Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Der Fall Franza:
Kindheit in Galicien
Zeit in Wien
Das Verbrechen: Täter und Opfer
Der exemplarische Fall
Malina:
Das weibliche Ich
Das weibliche Ich und Ivan
Die Träume
Das weibliche Ich und Malina
Das Verbrechen am weiblichen Ich
Schlußwort
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Zerstörung des Weiblichen in Ingeborg Bachmanns Romanen „Der Fall Franza“ und „Malina“.
Diese Romane sowie „Requiem für Fanny Goldmann“ gehören zu ihrem Todesartenprojekt. Ingeborg Bachmann will verdeutlichen, daß die Verbrechen der Vergangenheit, wie zum Bei- spiel die Judenvernichtung, keineswegs aus der Welt verschwunden sind. Die Gesellschaft ist immer noch der allergrößte Mordschauplatz, nur daß die Verbrechen heute mit Worten und Blicken geschehen. Sie sind so subtil, daß es keine Beweise dafür gibt. Täter ist das männliche Prinzip, das für Ratio und Macht steht. Das Opfer ist das weibliche Prinzip, welches Emotionali- tät und Empathie verkörpert.
Ingeborg Bachmann möchte in ihren Romanen diese Morde am Weiblichen darstellen. „Der Fall Franza“ ist der erste Roman in dem Todesartenprojekt. Die Arbeit am Roman begann 1964. 1966 trug Ingeborg Bachmann Teile aus dem unvollständigen Roman auf einer Lesereise vor. „Der Fall Franza“ wurde nie fertiggestellt und erst im Rahmen der Werkausgabe 1978 veröf- fentlicht. Stattdessen begann Ingeborg Bachmann den Roman „Malina“, der 1971 veröffentlicht wurde.
Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen sind groß, so tauchen zum Beispiel dieselben Personen, Träume, Thematiken in „Der Fall Franza“ und in „Malina“ auf. Aber was ist anders? Warum hat Ingeborg Bachmann den „Fall Franza“ nie beendet?
Dies möchte ich anhand der Zerstörung des Weiblichen, dem zentralen Thema in beiden Roma- nen, aufzeigen. Während „Der Fall Franza“ noch als Geschichte erzählt wird, ist „Malina“ eine sehr subjektive Erzählung, die schon fast Tagebuchcharakter hat. Deshalb gehe ich unterschied- lich bei der Analyse des Verbrechens vor. Im „Fall Franza“ beschreibe ich die Entwicklung Franzas, charakterisiere sie und zeige dann das Verbrechen auf. In „Malina“ läßt sich das weib- liche Ich nur sehr schwer fassen. Deshalb versuche ich, es über seine Beziehungen zu anderen Personen zu analysieren. Und natürlich muß ich mich mit dem Traumkapitel auseinandersetzen, allerdings bleibt das ohne die entsprechenden Vorkenntnisse der Freudschen und Jungschen Traumdeutung laienhaft.
Da die Zerstörung des Weiblichen, gerade bei „Malina“, auf vielen Ebenen stattfindet und diese alle darzustellen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, habe ich mich auf die wesentlichen beschränkt und zum Beispiel das große Thema „Sprache“ fast unberücksichtigt gelassen.
Der Fall Franza
Kindheit in Galicien
Franza hat ihre Kindheit in Galicien verlebt, einem fiktiven Ort südöstlich von Villach in Kärnten. Es liegt im Grenzbereich Italien / Jugoslawien / Österreich. Der Name „Galicien“ erinnert an das südpolnische Galizien als Ort der Judenvertreibung und -vernichtung. Schon die Ortswahl deutet auf eine außergewöhnliche Stellung Franzas innerhalb gesellschaftlicher Strukturen hin. Franzas Kindheit ist zugleich die Zeit des zweiten Weltkrieges. Sie lebt zusammen mit ihrem Bruder Martin im großelterlichen Haus, da der Vater in Ägypten verschwunden ist und die Mut- ter im Krankenhaus liegt. Franza wird beschrieben als „dürre Spindel“1, „(...) bloßfüßig (...), mit immer zerkratzten Beinen, und einem Hänger aus einem Vorhangstoff, (...) eine mythische Figur (...).“2 Elternlos, in der Obhut von alten Menschen, die fernab von jeder Realität leben, schwer- hörig sind und sich nicht um die beiden Geschwister kümmern, beginnt Franza, ihre eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Sie, die fünf Jahre älter ist als Martin, schlüpft in die Mutterrolle und wird zugleich Liebesobjekt für Martin, so, wie auch er es für Franza wird.
„ (...) und nie hatte er (Jordan, Anm.) die Franza gekannt, die mit den Kürbis- leuchtern herumgegangen war, mit ihm die Nachmittage auf dem Heustadel Gänge durchs Stroh und durch Heu gegraben hatte, die ihm das Ausschneiden der Kürbisse bei- gebracht hatte und das Maiskolbenbraten und im Heu leben, als wäre das alles, was er einmal in der Welt brauchen würde, und immer undüberall hatte sie ihn mit sich herum- geschleppt, dieses Herumschleppen, das war es, Essen suchen, ihn waschen und anziehen und ausziehen, und dann hatten sie einander viele Versprechen gegeben, deren Inhalte er nicht mehr wußte, nur noch, daßsie miteinander leben würden, wenn er „ gro ß“ war (...). “ 3
Da die Elterninstanz bei der Entwicklung Martins und Franzas fehlt, die sowohl Moralvorstellun- gen geprägt als auch die Funktion von Liebesobjekten übernommen hätte, kann sich zwischen Franza und Martin so etwas wie ein inzestuöses Verhältnis entwickeln. Beide leben in einem magischen, grenzenlosen Raum. Für Franza, die von Martin liebevoll als Gitsche bezeichnet wird, bedeutet die fehlende väterliche Autorität, daß sie psychisch unversehrt bleibt. „Der Vater als aggressiv-bedrohlicher Anteil wird bei diesem Identitätsbildungsprozeß ausgegrenzt, wäh- rend der nicht bedrohliche und deshalb begehrte jüngere Bruder zum internalisierten anderen und damit zum konstitutiven Moment der eigenen Identität wird.“4 Franza hat deshalb das Ge- fühl, in dieser Kriegszeit unsterblich, unzerstörbar zu sein. „(..) denn sie war überzeugt, daß sie, wenn (sie) es fest wünschte, unverwundbar sei und daß auch nicht ein Splitter sie treffen könn- te.“5
Franza beschützt Martin und würde alles für ihn tun. Ihr Verhältnis zueinander beschreiben sie mit einem Kultsatz aus dem Isis und Osiris-Mythos: „Unter hundert Brüdern dieser eine. Und er aß ihr Herz. (...) Und sie das seine.“6 Dieses abgewandelte Zitat aus dem Gedicht „Isis und Osi- ris“ von Robert Musil steht für die Unzertrennbarkeit und die ewige Liebe zwischen Martin und Franza. Die beiden verbindet ein tiefes Verständnis, eine Empathie, die nicht nur daherrührt, daß sie Geschwister sind, sondern auch, weil sie die Welt aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation mit anderen Augen sehen. Sie erfahren keine gesellschaftlichen Prägungen, „ (...) leben in einem herrschaftsfreien Bereich“7, und gerade bei Franza macht sich das in ihrer Weltsicht bemerkbar. Der „(...) geschichtslose, vorpatriarchale und magische Raum (...)“8 führt in Franzas Entwicklung zu einer besonderen, magischen Sicht der Welt. Sie hat ein geradezu empathisches Verhältnis zu den Dingen, die sie umgeben. Franza ist eins mit der Welt, sie sieht und erlebt nicht aus der Dis- tanz. „Man kann nur die wirklich bestehlen, die magisch leben, und für mich hat alles Bedeu- tung.“9
Ihre magische Lebensweise macht sich auch bemerkbar in ihrer Sprache. Franza gibt den Wör- tern eine neue Bedeutung, entwickelt eine eigene Sprache. Wörter wie „Besetzen“ oder „Ver- gewaltigen“ haben für sie eine spezielle Bedeutung; das verlassene Dorf Galicien soll durch be- setzende Soldaten zu neuem Leben erweckt werden, und „Vergewaltigen, das war ein anderes Wort, unter dem Franza sich frühlingszeitraubende Dinge vorstellte (...).“10 Die Kindheit, der geschichtslose und magische Raum, endet mit Kriegsende, mit dem Einmarsch von Soldaten. Mit diesem Einmarsch dringt auch die Realität in Franzas Welt ein. Die Fünfzehn- jährige verliebt sich in einen englischen Capitän, den sie „Sire“ anstatt „Sir“ nennt. Franza be- müht sich, englisch zu sprechen, gibt ihre eigene Sprache auf, um Sire näher zu kommen. Martin wird der pubertierenden Franza nun lästig, für sie steht nur noch Sire im Mittelpunkt ihres Le- bens. Schon bald aber muß sie erkennen, daß der englische Kapitän eine richtige Frau und nicht so ein mageres Ding wie sie braucht. Sire wird zum Vaterersatz, indem er zugleich Liebesobjekt und auch Autoritätsperson ist. Er kümmert sich um die beiden Kinder, sucht nach deren Mutter und findet sie tot im Krankenhaus. Dort lernt Sire eine Krankenschwester kennen, mit der er, natürlich nicht unbemerkt von Franza, eine Liebesbeziehung eingeht. Doch Franza unterdrückt diesen ersten Schmerz, diese erste Enttäuschung tapfer. „(...) und wenn ihr die Tränen kamen, dann weil sie froh war, sie liebte die Liebe der beiden, eine große, einzigartige Liebe wurde für Franza daraus (...).“11 Sie beginnt, in Sire und der Krankenschwester so etwas wie einen El- ternersatz zu sehen. Hier wird zum ersten Mal deutlich, daß Franza ihre Beziehungen zu anderen imaginär inszeniert bzw. inszenieren kann. Um keine Verletzungen zu erleiden, schafft sie sich eine imaginäre Wirklichkeit. Denn daß die Beziehung zu Sire nur von ihr so intensiv und bedeu- tungsvoll erlebt wird, wird spätestens dann klar, als sie ihn Jahre später in London wiedertrifft und er sie nicht erkennt.
Franzas Kindheit endet mit einem gebrochenen Herzen, mit dem Verlassen des magischen Raums der Unversehrtheit. „ Damit endete Franzas erste Liebe und sie blieb zurück, in keinem Widerschein, nur benommen und das ganze Strahlen hörte auf in ihr, sie blieb zurück in einer Staubwolke hinter dem Frieden.“12 Es wird deutlich, daß das für Franza so lebenswichtige ma- gische Erleben, ihre bedeutungsvolle Nähe zu den Dingen auch dazu führt, leicht verletzbar zu sein.
Zeit in Wien
Franza geht als junge Frau nach Wien, um zu studieren. Dort lernt sie den Psychiater Jordan kennen, der sie sehr beeindruckt. Über Jordan selber wird gesagt, daß er ausssieht wie Franzas Vater. Das legt den Schluß nahe, daß Jordan für sie einen Vaterersatz verkörpert. Jordan soll Franza Schutz gewähren, doch das Gegenteil tritt ein: er zerstört sie. „Ich hing mich mit meinen halbwüchsigen Gedanken, mit meinem Überschwang, an seine Gedankenleitung, unvorsichtig, ich hätte mich auch an eine Starkstromleitung werfen können, das wäre rascher und glimpflicher verlaufen (...).“13 Franza vertraut Jordan, doch er mißbraucht sie. Nur schleichend erkennt sie, was Jordan mit ihr macht: er analysiert Franza, macht sie zu seinem Fall. Franza vergleicht ihre Ehe mit Jordan mit der Blaubartehe: Jordan ist der geheimnissvolle Mann, der sie zunächst durch Reichtümer absichert, dann aber mit dem Tod bedroht. „Die Initiation, die im Blaubart- Märchen für die Frau ausgestaltet wird, ist der Übertritt von einer heilen, durch Reichtum abge- sicherten materiellen Welt in eine bedrohliche, Todesangst erregende, psychische Welt.“14 Wie auch im Märchen ist der Bruder es, der Franza retten kann bzw. soll. Martin bemerkt bereits bei seinen Besuchen, daß die Schwester sich verändert hat. Sie paßt sich, auch sprachlich, an Wien an, wird eine kleine Dame. „(...) diese kleine Dame, die ihre Frisuren wechselte und mit ihrer Sprachbegabung akzentlos aus Galicien herausgefunden hatte und auf einen anderen Ak- zent in Wien übergewechselt hatte, die durch die Herrengasse und über den Kohlmarkt ging, als wäre sie nie über die Zündhölzelbrücke gegangen.“15 Die Geschwister, die schon durch das Erscheinen Sires ihr symbiotisches Verhältnis zueinander verlieren, entfremden sich nun vollends. Martin kann Jordan, den er das „Fossil“ nennt, nicht leiden. Zum einen ist er eifersüchtig, zum anderen merkt er, daß Jordan seine Schwester verändert. Doch erst, nachdem Martin das hilfe- suchende Telegramm Franzas erhalten hat, erst, nachdem Franza bereits durch Jordan zerstört worden ist, schreitet Martin ein.
Das zweite Kapitel in „Der Fall Franza“ ist das am wenigsten ausgestaltetste. Von dem, was Jordan Franza angetan hat, erfährt man nur wenig. Er beobachtet Franza, sieht sie aus der Sicht des Analytikers und nicht im Rahmen der Beziehung Mann/Frau. Jede Äußerung Franzas wird so kommentiert und zerlegt, bis sie in sein Denkschema, das des Analytikers, paßt. Ihre Hand- lungen werden genauestens protokolliert, in Kürzeln niedergeschrieben, ebenso Jordans Schluß- folgerungen daraus. Jordan macht Franza zu seinem Fall. „ Er bearbeitete mich, er bereitete mich vor, seinen Fall. Er hetzte mich hinein in seinen Fall.“16 Nach und nach traut sich Franza nicht mehr, unüberlegt zu sprechen, ja überhaupt zu reden, geschweige denn zu protestieren. Jordan raubt ihr die Sprache, zerlegt Franza, „ (...) bis nichts mehr da war, nichts geblieben außer einem Befund.“17
Franza existiert nur noch als die Frau an seiner Seite, ohne eigenständige Identität. Ganz deutlich wird dies an der Arbeit an einer wissenschaftlichen Untersuchung. Franza erhofft sich durch die Zusammenarbeit mit ihrem Mann, daß sie sich näherkommen. Das Buch untersucht die Spät- schäden ehemaliger KZ-Insassen. Für Jordan, der selbst vor der Analyse seines Bruders, einem Nazi-Opfer, nicht halt macht, ist diese wissenschaftliche Untersuchung ein großer Schritt in sei- ner Karriere. Doch Franza merkt dabei, daß sie nicht in der Lage ist, wissenschaftlich zu arbei- ten. Ihr fehlt die nötige Distanz zum analytischen Lesen der Prozeßprotokolle. Als das Buch dann endlich fertiggestellt ist, stellt Franza fest, daß Jordan ihren Namen im Verzeichnis der Mit- arbeiter verschweigt. „ Er wollte mich auslöschen, mein Name sollte verschwinden, damit ich danach wirklich verschwunden sein konnte.“18
Franza beginnt, sich vor Jordan zu fürchten. Sie hat schreckliche Angst vor ihm, merkt, wie er sie psychisch zerstören will, so wie er es auch mit seinen anderen beiden Ehefrauen getan hatte. Jordan haßt die Frauen, aus welchen Gründen wird nicht klar. Franza fürchtet um ihr Leben. „Ich werde ermordet, helft mir. Das hätte ich sagen müssen, aber stell dir vor, in dieser Gesell- schaft, wenn einer kommt und sagt: ich werde ermordet. Bitte wie und von wem und warum, bitte Angaben, Beweise.“19 Franza hat keine Beweise, kann sich nicht hilfesuchend an die Ge- sellschaft wenden, da diese solche Verbrechen nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt. Für Ingeborg Bachmann ist die Gesellschaft der allergrößte Mordschauplatz. Der faschistische Ter- ror ist keineswegs mit dem Ende des Krieges aus der Welt verschwunden; er spielt sich jetzt in den zwischenmenschlichen Beziehungen ab. „Du sagst Faschismus, das ist komisch, ich habe das noch nie gehört als Wort für ein privates Verhalten, (...). Aber das ist gut, denn irgendwo muß es ja anfangen, natürlich, warum redet man nur davon, wenn es um Ansichten und öffentliche Handlungen geht.“20 Daß Jordan faschistisch ist, wird nochmals in den Träumen Franzas verdeutlicht, in denen er an ihr den gewalttätigen, brutalen und kranken Nazi-Terror verübt. Aber Franza hat nicht nur Angst vor Jordan, er ekelt sie auch an. Diesen Ekel überträgt sie auf das Essen, indem sie die Nahrungsaufnahme verweigert. Einerseits hat sie Angst, Jordan wolle sie vergiften. Andererseits ist das Aussspucken von Nahrung Zeichen von Ekel. Franza möchte sich mittels des Ausspeiens symbolisch von Jordan distanzieren.
Ein weiteres äußerliches Zeichen für Franzas innere Zerstörung sind die hysterischen Symptome, „Lähmung, Atemnot, Mutismus, Konvulsionen und Kiefernsperre“21. Hysterie ist ein äußerliches Zeichen für ein unverarbeitetes Trauma, das, da es unbewußt ist, auch nicht erinnert und bewäl- tigt werden kann. Nach Freud hat dieses Trauma sexuelle Ursachen. Ingeborg Bachmann aber begreift es als Folgen einer Kränkung sowohl seelischer als auch körperlicher Art. Franzas Trauma liegt also nicht nur die (im Buch angedeutete) Vergewaltigung durch Jordan zugrunde, sondern auch all die anderen psychischen und physischen Grausamkeiten, die er ihr zufügt.
Franza flieht aber erst aus der schrecklichen, unerträglichen Situation, als sie von Jordan ge- zwungen wird, ihr Kind abzutreiben. Franza wird von den Ärzten in der Klinik nicht nach ihrer Meinung gefragt, einzig Jordan, der geschätzte Analytiker, wird um seine Einschätzung gebeten. Als Franza nach der vollzogenen Abtreibung darum bittet, den Fötus zu behalten, ihn nicht zu verbrennen, stößt sie auf Unverständnis. Franza möchte die Einäscherung, die wieder ein Sym- bol für den faschistischen Terror ist, verhindern, weil sie Jordan mit dem von ihm getöteten Le- ben konfrontieren möchte. Des weiteren möchte sie das Herz des Ungeborenen essen. Das erscheint auf den ersten Blick abstoßend, hat aber zwei Erklärungen. Zum einen möchte Franza durch diese Einverleibung als Umkehrung des Ausspuckens Nähe herstellen und die Distanz überwinden. Zum anderen bezieht sich das Essen des Herzens wieder auf den Kultsatz zwischen Martin und Franza. In der Zerstörung des Fötus erkennt sie ihre eigene Zerstörung. Franza be- schließt, Jordan fluchtartig zu verlassen.
Das Verbrechen: Täter und Opfer
In dem Romanfragment ist eindeutig zu bestimmen, wer der Täter ist und wer das Opfer. Ich möchte zunächst noch einmal auf das Verbrechen des Täters Jordan eingehen. Jordan, bei dem Franza eigentlich Schutz sucht, bringt sie psychisch und damit in letzter Konsequenz auch körperlich um. Er „vereinigt alles Böse unter dem Deckmantel der Autorität und der gesell- schaftlich etablierten Macht auf sich.“22 Als Psychoanalytiker ist Jordan von der Gesellschaft geschätzt, niemand zweifelt an ihm oder wagt es, ihn zu kritisieren. Über Jordans Motive, Fran- za zu zerstören, wird nichts gesagt, nur, daß er die Frauen haßt. Seine beiden ersten Ehefrauen sind vor ihm geflohen und spurlos verschwunden. Frauen sind austauschbar für Jordan, das merkt man erstens daran, daß er sie gleichermaßen schlecht behandelt und zweitens äußert es sich in einer Aufzeichnung über ein Telefongespräch Franzas, in der er sie mit einer Ex-Frau vergleicht.
Jordan muß allen sein Denksystem überstreifen. Er schafft das, indem er Franza wie eine Patien- tin, wie ein Kind behandelt. Er führt pädagogische Erziehungsmaßnahmen durch, wird gewalttä- tig, verfügt über die Sprache, indem er Franza (auch sprachlich) so einschüchtert, daß sie sich nicht mehr zu sprechen getraut. Und schließlich behandelt er sie auf eine zynische und herablas- sende Art. In den Gesprächen mit Franza „geht (es) ihm nicht darum, Franza anzuhören, son- dern sie vielmehr so weit zu verunsichern, daß sie nicht weiter auf ihrer anderen Art und Denk- weise besteht.“23 Jordan kann keine andere Denkweise außer der seinen tolerieren, er muß al- les, was davon abweicht, zerstören.
Was zeichnet Jordans Denkweise aus? Er ist sehr rational, analytisch und „reduziert den Men- schen auf das, was er in ihm sieht.“24 „(...) er konnte keinen Menschen verlängert sehen, über die Grenze hinaus, die er ihm setzte.“25 Jordan muß zwanghaft alles zerlegen und in sein Denkra- ster einordnen. „(...) keine Nacht, von der ich nicht zwanghaft denke, er hat sich seine Notiz gemacht, keine Vergeßlichkeit, die nicht in Fehlleistung und Bedeutungswahn begraben worden wäre.“26 Die Kürzel, in denen er seine Analysen niederschreibt, spiegeln seine rationale Denkweise wider, da er in der Lage ist, zu abstrahieren.
Diesem analytischen Denken steht Franzas magische Sichtweise gegenüber. Sie, die unbe- schwert und in großer Nähe zu den Dingen gelebt hat, durchschaut zunächst nicht, was Jordan mit ihr macht. Franza kann nicht verstehen, was da mit ihr geschieht, da ihr Jordans Denkweise völlig fremd ist. Durch ihre Verunsicherung, die schließlich zu Angst wird, verliert sie ihre ur- sprüngliche Empathie zu den Dingen bzw. zu den Menschen. Franza wird vorsichtig und durch den Verlust ihrer magischen Lebensweise noch unsicherer. Sie, die sich nach Schutz und zugleich nach Fremdbestimmung sehnt, was man an ihrem Verhältnis zu Sire wie auch an ihrer frühen Heirat mit Jordan sehen kann, wird durch diesen Wunsch nach Abhängigkeit zerstört. „Was jetzt hinzukommt, ist der Verlust ihrer magischen Art und dadurch eine Selbstentfrem- dung, die das Denken in Hierarchien, in Fremdbestimmung noch unterstützt.“27
Denn dem Opfer keinerlei Schuld zuzuschreiben, wäre falsch. Franzas Wunsch in der Kindheit nach „Besetzung“ und „Vergewaltigung“ zeugen von dem Bedürfnis, sich unterzuordnen, ebenso ihre Abhängigkeit von Sire. Auch ihre Ehe mit Jordan ist solch eine Unterwerfung. „Ich bin zu ihm gegangen, habe mich ihm anvertraut, was könnte die Ehe sonst sein als Anvertrauen, es in jemands Hände zu legen, was man ist, wie wenigs auch sei.“28 Franzas Passivität und ihr Hang zum Masochismus machen sie zum Opfer, so wie Jordans Sadismus ihn zum Täter macht. Dabei wird das alte Rollenmuster bedient, daß Frauen zum Masochismus und damit zum Opfersein tendieren, während der Mann als Täter zum Sadismus neigt. „Der Masochismus Franzas ist nicht erst eine Folgeerscheinung der Ehe, (...) sondern ist in ihrem Charakter und ihrer gesell- schaftlichen Rolle als Frau angelegt.“29
Franzas magisches Denken, ihre Unfähigkeit zur Reflexion und gleichzeitige Distanzlosigkeit, macht sie zum Opfer. Da ihre Denkweise, die Denken und Fühlen gleichsetzt, nicht die der Ge- sellschaft ist, gehört Franza automatisch einer Minderheit an. „Innerhalb einer bereits technisch geordneten Welt ist die magische Weltsicht automatisch für die Opferseite prädestiniert, eben weil sie weniger mächtig ist.“30 Franza ist aber gerne Opfer. Das erkennt man daran, daß sie nicht sofort aus der bedrohlichen Ehe flieht, als sie erkennt, daß Jordan sie zerstören möchte. Stattdessen will sie sich „zutod(...)rätseln an der einzigen Firgur, die für mich nicht durchschaubar war.“31 Für sie ist Opfersein und Opferbringen gleich einem Märtyrerdasein, daß sie heldenhaft erträgt. Erst nachdem ihre alte Identität völlig zerstört wurde und es nichts mehr gibt, woran sie sich halten kann, flüchtet Franza aus ihrer Situation.
Später, in Ägypten, findet Franza zu ihrer magischen Weltsicht zurück. Sie beginnt wieder zu denken und zu fühlen. Erstmals reflektiert sie mittels ihre Träume, was mit ihr geschah. Aber auch hier macht Franza sich keine eigenen Gedanken, sondern erkennt mit Hilfe ihrer Umwelt sich selbst. Franza identifiziert sich mit den Opfern, ja sie ist selber Opfer und fühlt, was diese von ihr erblickten Leidenden fühlen.
Zunächst einmal vergleicht sich Franza mit den Ureinwohnern Australiens. Nach Franzas Über- zeugung sterben die Papuas aus, weil die Weißen, sprich die abendländische Gesellschaft, ihnen die für sie lebensnotwendigen Güter rauben. Das sind keineswegs nur die materiellen Dinge, sondern vor allem die friedliche und magische Lebensweise. Franza sagt über Jordan: „Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitlei- den, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist.“32 Deshalb sagt Franza von sich selbst, sie sei eine Papua.
Aber nicht nur mit den Ureinwohnern Australiens sowie allen anderen Kolonialisierten identifi- ziert sich Franza. Da wäre zum Beispiel auch die Frau am Bahnhof in Kairo, die von ihrem Mann an den Haaren gezogen, grausam gequält wird. Während die Zuschauenden nichts be- merken, ist Franza fassungslos über den Wahnsinn des Mannes. Es wird ihr gesagt, daß die Frau wahnsinnig sei, doch für Franza ist nur ein Mensch, der so brutal ist, krank. Über den An- blick der leidenden Frau und der Identifikation mit derselben erinnert und reflektiert Franza ihre Situation in der Ehe mit Jordan. Auch er war krank, während sie als Wahnsinnige behandelt wurde.
Als weiteres Beispiel für Franzas Identifikation mit den Opfern, für ihr Verstehen ist die Besich- tigung der Tempel zu nennen. Da wäre zunächst die Königin Hatschepsut, deren Grabinschrift, ihre Geschichte ausgelöscht worden ist. Franza kann dennoch lesen, was ihr widerfahren ist.
Denn allein schon die Tatsache, daß da nichts steht, ist für Franza Aussage genug. Das Ausge- löschtsein von Hatschepsuts Existenz, ihrer Identität, spiegelt Franzas eigenes Ausgelöschtsein wider, als Jordan sie nicht als Mitarbeiterin an seinem Buch erwähnt. Und auch sein Rauben ihrer Identität liest sie am Grab der ägyptischen Königin ab. Franza erkennt des weiteren die Grabschändung, die die Weißen an den Gräbern verüben, indem sie die Mumien zur Schau stellen. Dieses Nichtanerkennen einer anderen Kultur, das Zerstören der Totenruhe empfindet sie als Schande. Stellvertretend für die Toten übergibt sich Franza vor dem Mumiensaal. Sie überträgt das Nichtwahren von Wünschen, von Glaubensvorstellungen auf die ihr widerfahrene Intoleranz und Zerstörung durch Jordan und leidet noch einmal aktiv, indem sie sich stellvertre- tend für die geschändeten Mumien wehrt.
Franza erblickt überall in Ägypten solch ein Opferdasein und wird eins mit den Leidenden. Durch das Vorführen anderer Opfer erkennt sie ihr eigenes Opfertum. Doch die Erkenntnis kommt zu spät: die Zerstörungen sind schon zu weit fortgeschritten, als daß Franza sich mittels ihrer Erkenntnis zur Heilung verhelfen könnte. Sie stirbt, allerdings nicht, ohne vorher noch einmal rebelliert zu haben. Als sie an der Tempelmauer stellvertretend für Jordan nochmals vergewaltigt wird, sagt sie erstmals nein, allerdings erst hinterher. „Ihr Denken riß ab, und dann schlug sie, schlug mit ganzer Kraft, ihren Kopf gegen die Wand in Wien und die Steiquader in Gizeh und sagte laut, und da war ihre andere Stimme: Nein. Nein.“33
Der exemplarische Fall
Der Fall Franza soll keineswegs die persönliche Geschichte einer Frau erzählen, sondern viel- mehr exemplarisch sein für die Gewaltstrukturen in unserer Gesellschaft. „Es ist davon auszuge- hen, daß der Roman nicht nur ein Psychogramm des Opfers darstellen sollte, sondern auch den Prozeß des Getötet-Werdens, des Gefoltert-Werdens, d.h. das Verbrechen selbst, womit der Fall Franza zum Fall Welt würde.“34 Ingeborg Bachmann möchte darauf aufmerksam machen, daß die Verbrechen der Nazi-Zeit nicht aus der Welt verschwunden sind; sie finden nur auf einer anderen Ebene statt, nämlich der privaten. „Denn es ist heute nur unendlich viel schwerer, Verbrechen zu begehen, und daher sind diese Verbrechen so sublim, daß wir sie kaum wahr- nehmen und begreifen können, obwohl sie täglich in unserer Umgebung, in unsrer Nachbarschaft begangen werden.“35 Die Waffen der Mörder sind Worte und unterlassene Hilfeleistungen der Gesellschaft. „Das Gesellschaftsbild, das die Autorin entwirft, gleicht einem „Mordschau- platz“(...).“36
Um kenntlich zu machen, daß der Fall Franza nur exemplarisch ist, greift Ingeborg Bachmann auf verschiedene Beispiele von Gewaltstrukturen zurück, die sie in den Text einbaut. Da wäre zunächst der faschistische Terror, der immer wieder auftaucht. Jordan wird zum Beispiel im Gaskammertraum Franzas zum faschistischen Täter. Der Fötus soll im Verbrennungsofen vernichtet werden. Franza und Jordan untersuchen die Spätfolgen von KZ-Häftlingen. Franza trifft in Ägypten den ehemaligen KZ-Arzt Körner.
Auch die von Kolonialstrukturen geprägten Völker dienen als Beispiel für Gewaltherrschaft. Hauptsächlich sind hier die Papuas zu nennen, aber auch die Inkas und die Muruten werden erwähnt.
Mit dem Verlagern des Ortes der Handlung in Ägypten ist eine weitere Ebene der Opfer / Tä- ter-Beziehung geschaffen worden. Franza ist gleichzusetzen mit den Mumien und Königin Hat- schepsut, die von den Weißen, ihrem Unverständnis und ihrer Intoleranz geschändet werden. Die Weißen stehen für die Täter. Mit dieser Bezeichnung meint Franza die abendländische Kul- tur, das fortschrittliche, wissenschaftliche, rationale Denken, das nichts neben sich gelten läßt. Die Gesellschaft eben, die Beweise braucht, um einen Mord zu verurteilen, die tatenlos zuschaut und nicht erkennt, wenn jemand in Not ist, die Gesellschaft, die Menschen wie Jordan bewun- dert, ohne zu bemerken, wie krank er ist. Schließlich ist er Arzt, Analytiker noch dazu! Stellver- tretend für die Weißen steht natürlich in erster Linie Jordan. Aber auch der Straftäter an der Pyramide, der fortschrittliche Hoteldirektor, Hotelgesellschaften, Ölkompanien, die Presse und sonstige Medien sind symbolisch für eine rationale, kranke Gesellschaft. Nicht zu vergessen die Archäologen, die die Ruhe der Toten stören.
Mit der Einbeziehung all dieser Ebenen, all dieser Personen versucht Ingeborg Bachmann, die Strukturen unserer Gesellschaft darzustellen und den Fall Franza zum universalen Fall zu ma- chen.
Malina
Das weibliche Ich
Der Roman „Malina“ wird, im Gegensatz zu „Der Fall Franza“, in dem sich die Erzählperspekti- ven abwechseln, von einem Ich-Erzähler erzählt. Dieses erzählende Ich beschreibt sich bereits im Personenverzeichnis, allerdings mit dürftigen Äußerlichkeiten, die mehr verschweigen als auf- klären. Es wird erst klar, daß der Ich-Erzähler eine weibliche Person ist, als von seiner Bezie- hung zu Malina die Rede ist (von dem man anfangs denkt, es handle sich um eine Frau). Der Inhalt des Romans „Malina“ ist keineswegs gewöhnlich: es wird weder eine Geschichte im chro- nologischen Ablauf erzählt, noch wird überhaupt eine Geschichte erzählt. Der Roman hat durch den subjektiven Erzähler vielmehr Tagebuchcharakter. „Abgesehen von der Einleitung und vom Schluß kann der Roman „Malina“ wie eine Art Tagebuch gelesen werden, in dem ein Ich seinen Gefühlen und Gedanken aus einer extrem subjektiven Perspektive heraus Ausdruck zu schaffen versucht.“37 Das weibliche Ich beschreibt seine Gefühle, Gedanken und Handlungen. Dabei ent- scheidet es über die Wichtigkeit des Erlebten und Empfundenen, verschweigt Dinge, manipuliert objektive Sachverhalte. Schon beim Personenverzeichnis wird das deutlich: Malina und Ivan werden sehr unterschiedlich dargestellt. Während der Eindruck entsteht, daß Ivan real existiert („Um keine unnötigen Verwicklungen für Ivan und seine Zukunft heraufzubeschwören (...)“)38, wird Malina sehr geheimnisvoll beschrieben („Aus Gründen der Tarnung (...)“).39 Da alles aus der Wahrnehmung des Ichs dargestellt wird, weiß der Leser nicht, was wirklich ist und was nicht. Das Ich entscheidet, was es wie und wann erzählen möchte, und beschreibt dabei meis- tens seinen subjektiven Zustand. „Die Welt besteht in der Tat nur aus den Empfindungen und der Wahrnehmung des Ich.“40 Die Erzählweise ist also sowohl bewußt gestaltet als auch emoti- onal.
Das weibliche Ich erzählt im Bewußtsein des nahenden Todes. Das wird schon in der Einleitung, im Prolog klar. Der Ich-Erzähler mußte sich die Wahl der Zeit „Heute“ lange überlegen. „Denn Heute ist ein Wort, das nur Selbstmörder verwenden dürften, für alle anderen hat es schlechter- dings keinen Sinn (...).“41 Das weibliche Ich möchte unbedingt an diesem Heute festhalten, da es sonst gezwungen wäre, an die Vergangenheit oder an die Zukunft zu denken. „Ehe gestern und morgen auftauchen, muß ich sie zum Schweigen bringen in mir.“42 In der Zukunft liegt der nahe Tod, in der Vergangenheit jedoch eine verschwiegene Erinnerung. Bei dieser Erinnerung handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Erlebnis. An die kann sich das Ich nämlich erinnern, wie bei- spielsweise der erste Schlag ins Gesicht in der Kindheit. „Es war der erste Schlag in mein Ge- sicht und das erste Bewußtsein von der tiefen Befriedigung eines anderen, zu schlagen.“43 Um all diese gewöhnlichen, wenn auch schmerzhaften Erinnerungen geht es dem Ich nicht. Es ist auf der Suche nach einem unbewußten Teil seiner selbst. Nur durch die Bewußtwerdung dieser ver- schwiegenen Erinnerung kann es wieder zu einer vollkommenen Identität zurückfinden. Denn dem weiblichen Ich ist durchaus bewußt, daß es da noch mehr gibt als es wahrnehmen kann oder will. Es möchte erinnern, um zu einer ganzheitlichen Identität zu gelangen, um vor seinem Tod sein Leben zu klären. „Ein Ich läßt in dem Bewußtsein des eigenen Todes - und das heißt auch in Anbetracht aller möglichen und ‘erlittenen’ Todesarten - sein Leben wie einen Film vor seinem geistigen Auge vorüberziehen.“44 Andererseits hat das weibliche Ich aber auch Angst vor der Erinnerung, da es mit diesem Reflexionsprozeß auf den Tod hin zustrebt. Je mehr es erin- nert, desto näher rückt der Tod.
Das Bewußtwerden der verschwiegenen Erinnerung ist auch gar nicht so einfach. Denn „(...) es stört mich alles in meiner Erinnerung.“45 Einzig Malina ist es, der dem Ich helfen kann, sich zu erinnern. Er versteht das weibliche Ich, was im Laufe des Romans verständlich wird, denn dann wird deutlich, daß das weibliche Ich und Malina eine Person sind. Das führt beim Leser zu einigen Verwirrungen, aber Ingeborg Bachmann wollte gar nicht, daß man sofort weiß, daß es sich bei den beiden Figuren um eine Person handelt.
Das Ich richtet sich also auf der Flucht vor der verschwiegenen Erinnerung einen Schutzraum ein, der zum einen aus der Zeitangabe „Heute“ besteht, zum anderen aus der Ortsangabe „Un- gargassenland“. Dort fühlt sich das weibliche Ich wohl und bricht in Verzweiflung aus, wenn es sein Ungargassenland verlassen muß, wie ein kleines Kind, daß sich verlaufen hat. „Nichts ist mir sicherer als dieses Stück der Gasse (...).“46 Allerdings nützt auch die Ungargasse nichts, wenn sich nicht auch Malina und Ivan darin aufhalten. Dann nämlich wird das Ich unruhig und fühlt sich verlassen. Ivan und Malina sind identitätsstiftend für das weibliche Ich. Es benutzt die beiden als Projektionsfläche seiner selbst. Deshalb sind Ivan und Malina von großer Wichtigkeit für das weibliche Ich. Es definiert sich durch die beiden Männer, wobei beide unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Das weibliche Ich und Ivan
Da die Geschichte, wie oben erwähnt, nur aus der Perspektive des Ichs erzählt wird, ist unklar, was es mit Ivan auf sich hat. Klar ist nur die Bedeutung, die ihm vom weiblichen Ich zugewiesen wird. Ob Ivan wirklich existiert und inwieweit die beiden tatsächlich eine Beziehung führen, ist unsicher. Da Ivan niemals direkt im Text zu Wort kommt, nur in der Erzählung des Ichs, ist es möglich, daß er eine rein imaginäre Gestalt ist. Die Art und Weise, wie das Ich Ivans Handlun- gen beschreibt, seine Haltung der Erzählerin gegenüber, führt zu der Vermutung, daß die Bezie- hung nur für das Ich auf einer so intensiven Basis gelebt wird. Denn während das weibliche Ich Ivan zu seinem Lebensinhalt macht, verhält sich dieser fast gleichgültig ihr gegenüber. Bei der realen Person Ivan kann es sich um eine oberflächliche Bekanntschaft des Ichs handeln, die diese imaginär zu einer leidenschaftlichen, besonderen Liebesbeziehung ausbaut.
Ivan ist für das Ich eine Projektionsfigur. Da die beiden kaum miteinander sprechen, kann das weibliche Ich hervorragend auf Ivan projezieren. Für das Ich ist das allerdings ein Zeichen von tiefgehender Verständigung.
„ Denn in seiner Gegenwart werde ich still, weil die geringsten Worte: ja, gleich, so, und, aber, dann, ach! so geladen sind, aus mir mit einer hundertfachen Bedeutung kommen für ihn, tausendmal mehr bewirkend als die unterhaltsamen Erzählungen, Anek- doten, herausfordernden Wortscheingefechte, die Freunde und Leute von mir kennen (...). “ 47
Sie haben eine eigene Sprache gefunden, mit der sie kommunizieren, verschiedenen Wortgrup- pen, Satzgruppen, beteiligen sich nicht am üblichen Gerede. Da wären zum Beispiel die Telefon- sätze, unvollständige Sätze, die sich auf oberflächliche Themen beziehen. Für das weibliche Ich sind diese Sätze am Telefon von enormer Wichtigkeit, sie liest und deutet sie, interpretiert hinein. Das Telefon und auch Ivan verkörpern für sie einen Kontakt zur Außenwelt, und sie fürchtet permanent, daß dieser Kontakt gestört wird. Wenn Ivan nicht anruft oder einige Tage verreist, verzweifelt das weibliche Ich.
In Ivan sieht sie nämlich ihren Retter, der das Leid von ihr nimmt und zu sich selbst zurückfinden läßt. „Endlich gehe ich auch in meinem Fleisch herum, mit dem Körper, der mir durch eine Ver- achtung fremd geworden ist (...).“48 Durch Ivan findet sie zu einer Sprache zurück, beginnt wie- der zu leben. „(...) und allein dafür müßte ich Ivan die höchsten Auszeichnungen verleihen und die allerhöchste dafür, daß er mich wiederentdeckt und auf mich stößt, wie ich einmal war, auf meine frühesten Schichten, mein verschüttetes Ich freilegt (...).“49 Sie hebt Ivan empor, idealisiert ihn dermaßen, daß er diesen Idealen niemals gerecht werden kann. „Ich lebe in Ivan.“50 Vor allem rechtfertigt Ivans Behandlung ihrer Person diese Idealisierung keineswegs. Er interessiert sich kaum für ihre Arbeit, kritisiert an ihr herum, meldet sich, wann es ihm paßt und sagt ihr so- gar, daß er sie nicht liebt. Aber das Ich erkennt nicht, daß der von ihr geliebte Ivan gar nicht existiert, daß er eine Projektion ihrer selbst ist. Sie hält fest an ihrer Vorstellung von Ivan als dem Allheilmittel, der mit der Liebe gegen die kranke Welt ankämpft. Ivan verkörpert für sie das Ideal, das das weibliche Ich anstrebt: eine ganzheitliche Identität. Er ist eins mit sich selbst, identifiziert sich mit seinem Namen. „Malina und ich haben, trotz aller Verschiedenheit, die glei- che Scheu vor unseren Namen, nur Ivan geht ganz und gar in seinen Namen ein, und da ihm sein Name selbstverständlich ist, er sich identifiziert weiß durch ihn, (...).“51 Ivan ist ungebrochen. Sein Name ist gleichzeitig ein Anagramm für „naiv“. Naiv ist er in seiner einfältigen Darstellung, der voll und ganz die Rolle des Mannes im Patriarchat erfüllt. Naiv ist er aber auch in der Hand- habung des Ichs, daß nicht wahrhaben will, daß sein Liebesobjekt ein imaginäres ist.
Das weibliche Ich flüchtet vor ihrer verschwiegenen Erinnerung. Indem es Ivan zu seinem einzigen Gedankeninhalt macht, braucht es sich nicht mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ivan heilt das Ich keineswegs, er lenkt es nur von seiner Erinnerung ab.
„ (...) denn mit seinen Blicken mußIvan erst die Bilder aus meinen Augen waschen, die vor seinem Kommen auf die Netzhaut gefallen sind, und nach vielen Reinigungen taucht dann doch wieder ein finsteres, furchtbares Bild auf, beinah nicht zu löschen, und Ivan schiebt mir dann rasch ein lichtes darüber (...). “ 52
Ivan ist es, der das Ich in seiner Erinnerung stört.
Aber das weibliche Ich läßt sich gerne von dieser schrecklichen Erinnerung ablenken. Es geht ganz in seiner Rolle als liebende, unterwürfige Frau auf. Alle Gedanken drehen sich um Ivan, sie richtet ihm das Essen an, tut alles, um ihm zu gefallen, seinen Ansprüchen zu genügen. Diese übersteigerte Liebe ist alles, was zählt. Für das weibliche Ich ist das Verhältnis zu Ivan wie eine Symbiose, obwohl er nicht alles von ihr weiß, zum Beispiel von der Existenz Malinas, und sie nicht über alles mit ihm sprechen kann. „Ivan und ich: die konvergierende Welt.“53 In dieser Welt verkörpert Ivan den perfekten, rationalen, patriarchialen Mann, der über die Frau als sein Objekt verfügt. Er liebt das weibliche Ich nicht, es ist nur ein weiterer Beweis seiner Macht. Das symbolisieren die Schachspiele, die die beiden miteinander spielen. Ivan spielt, im wörtlichen Sinne, mit dem Ich. „(...) warum sage ich Spiel? warum denn bloß, es ist kein Wort von mir, es ist ein Wort von Ivan (...).“54 Für ihn ist die Beziehung ein Kampf, in dem nur er siegen darf. Das Ich erfüllt die Rolle der bedingungslos liebenden Frau, gibt sich fast selbst auf für Ivan. Das Schminken, Zurechtmachen sind einerseits Zeichen für das Gefallen-Wollen, andererseits Zei- chen für eine Maskierung, hinter der sich das wirkliche Ich versteckt.
Aber mit der Zeit erkennt das Ich, daß es sich bei Ivan nicht um den ersehnten, geliebten Mann handelt, wie er in der Prinzessin-von-Kagran-Legende beschrieben wird. Ivan ist nicht der Ret- ter, die in der Legende prophezeite Hoffnung auf ein gutes Ende erfüllt sich nicht. Das Ich merkt, daß Ivan ihre Erinnerung stört, die Erinnerung, von der es so wichtig ist, sie aufzuarbeiten, um zu sich selbst zu finden. Das weibliche Ich hat die Wahl, sich in ihrer scheinbaren Liebe zu Ivan aufzugeben, vor ihrer Erinnerung zu fliehen, oder aber sich von Ivan zu trennen, die Erinnerung zuzulassen und damit ihrem Ende zuzustreben. Es entscheidet sich gegen Ivan und für sich selbst. In dem Moment, in dem das Ich sich von Ivan innerlich löst, ist es bereit, sich der verschwiegenen Erinnerung zu nähern. „Ich sage: Ich interessiere mich, es fängt an, mich zu interessieren.“55 Für den Erkenntnisprozeß braucht es Malina.
Die Träume
Die verschwiegene Erinnerung des weiblichen Ichs befindet sich im Unbewußten. Sie wird ins Bewußtsein geholt mittels Träumen. In diesen gibt es keinen festen Ort, kein heute, nichts, wor- an sich das Ich klammern kann. „Der Ort ist diesmal nicht Wien. Es ist ein Ort, der heißt überall und nirgends. Die Zeit ist nicht heute. Die Zeit ist überhaupt nicht mehr, denn es könnte gestern gewesen sein, lange her gewesen sein, es kann wieder sein, immerzu sein, es wird einiges nie gewesen sein.“56 Das weist auf die Universalität der Träume hin, auf das kollektive Unbewußte. Sind die Träume anfangs noch wirr für das Ich, so werden sie im Laufe der Zeit immer konkre- ter. Mit Hilfe von Malina begreift das weibliche Ich, was die Träume ihr sagen wollen. Er ist der männliche Teil in ihr, verkörpert Rationalität und Macht. Malina steht ihr in dieser schwierigen Phase bei, ist für sie da und hilft beim Entschlüsseln des Geträumten. Spricht sie anfangs zögernd von den Träumen und will nicht erkennen, so wird die Erkenntnis und der Wunsch, darüber zu erzählen, immer drängender.
Die Aussagen der Träume werden mit der Zeit deutlicher. Zentral ist die Figur des Vaters. Er quält seine Tochter auf die verschiedensten Arten und Weisen. Der Vater zeigt ihr Schreckliches wie den Friedhof der ermordeten Töchter, er hält sie gefangen, mißhandelt sie, raubt ihr die Sprache und alles, was ihr wichtig ist, schneidet sie von der Umwelt ab, zwängt sie in Rollen, die sie zu erfüllen hat, tötet sie. Der Vater hat Macht über alles und jeden.
Das weibliche Ich reagiert auf unterschiedliche Arten. Manchmal fühlt es sich schuldig, schützt den Vater und verwischt seine Spuren. Das weibliche Ich ist untertäniges Opfer der väterlichen Macht. Unterstützt wird es dabei von der Mutter, die ihm nicht zur Hilfe eilt, sondern tatenlos zusieht, wie der Vater es quält. Auch Melanie, die Geliebte des Vaters, ist gefügiges Objekt.
Diese Frauen verkörpern die Rolle der Weiblichkeit im Patriarchat. Sie sind austauschbar, Ob- jekte des Mannes, haben keinen eigenen Willen. Passiv fügen sie sich dem männlichen Prinzip. Dann gibt es Situationen, in denen das weibliche Ich sich zwar fügt, aber nicht ohne Widerwillen. Es erfüllt seine Rolle, weil es keine andere Möglichkeit hat, weil das weibliche Ich sich nicht aus dem Machtbereich des Vaters befreien kann.
In den letzten Träumen leistet das Ich aber auch Widerstand. Es bedroht den Vater, beschimpft ihn. „Jetzt weiß er, daß ich kein Gefühl mehr habe für ihn und daß ich ihn töten könnte.“57 Die- sen Widerstand kann das Ich erst leisten, nachdem es erkannt hat, was der Vater ihm angetan hat und vor allem, daß der Vater nicht nur den realen Vater verkörpert. Das Ich entzieht sich dem Herrschaftsbereich des Vaters mit der Erkenntnis darüber, wer er ist, aber vor seiner All- macht kann es niemals fliehen.
„’Es’ ist nicht der reale Vater, ‘Es’ ist die Personifikation einer uneingeschränkt herrschenden und tötenden Instanz, die die Existenz der Ich-Figur bedroht.“58 Der Vater symbolisiert die Macht der herrschenden Ordnung, die das Ich ermordet. Das Ich wird in eine Rolle gezwungen, die ihm fremd ist. Es muß seine Eigenständigkeit, seine Weiblichkeit, seine Emotionalität aufge- ben, um in der Gesellschaft existieren zu können. Daran scheitert es. Der Vater ist der Mörder des weiblichen Ichs.
Die Figur des Vaters kann auf mehreren Ebenen gesehen werden. Zum einen zeigt er das Verhältnis Vater / Tochter. Die Tochter unterliegt der väterlichen Autorität. Ihre Identität bildet sich aufgrund der Beziehung zum Vater, er formt sie, unterdrückt sie.
Zum anderen spiegelt die Vaterfigur das Verhältnis Mann / Frau wider. Auch hier herrscht eine patriarchale Ordnung. Der Mann ist im Besitz der Macht, er beherrscht die Welt, während die Frau nur eine passive Position innehat. Für den Mann ist sie nur ein Objekt, das seine Macht stärkt. Sie erfüllt die Rolle, die ihr zugedacht ist.
Des weiteren ist die Vaterfigur Symbol für das Verhältnis Gesellschaft / Individuum. Die Gesell- schaft, vom Ich als anonyme, bedrohliche Masse wahrgenommmen, bestimmt die Regeln, nach denen sich das Individuum zu richten hat. Sie entscheidet, wer gut und böse, was richtig und falsch ist. Das Individuum hat sich zu fügen, muß sich anpassen, um zu überleben. „Es ist immer Krieg. Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf. Es ist der ewige Krieg.“59 Dieser universa- le gesellschaftliche Kampf wird verdeutlicht an der unbestimmbaren Zeit und dem unbestimmba- ren Ort der Träume sowie den geschichtlichen Verweisen auf den zweiten Weltkrieg und der Judenvernichtung.
„Das Traumkapitel ist die Geschichte einer Vergewaltigung: der Vergewaltigung der Frau durch den Mann, des Individuums durch die Gesellschaft und des sprechenden Subjekts durch die ihm auferzwungenen Sprach- und Seinsformen.“60 Das Ich unterwirft sich einer ihm fremden Ordnung, der Macht des Anderen. Dabei wird es auf mannigfaltige Arten ermordet. Nun, da das weibliche Ich seine verschwiegene Erinnerung, nämlich die des männlichen Mörders, freigelegt hat, erkennt es die andere Hälfte seiner Selbst, Malina. Es muß sich mit ihm auseinandersetzen, da auch Malina das männliche Prinzip verkörpert.
Das weibliche Ich und Malina
Das erzählende Ich und Malina bilden zusammen eine Person, wobei das Ich die weibliche und Malina die männliche Hälfte verkörpert. Das weibliche Ich ist durch seine Träume dazu gebracht worden, Malina anzuerkennen. Nur durch Malina ist die Loslösung von Ivan und somit die Aufgabe von Projektionen und die damit verbundene Erkenntnis seiner selbst möglich gewesen. Malina als das männliche Prinzip hat das Ich mittels seiner Ratio zum Denken und damit zum Erkennen geführt. „Durch das Denken kommt der Mensch zu sich selbst (...).“61 Malina wird dabei immer stärker. Hält er sich anfangs noch zurück, so drängt er bald das weibliche Ich immer stärker seinem Erkennen und damit seinem Ende hin zu.
Die Dialoge, die die beiden miteinander führen, veranschaulichen die Dramatik zwischen den beiden. Eigentlich sind es gar keine richtigen Dialoge, da Malina und das Ich ein- und dieselbe Person sind. Es handelt sich vielmehr um einen inneren Monolog, der dadurch, daß die Person gespalten ist, zu einem inneren Dialog wird. Die musikalischen Anweisungen verdeutlichen die Spannung zwischen den beiden.
Das weibliche Ich erkennt, daß Malina die andere Hälfte ist, die es auch schon lange vor ihr gegeben hat, das männliche Prinzip, das Leid über die Menschen bringt. Und da Malina jegli- ches Weibliche fehlt, jede Emotionalität, weil sich diese Eigenschaften ja im weiblichen Ich be- finden, verkörpert er das Männliche, Rationale schlechthin. Das weibliche Ich erkennt die Un- möglichkeit für beide, in Frieden miteinander zu leben, dafür sind sie zu verschieden. Malina ist zu stark, zu mächtig in seinem überlegenen Denken. Er kann das Ich manipulieren. Das weibliche Ich versucht nun, Malina zu provozieren.
„ (...) man könnte sagen, die ganze Einstellung des Mannes einer Frau gegenüber ist krankhaft, obendrein ganz einzigartig krankhaft, so daßman die Männer von ihren Krankheiten gar nie mehr wird befreien können. Von den Frauen könnte man höchstens sagen, daßsie mehr oder weniger gezeichnet sind durch die Ansteckungen, die sie sich zuziehen, durch ein Mitleiden an dem Leiden. “ 62
Doch Malina findet solche Provokationen eher belustigend. Das Ich versucht nun, Malina zu bekämpfen, sie streiten immer heftiger. Das Ich erfindet Geschichten, in denen Malina ums Le- ben kommt. Es möchte Malina umbringen, scheitert aber. In Wirklichkeit ist es das weibliche Ich, das stirbt.
Malina, der sonst eher ruhig und besonnen war, fängt an, das Ich aufzuhetzen. Er sagt dem weiblichen Ich, daß es nicht gebraucht wird. „Du wirst dich nicht mehr brauchen. Ich werde dich auch nicht mehr brauchen.“63 Das weibliche Ich, das erkennt, daß seine ganzheitliche Iden- tität, zusammen mit Malina, nicht den ersehnten Frieden bringt, läßt sich langsam auf Malinas Gedanken ein. Er versucht, dem Ich klarzumachen, daß seine Existenz unnütz und überflüssig sei. „Weil du dir nur nützen kannst, indem du dir schadest. Das ist der Anfang und das Ende aller Kämpfe. Du hast dir jetzt genug geschadet. Es wird dir sehr nützen. Aber nicht dir, wie du denkst.“64 Das Ich hat all die Verletzungen, all die Morde in den Träumen nochmals erlebt und verarbeitet. Es ist lebensunfähig durch die vielen Zerstörungen geworden. Durch die anstrengen- de Traumarbeit und den Kampf mit Malina müde geworden, sehnt sich das weibliche Ich nach Ruhe und Frieden. Malina verspricht ihr diesen Frieden, wenn sie sich aufgibt. „Was du willst, zählt nicht mehr. An der richigen Stelle hast du nichts mehr zu wollen. Du wirst dort so sehr du sein, daß du dein Ich aufgeben kannst. Es wird die erste Stelle sein, auf der die Welt von je- mand geheilt ist.“65
Die Spaltung und die Möglichkeit des Verschwindens wird symbolisiert durch den Riß in der Wand. Das weibliche Ich beschreibt ihr Verhältnis zu Malina auch als die divergierende Welt. Die Feindseligkeit, die sich zwischen den beiden immer mehr verstärkt, machen das Leben für das weibliche Ich unerträglich. Sie hat nichts mehr, woran sie sich festhalten kann. Nachdem Ivan aus ihrem Leben verschwunden ist, verläßt Malina sie nun auch. Das Ich ist verzweifelt.
„ Ich stehe auf und ich denke, wenn er nicht sofort etwas sagt, wenn er mich nicht aufhält, ist es Mord, und ich entferne mich, weil ich es nicht mehr sagen kann. Es ist nicht mehr ganz furchtbar, nur unser Auseinandergeraten ist furchtbarer als jedes Aneinandergeraten. Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina. “ 66
Das Ich verschwindet im Riß, geht in die Wand ein und verstummt für immer. Malina ist aller- dings nicht derjenige, der das weibliche Ich getötet hat. Er ist es nur, der ihr all ihre Verletzun- gen, ihre Lebensunfähigkeit aufgezeigt hat. Das Ich muß verschwinden, weil sonst die Person als Ganzes nicht existieren kann. In der Gesellschaft kann nur derjenige überleben, der es schafft, Teile seiner Identität zu verleugnen zugunsten der Vernunft. Das weibliche Ich verkörpert diese lebensunfähigen Gefühle und Gedanken, das kollektive Gedächtnis, reine Emotionnalität. Mali- na, die Rationalität und die Vernunft, bleibt. „ Malina thematisiert nichts anderes als den Sieg der Vernunft über die Unmündigkeit, was einhergeht mit dem Verlust eines Teils der Identität.“67
Das Verbrechen am weiblichen Ich
Das weibliche Ich als emotionale Hälfte einer Person verstummt. Die Gründe dafür sind zahl- reich.
Zum einen verkörpert dieses weibliche Ich so etwas wie ein kollektives Unbewußtes. In diesem unbewußten Teil, einer Art kulturellem, kollektiven Gedächtnis, sind all die schrecklichen Erfah- rungen der Menschheitsgeschichte gespeichert. Das wird deutlich im Traumkapitel, in welchem klar beschrieben wird, daß die Träume in keiner Zeit, an keinem Ort spielen, also universal gül- tig sind. Die häufigen Verweise auf die Judenvernichtung sollen den geschichtlichen Aspekt, das kollektive Gewissen verdeutlichen. Auch die Unterdrückung der Frau durch den Mann, der Tochter durch den Vater ist ein Thema, das sich durch die Geschichte zieht.
Mit all diesen negativen Einschreibungen im Unbewußten möchte sich niemand auseinandersetzen. Sie sind schmerzhaft, und würden sie ständig präsent sein, könnte man nicht weiterleben. Die Last würden einen zerstören. Das weibliche Ich setzt sich mit dieser Erbschuld auseinander. Malina, der rationale Teil, der Teil, den die Gesellschaft zu sehen wünscht, möchte nicht mehr mit diesen Erinnerungen konfrontiert werden. Er bringt das Ich dazu, sie aufzuarbeiten, damit es erkennt, daß man unter dieser Last nicht existieren kann. Mit dem Verschwinden des weiblichen Ichs kann Malina ungestört weiterleben.
Das weibliche Ich möchte sich anfangs gar nicht erinnern. Es weiß einerseits, daß diese Erinne- rungen sehr schmerzhaft sind, andererseits spürt es auch, daß es danach nur noch den Tod ge- ben kann. Bei den Erinnerungen handelt es sich um übersteigerte Darstellungen einer allmächti- gen Vaterfigur. Er steht für den Zwang der herrschenden Gesellschaft, für den Mann, aber auch für den Vater.
Der Druck der herrschenden Gesellschaft, dem auch Malina unterliegt, zwingt jedes Individuum, sich anzupassen und dafür den Verlust von unerwünschten Teilen in Kauf zu nehmen. Der Mann oder besser das männliche Prinzip steht für Rationalität, für die Macht, die durch die Emotionslosigkeit und kühle Berechnung entsteht. Frauen oder das weibliche Prinzip unterliegen, da sie durch ihre Emotionalität verletzlich, angreifbar und abhängig sind. Abhängig von der Lie- be, von ihren Gefühlen, durch die sie zum Opfer des Mannes werden. Für ihn sind sie nur Ob- jekte, austauschbar, und dienen der Unterstützung und Erhaltung seiner Macht. Der Vater ist als Autorität und erstes Liebesobjekt der Tochter identitätsstiftend für diese. Er verkörpert Liebe, Gewalt und Abhängigkeit zugleich. Die Tochter richtet sich bei der Bildung ihrer Identität nach diesem für sie so wichtigen Menschen, fügt sich in die ihr zugedachte Rolle. Tut er ihr Gewalt, sei sie physisch oder psychsich, an, wie in den Träumen des weiblichen Ichs, ist diese Gewalt und die Angst vor dem männlichen Geschlecht Zeit ihres Lebens tief in ihr ver- wurzelt.
Der Schuldaspekt in den Träumen verdeutlicht die Passivität der Frau. Sie kann nicht aus ihrer Rolle fliehen, unterstützt somit all die Grausamkeiten, die im Namen der männlichen Macht ver- übt werden. Sollte sie es doch einmal schaffen, sich von der Opferrolle loszulösen, so hat sie dennoch nicht die Macht, das männliche Prinzip zu stürzen. Um das zu bekämpfen, müßte sie sich den gleichen Mitteln wie der Männer bedienen, was unmöglich ist, da die Frauen aufgrund ihrer Emotionalität nicht in der Lage sind, dieselben Grausamkeiten wie die Männer zu begehen. Das weibliche Ich ist also zum Scheitern verurteilt, einerseits aufgrund der ihm innewohnenden Erinnerung, andererseits, weil Malina stärker ist als das Ich.
Schlußwort
Die Zerstörung des Weiblichen weist bei Franza und beim weiblichen Ich große Ähnlichkeiten auf. Beide leiden sie an einer unerwiderten Liebe, Franza an Jordan und das weibliche Ich an Ivan. Beide verkörpern das weibliche Prinzip, das sie zu Opfern macht. Sie sind gefühlvolle Menschen, unreflektiert bzw. nur zur Reflexion mit Hilfe anderer fähig. Beiden fällt es schwer, sich mit ihrer Zerstörung auseinanderzusetzen. Dieser Erkenntnisprozeß läuft über Träume ab. Sowohl Franza als auch das weibliche Ich sind in dieser Gesellschaft nicht überlebensfähig auf- grund ihrer Andersartigkeit, ihrer fehlenden Rationalität. Beide Figuren sind ebenfalls in einem geschichtlichen Rahmen zu sehen, symbolisieren Opfer der herrschenden Gesellschaftsstruktur. Diese vernunftregierte Gesellschaft ermordet Franza und das weibliche Ich.
Aber während Franza die reine Weiblichkeit und Jordan das reine männliche Böse verkörpern und sie somit ungebrochene, eindeutige Charaktere sind, hat Ingeborg Bachmann mit der Dop- pelfigur weibliches Ich/Malina eine gespaltene Person geschaffen. Ich vermute, das ist der Grund dafür, daß Ingeborg Bachmann die Figur Jordan nicht ausbauen konnte und daran krankte auch die Fertigstellung des „Fall Franza“. Sie hätte Kenntnisse über die Denkstrukturen solcher Menschen haben müssen, sich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Diese Reinformen männlicher und weiblicher Prinzipien existieren aber nicht. Auch könnte bei „Der Fall Franza“ leicht der Eindruck entstehen, alle Frauen seien die armen Opfer, und alle Männer brutale, ge- fühlskalte Täter. Das auszudrücken entspricht aber nicht Ingeborg Bachmanns Absicht.
Deshalb hat sie, so vermute ich, in „Malina“ eine Figur geschaffen, die sowohl männliche als auch weibliche Anteile enthält, wie es der Wirklichkeit entspricht. Diese Anteile kämpfen ständig miteinander, und das wird in „Malina“ hervorragend dargestellt. Daß in der Gesellschaft unser Handeln von der Vernunft, vom Verstand bestimmt ist, wird deutlich sichtbar. Auch kommt sie vom individuellen Schicksal wie im „Fall Franza“, das sie zwar versucht mittels geschichtlicher Bezüge allgemeingültiger zu machen, weg. Das weibliche Ich ist als Person nicht faßbar. Die geschichtlichen, kollektiven Einschreibungen, die den Roman auf die Gesellschaft übertragbar machen, sind im Traumkapitel gut ausgearbeitet.
Unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten ist der Roman „Malina“ gut gelungen, er erfüllt voll die Ansprüche und Absichten Ingeborg Bachmanns. Aus Lesersicht jedoch ist „Der Fall Franza“ meiner Meinung nach weitaus ansprechender. Die ganzen Verwirrungen um die Person weibliches Ich / Malina machen das Verstehen von „Malina“ schwer, und auch, was es nun mit der verschwiegenen Erinnerung auf sich hat, wird erst nach einigem „Herumrätseln“ klar. Dage- gen ist „Der Fall Franza“ eine nach alten Mustern erzählte Geschichte, leicht verständlich ge- schrieben. Als Leserin kann man sich hervorragend mit Franza identifizieren, sie ist keine abs- trakte Konstruktion wie das weibliche Ich. Ich persönlich finde den „Fall Franza“ besser lesbar, aber die allgemeingültige Zerstörung des Weiblichen ist in „Malina“ gelungener dargestellt.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979
Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971
Sekundärliteratur:
Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Materialien zum Blockseminar vom 18.-20. Mai 1984 in Basel
Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Königshausen + Neumann Würzburg 1992
Ortrud Gutjahr: Fragmente unwiderstehlicher Liebe, Königshausen + Neumann Würzburg 1988
Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1990
Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988
[...]
1 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 51
2 ebd., S. 24
3 ebd., S. 26
4 Ortrud Gutjahr: Fragmente unwiderstehlicher Liebe, Königshausen + Neumann Würzburg 1988, S. 80
5 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 45
6 ebd., S. 67
7 Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988, S. 46
8 ebd., S. 46
9 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 84
10 ebd., S. 44
11 ebd., S. 51
12 ebd., S. 52
13 ebd., S. 70
14 Ortrud Gutjahr: Fragmente unwiderstehlicher Liebe, Königshausen + Neumann Würzburg 1988, S. 108
15 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 27
16 ebd., S. 76
17 ebd., S. 73
18 ebd., S. 81
19 edb., S. 77
20 ebd., S. 74
21 Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988, S. 57
22 ebd., S. 61
23 ebd., S. 62
24 ebd., S. 62
25 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 73
26 ebd., S. 78
27 Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988, S. 66
28 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 78
29 Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988, S. 65
30 ebd., S. 69
31 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 71
32 ebd., S. 84
33 ebd., S. 142/143
34 Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Königshausen + Neumann Würzburg 1992, S. 54
35 Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza / Requiem für Fanny Goldmann, Suhrkamp Verlag München 1979, S. 8
36 Eva Christina Zeller: Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1988, S. 73
37 Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1990, S. 27
38 Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971, S. 7
39 ebd., S. 7
40 Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Königshausen + Neumann Würzburg 1992, S. 96
41 Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971, S. 9
42 ebd., S,. 155
43 ebd., S. 22
44 Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1990, S. 49
45 Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971, S. 24
46 ebd., S. 13
47 ebd., S. 57
48 ebd., S. 34
49 ebd., S. 34
50 ebd., S. 43
51 ebd., S. 86
52 ebd., S. 30
53 ebd., S.129
54 ebd., S. 47
55 ebd., S. 178
56 ebd., S. 181
57 ebd., S. 245
58 Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1990, S. 111
59 Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971, S. 247
60 Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich, Verlag Peter Lang Frankfurt am Main 1990, S. 127
61 Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Königshausen + Neumann Würzburg 1992, S. 155
62 Ingeborg Bachmann: Malina, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, S. 283
63 ebd., S. 309
64 ebd., S. 328
65 ebd., S. 330
66 ebd., S. 354
67 Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Königshausen + Neumann Würzburg 1992, S. 155
- Quote paper
- Christiane Pönitzsch (Author), 1999, Die Zerstörung des Weiblichen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103488
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