsbaracken treten[d] und Bauarbeiten überwachen[d].” (S. 141). Um mit diesen zwiespältigen Bildern von ihr klarzukommen, “beschließt [Michael] wegzufahren”. Er will an einem authentischen Ort nachforschen um die Möglichkeit zu bekommen, die damalige Situation “nacherleben” und “[...] die Klischees mit der Wirklichkeit austreiben.” (S.146) zu können.
Deshalb macht er sich per Anhalter auf den Weg zum KZ Struthof-Natzweiler im Elsaß und wird von einem älteren Mann mitgenommen. Informiert über Michaels Ziel erzählt dieser ihm von “ [...] eine[r] Photographie von Erschießungen von Juden in Rußland [...]”. Dies weckt jedoch Michaels Mißtrauen und seine Empörung: “[...]auf einem Sims in der Wand [,] sitzt ein Offizier[...]. Er kuckt ein bißchen verdrießlich. [...]Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin das Tagwerk geschieht [...]. Er haßt die Juden nicht... [...]” (S. 146) Als Michael nun fragt “Waren sie das?”(S. 146), wird der Fahrer bleich - “Raus!” (S. 146). Michael hat auch ihn entlarvt.
Jahre später fährt Michael ein zweites Mal zum Struthof. Er erinnert sich an seinen “ damaligen vergeblichen Versuch, [sich] ein volles Lager [...] und das Leiden konkret vorzustellen. [Er] versuchte es wirklich[...]” (S. 149). “Aber es war vergeblich, und [er] hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens.” (S. 149). Auf dem Nachhauseweg scheut er sich zudem, durch die Gegend zu wandern und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. “Aber die Scheu verdankte sich nicht einer echten Empfindung, sondern Überlegungen, wie man sich nach dem Besuch eines Konzentrationslagers zu fühlen habe.” (S. 149f.). Somit sind Michaels Bemühungen, sich die Vergangenheit und ihre Grausamkeit zu vergegenwärtigen, gründlich mißlungen, sie münden in die Erfahrung einer “ große[n] Leere” (S. 150). Er befindet sich nun erst recht in einer emotionalen Krise, da ihm “die fremde Welt der Konzentrartionslager [...] dadurch nicht nähergerückt” (S. 152) ist. Die “fremden Eindrücke vom Struthof gesellten sich den wenigen Bildern von Auschwitz [...] und erstarrten mit ihnen.” (S. 152)
Da Michael der einzige ist, der von Hannas Analphabetismus weiß, manifestiert sich bei ihm das Gefühl, ihr helfen zu müssen immer stärker. Doch letztendlich bringt er es doch nicht übers Herz, dieses sorgsam gehütete Geheimnis gegen Hannas Willen zur Sprache zu bringen. So erhält sie von allen Angeklagten die höchste Strafe und muss lebenslänglich ins Gefängnis.
In all den Jahren besucht Michael sie nie, um endlich “[...] von Hanna frei [zu] sein.” (S. 165), was ihm aber nicht gelingt. Er heiratet und wird in dieser Ehe auch Vater, doch nach fünf Jahren lässt er sich scheiden. Hanna geht ihm immer noch nicht aus dem Kopf und so fängt er an, ihr wieder vorzulesen, auf Kassetten, die er ihr schickt. (vgl. Kap.5 ab S. 174). Hanna kämpft derweilen gegen ihren Analphabetismus an und lernt lesen und schreiben, worauf Michael mit “Freude und Jubel” (S. 178) reagiert.
Nach achtzehn Jahren wird Hanna begnadigt. Da Michael ihre einzige Kontaktperson ist und sich ihr verpflichtet fühlt, kümmert er sich um eine neue Wohnung und um Arbeit für sie, und besucht sie kurz vor ihrer Entlassung doch noch. Doch er erkennt Hanna kaum wieder, da sie stark gealtert ist und im Gegensatz zu früher keinen gepflegten Eindruck mehr macht.
Als Michael am Tag ihrer Entlassung kommt um sie abzuholen, erfährt er, dass Hanna sich erhängt hat. Die Gefängnisleiterin zeigt dem schockierten Michael Hannas Zelle, die noch unverändert ist. Dort entdeckt er zu seiner Verwunderung Literatur über den zweiten Weltkrieg, über Konzentrationslager und Bücher von Überlebenden. Sie hatte “[...] die Bücher [...] mit Bedacht bestellt.” (S. 194), und sobald sie es gelernt hatte, las sie diese. Überdies hatte Hanna “eine Art Testament” (S. 195) hinterlassen, indem sie Michael beauftragte, ihr verbliebenes Geld der Tochter zu geben, “[...] die gemeinsam mit ihrer Mutter den Brand in der Kirche überlebt hat.” (S. 196)
Hannas Testament macht sie beim Leser wieder beliebt, da es etwas wie Reue und Einsehen zeigt. Man bekommt auch das Gefühl ihr spätestens jetzt, nach ihrem Tod, verzeihen zu müssen, da sie im Gefängnis mit Hilfe der Bücher versuchte, sich ihrer Schuld bewusst zu werden und mit ihr fertig zu werden. Vielleicht hat sie letzteres nicht geschafft und sich deshalb umgebracht.
Aber Michael erfüllt Hanna ihren letzten Wunsch und fliegt nach New York, um der Tochter das Geld zu überbringen. Auf ihre Frage hin “[w]arum ich?” (S. 201), versucht er, ihr den Sinn von Hannas Auftrag zu erklären. “Die Jahre der Haft sollten [...] einen Sinn geben und sie wollte mit ihrer Sinngebung anerkannt werden.” (S. 201). Hanna wollte auch sich selbst gegenüber Gerechtigkeit. Überdies spricht Michael auch zum ersten Mal offen über seine Beziehung mit Hanna und darüber, dass Hanna Analphabetin war. Er will damit erreichen, dass die Tochter “seiner” Hanna diese letzte Anerkennung gibt, die ihr bestimmt sehr wichtig gewesen wäre.
Der Roman “Der Vorleser” ist wirklich beeindruckend. Er ist sehr direkt geschrieben und auch so ausgeschmückt, dass man als Leser keine Probleme hat, sich in den Ich- Erzähler hineinzuversetzen. Man fühlt mit Michael mit, wird aber auch dazu angeregt selbst nachzudenken, sowohl über die Liebesbeziehung von ihm und Hanna, als auch über die nazionalsozialistische Zeit.
Wer war schuldig, mitschuldig, Täter oder Opfer?
Wie sollen wir uns als Nachkommen der Täter-Generation fühlen?
Durch Michael zeigt sich eine Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten. Mit dem Versuch sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen will er zuerst verstehen, um danach be- und verurteilen zu können.
Doch in meinen Augen ist Michael dennoch der große Verlierer in diesem Roman. Zeit seines Lebens kommt er nicht von Hanna, seiner ersten “Liebe” los, obwohl er es ständig versucht. Sogar seine Ehe und weitere Beziehungen scheitern daran, dass er alle Frauen mit Hanna vergleicht. Trotzdem schafft er es auch nie, wirklich zu ihr zu stehen. Dies läßt sich beispielsweise daran erkennen, dass er auf keine der Kassetten, die er ihr schickt, auch nur ein einziges persönliches Wort spricht.
Michaels letzter Versuch, mit seiner und Hannas Lebensgeschichte fertigzuwerden, ist dieses Buch, “Der Vorleser”. Doch ob die Geschichte des Michael Berg auch die Geschichte des Bernhard Schlink ist, läßt sich nicht feststellen. Auf die Frage hin, ob es in seinem Leben eine Hanna gab, weicht Schlink nur aus, “dazu könne er nun wirklich nichts sagen, das sei ihm zu persönlich.” (Zitat aus ganz zu Beginn erwähnter Ausgabe der Süddeutschen Zeitung).
Erstaunlich an dem Roman “Der Vorleser” ist seine Vielschichtigkeit. Schlink fasst viele verschiedene Problembereiche in nur ein Buch zusammen- ohne es dabei künstlich dramatisiert oder übertrieben wirken zu lassen. Man könnte diese Problembereiche in zwei Großgruppen trennen: Zum einen die Beziehung zwischen Hanna und Michael, schwierig auf Grund des Altersunterschieds und Hannas Dominanz, zum anderen das ganz allgemeine Problem, wie Nachgeborene der NS- Zeit mit dem belastenden Erbe dieser Zeit fertig werden sollen und wie die Täter sich zu entschuldigen versuchen. Ganz auffällig wird ein solcher Entschuldigungsversuch im “Vorleser” dargestellt, als ein alter Mann Michael von einer Photographie einer Judenerschießung erzählt (vgl. Punkt III. 2.). Vergleichbar zu dieser Szene ist ein Gedicht von Johannes Bobrowski mit dem erstaunlichen Namen “Bericht”.
Bericht Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen
in Brest-Litowsk
trug einen Militärmantel (polnisch), wurde verhört von deutschen Offizieren, es gibt
ein Foto die Offiziere sind junge Leute tadellos uniformiert, mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung ist einwandfrei.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in dem Roman "Der Vorleser"?
Der Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink behandelt die Beziehung zwischen dem 15-jährigen Michael Berg und der 36-jährigen Hanna Schmitz. Diese Beziehung ist nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern dient auch als Metapher für das Verhältnis der Nachkriegsgeneration zur Tätergeneration des Nationalsozialismus. Im Verlauf der Handlung wird Hannas Vergangenheit als KZ-Aufseherin während des Nationalsozialismus aufgedeckt, was Michael dazu zwingt, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und Hannas Schuld zu hinterfragen.
Wie beginnt die Beziehung zwischen Michael und Hanna?
Die Beziehung beginnt, als der an Gelbsucht erkrankte Michael von Hanna auf der Straße geholfen wird. Später bedankt er sich bei ihr, und es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die zunächst auf körperlicher Anziehung basiert, sich aber später auch durch Gespräche und Vorlesen vertieft.
Warum verlässt Hanna Michael?
Hanna verlässt die Stadt von einem Tag auf den anderen. Michael glaubt zunächst, dass es daran liegt, dass er sie im Schwimmbad ignoriert hat. Später stellt sich heraus, dass es möglicherweise mit Hannas Geheimnis, ihrer Analphabetie, zusammenhängt.
Welche Rolle spielt der NS-Prozess im Roman?
Jahre später, während seines Jurastudiums, entdeckt Michael Hanna als Angeklagte in einem NS-Prozess. Hanna wird beschuldigt, als KZ-Aufseherin an Selektionen und dem Tod von Häftlingen durch einen Kirchenbrand beteiligt gewesen zu sein. Der Prozess zwingt Michael, sich intensiv mit der NS-Zeit, der Schuldfrage und der Verantwortung der Nachkriegsgeneration auseinanderzusetzen.
Warum verhält sich Hanna im Prozess so merkwürdig?
Hanna verhält sich im Prozess widersprüchlich und unbeholfen. Später stellt sich heraus, dass sie Analphabetin ist und ihr Verhalten darauf zurückzuführen ist, dass sie ihre Analphabetie zu verbergen versucht. Sie nimmt die Schuld für den Bericht über den Kirchenbrand auf sich, um nicht als Analphabetin entlarvt zu werden.
Wie geht Michael mit Hannas Schuld um?
Michael ist hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Hanna und der Erkenntnis ihrer Schuld. Er versucht, die Vergangenheit zu verstehen und Hannas Handlungen zu verurteilen, kann sich aber letztendlich nicht dazu durchringen, ihr Geheimnis (ihre Analphabetie) preiszugeben, um ihr möglicherweise zu helfen. Er besucht sie nicht im Gefängnis, versucht aber später durch das Besprechen von Kassetten Kontakt zu halten.
Was geschieht nach Hannas Haftentlassung?
Nach 18 Jahren Haft wird Hanna begnadigt. Michael bereitet ihre Entlassung vor, doch am Tag ihrer Entlassung findet er sie erhängt in ihrer Zelle. Sie hat im Gefängnis lesen und schreiben gelernt und sich intensiv mit der NS-Zeit auseinandergesetzt.
Was erfährt Michael nach Hannas Tod?
Nach Hannas Tod erfährt Michael, dass Hanna ihr verbliebenes Geld der Tochter einer Überlebenden des Kirchenbrandes vermacht hat. Michael reist nach New York, um den Auftrag auszuführen und der Tochter von Hanna zu erzählen. Durch diese Tat versucht Hanna, ihre Schuld zu sühnen und Gerechtigkeit walten zu lassen.
Welche Themen behandelt der Roman?
Der Roman behandelt eine Vielzahl von Themen, darunter Liebe, Schuld, Verantwortung, Vergangenheitsbewältigung, die Beziehung zwischen den Generationen, Analphabetismus und die Schwierigkeit, die Vergangenheit zu verstehen und zu verarbeiten. Er wirft Fragen nach Tätern, Opfern und der Rolle der Nachkriegsgeneration auf.
Welche Rolle spielt die Szene mit dem alten Mann und dem Foto?
Die Szene, in der Michael per Anhalter fährt und ein alter Mann ihm von einer "Photographie von Erschießungen von Juden in Rußland" erzählt, thematisiert einen Entschuldigungsversuch der Tätergeneration. Der Mann versteckt sich hinter dem Foto, um seine eigene Verantwortung zu relativieren. Dies wird auch mit dem Gedicht "Bericht" von Johannes Bobrowski verglichen, in dem ebenfalls ein Foto zur Relativierung der Geschehnisse herangezogen wird.
- Quote paper
- Katrin Engel (Author), 1999, Schlink, Bernhard - Der Vorleser, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103707