Franz Kafka „Das Urteil“
Lesart
Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, sitzt über einem Brief an einen im Ausland lebenden Jugendfreund. Er macht sich Gedanken über das nicht so recht laufende Ge- schäft des Freundes, dessen finanziellen Ruin und Junggesellendasein. Georg Bende- mann weiß nicht so recht, was er dem Freund mitteilen soll; so beschränkt er sich auf Belanglosigkeiten, gedanklich dennoch darauf orientierend, ihm zu raten und Hilfe anzu- bieten.
Während sich in den letzten drei Jahren für den Freund in Rußland keinerlei Verände- rungen (geschäftlicher und privater Art) ergaben, wurde Georgs Leben vom Tod der Mutter , unerwartetem geschäftlichen Erfolg und einer ernstzunehmenden Liebelei ge- prägt.
Doch davon kann der weit entfernte Freund nichts wissen, weil Georg ihm diese Information vorenthält.
So berichtet er von für den Freund unbekannten Personen, die sich verlobten, ohne von seiner eigenen Leierung zu schreiben Georg rechtfertigt das Vorenthalten seiner zukünftigen Braut mit Formulierungen wie „nicht stören wollen, würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, mich beneiden, unzufrieden sein.“ Durch die banale Aussage : „So bin ich und so hat er mich hinzunehmen,“ versucht er sein Verhalten zu rechtfertigen und macht sich damit doch nur lächerlich und unglaubwürdig.
Nach diversen Andeutungen teilt er dem Freund in diesem besagten Brief ganz nebenbei bemerkt mit, daß er sich verlobt hat, beschneidet dennoch gleichzeitig auf diesem Wege die Möglichkeit einer Einladung. Seine Braut wird ihm auch so zur aufrichtigen Freundin werden, indem sie mit dem Freund, den sie nicht kennt und wahrscheinlich nie kennenlernen wird, genauso belanglos korrespondieren wird.
Nachdem der Brief beendet ist, besucht Georg den Vater in dessen Zimmer, um diesem mitzuteilen, daß er dem Freund die bevorstehende Hochzeit angezeigt hat.
Schon längere Zeit, so fällt Georg auf, hat er nicht mehr in den Räumlichkeiten des Va- ters verkehrt, denn nichts scheint ihm vertraut, selbst der eigene Erzeuger nicht. Diese spürbare Entfremdung bewahrheitet sich, denn der Vater beginnt, angeblich merkwürdi- ge Fragen über den Freund in Petersburg zu stellen. Georg muß so zu der Annahme kommen, daß der Vater alt und senil geworden ist und unbedingt seine Hilfe und Unter- stützung braucht, außerdem plagen ihn die Selbstvorwürfe, den Vater vernachlässigt zu haben.
Für den Vater ist endlich der Augenblick gekommen, dem Sohn zu sagen, wie sein persönliches Verhältnis zu dem Petersbuger Freund ist, daß dieser ein Sohn nach seinem Geschmack wäre und daß aus diesem Grund sein eigener Sohn diesen angeblich so guten Freund all die Jahre betrogen hat.
Georg vergaß über geschäftlichem Erfolg und dem Verliebtsein Vater und Freund, was ihm jetzt in aller Strenge vorgehalten wird. „Ich bin noch immer der viel Stärkere,“ da- mit beweist der Vater nach wie vor seine Stellung und Georg muß ihm, völlig überrascht von dessen Wandel und anfangs widerwillig, den gewünschten Respekt entgegenbrin- gen. Georg muß zur Kenntnis nehmen, daß Vater und Freund seit Jahren in engem Briefkontakt stehen, daß der Vater ohne Umschweife und Beschönigungen über Georg berichtet, und daß dies der Grund ist, warum der Freund gar nicht nach Deutschland zu ihm kommen will.
Nicht der Vater ist in diesem Moment die schwache, gebrechliche Kreatur, sondern Georg scheint förmlich in sich zusammenzubrechen. Hilflos und völlig irritiert wünscht er dem Vater jegliches Übel, und versucht sich aus dieser für ihn doch sehr peinlichen Situation mit allen Mitteln herauszukatapultieren.
Der Vater spricht sein hartes Urteil und ohne eine Gegenwehr wird es von Georg befolgt. Es zieht ihn zum Wasser, in welchem er, ganz dem Wunsche des Vaters entsprechend, zu Tode kommt. Sein letzter Gedanke gilt den Eltern.„Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt.“
Franz Kafka „Die Verwandlung“
Lesart
Erzählt wird die merkwürdige Begebenheit des Geschäftsreisenden Gregor Samsa, der sich eines Morgens in ein schreckliches Ungeziefer verwandelt hat. Das regnerische Wetter unterstreicht seine ohnehin schon melancholische Stimmung, so daß er entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in der vertrauten Wärme seines Bettes bleibt. Nachdem entdeckt wird, daß Gregor noch nicht aus dem Haus ist, beschwören ihn nacheinander Mutter, Schwester, Vater und Prokurist inständig, die Tür zu öffnen. In seinem neuen Körper gefangen, gibt sich Gregor alle erdenkliche Mühe, den Aufforde- rungen nachzukommen, obwohl er die Reaktionen auf seine neue Gestalt scheut. Da er mit dem Verlust der menschlichen Gestalt auch seine Stimme verloren hat, ist eine Kommunikation nicht mehr möglich, später auch nicht mehr erwünscht. Nachdem nun endlich nach vielen beschwerlichen Versuchen die Tür von Georg geöff- net werden kann, erblickt man ihn mit wachsendem Entsetzen, worauf er möglichst rasch und brutal vom Vater in sein Zimmer zurückkatapultiert wird. Von nun an versorgt ihn die geliebte Schwester, deren anfängliches Mitleid schnell in angewiderte Pflicht umschlägt.
Georg legt das gesamte Verhalten der Familie immer wieder als Güte, Geduld und fast grenzenlose Rücksichtnahme aus, obwohl deutlich zu spüren ist, daß gegen ihn mit Gewalt, Brutalität und Entmündigung vorgegangen wird.
Gregor, der Ernährer der Familie, fällt als Geldgeber und einziger Verdiener völlig aus und wie durch ein Wunder ist der alte, schwerfällige Väter plötzlich in der Lage, wieder berufstätig zu werden, die Mutter näht und besorgt die Wäsche für Andere, und die Schwester arbeitet als Verkäuferin und bildet sich abends in Sprachen weiter. Außer- dem existiert ein bescheidenes Vermögen, das wahrscheinlich für den Notfall zurück- gehalten wurde.
Das Familienleben scheint normal weiterzugehen- auch ohne Georg. Fast unmerklich wird sein „Lebensraum“ immer mehr beschnitten und eingegrenzt. Vertrautes Mobiliar wird entfernt, unbrauchbare Gegenstände und Müll bei ihm abgeladen. Die Familie sieht sich gezwungen, drei Herren zur Untermiete aufzunehmen, um die nun doch eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten etwas aufzubessern. Man lauscht eines Abends der talentierten Schwester Grete beim Violinenspiel, welches als sehr gekonnt und angenehm empfunden wird. Gregor, nun schon fast völlig verges- sen, vereinsamt und fremd in seiner eigenen Familie, kriecht geschwächt aus seiner Be- hausung hervor, denn gelegentlich erlaubt man ihm den ungesehenen Blick ins abendlich gemütliche Wohnzimmer. Dankbar für dieses Zugeständnis, das ein bißchen Abwechs- lung in sein sonst so tristes Dasein bringt, lauscht er der Musik und träumt sich weit weg. Er muß entdeckt werden, denn eine solche Labung kann einem Ungeziefer einfach nicht zustehen. Für die Gäste und somit Nichteingeweihten wird er gleichzeitig zum Objekt der Neugier und des Ekels.
Das Hauptgesprächsthema der Familie dreht sich fortan nur noch darum, wie man „es“ loswerden könnte, denn die Herren wurden durch seine Anwesenheit schon vertrieben und solche finanziellen Einbußen kann man sich einfach nicht mehr leisten Diesem Gefallen kann Gregor nachkommen; er stirbt vereinsamt, traurig und vergessen. Sein letzter Gedanke gilt seiner Familie, die ihrerseits froh und erleichtert ist, das Untier los zu sein. Man begeht Gregors Todestag im Kreise der Familie mit einem ausgedehnten, befreienden Spaziergang. Eine wahre Erleichterung ist zu spüren, und endlich bemerkt man, daß die Tochter, als nunmehr einziges Kind, erwachsen geworden ist.
Vater - Sohn - Konflikt
Allgemeine Begriffsbildung
Beim Vater - Sohn - Konflikt handelt es sich ganz einfach um einen Machtkampf, der ausbricht, wenn die junge Generation zu Selbständigkeit herangereift ist, die alte aber die Herrschaft noch in Händen hält und auch dazu die Fähigkeit besitzt, sie auszuüben. Normalerweise fügt sich der Junge in die Abhängigkeit, bis der Alte willens oder durch Schwäche gezwungen ist, abzutreten. Ob die zwangsläufigen Reibungen zum offenen Konflikt führen, hängt vom Temperament der Beteiligten, dem geltenden Sittengesetz und den sozialen Gegebenheiten ab; der Kampf eines gegen den anderen ist jedenfalls kein Naturgesetz. Ei nahezu allen Kulturnationen mit vaterrechtlicher Prägung gilt im Gegenteil liebevolle Fürsorge auf der einen, pietätvoller Gehorsam auf der anderen als naturgemäß. „Vater“ ist die häufig verwendete Beifügung für Gottheiten und Staatsober- häupter, Streit zwischen Vater und Sohn erscheint abnorm. Interessant ist auch die Be- obachtung, daß nur der sich ungekränkt seiner Herrschaft erfreuende Vater die Gegner- schaft des Sohns herausfordert, während in ihrer Ehre gekränkte, verfolgte, mißachtete, tote oder fern vom Sohn lebende Väter die liebende Verehrung des Sohns erregen.
Die Beziehungen zwischen Vater und Sohn erleiden meist erst in der Zeit des Reifens der jungen Generation Störungen: Jetzt erst erkennt der Vater, daß der Sohn nicht so wurde, wie er ihn sich erhoffte, und der Sohn begreift, daß der Vater nicht dem Ideal seiner Kindertage entspricht. Je größer die Liebe des einen oder des anderen Partners oder beider war, um so größer ist die Enttäuschung und Erbitterung. Ähnlichkeit der Charaktere kann genauso zur Feindschaft führen wie deren Gegensatz, und Ähnlichkeit der Temperamente bei Verschiedenheit der Begabungen ist ebenso gefährlich wie Un- gleichheit der Temperamente bei Gleichheit der Begabungen. Die Unähnlichkeit kann auf Erbfaktoren von mütterlicher Seite beruhen; nicht immer sind Charakterzüge, die bei der Ehefrau reizvoll waren, beim Sohn willkommen, und oft waren als fremd empfundene Züge auch schon an der Mutter nicht gern gesehen. Treten geistesgeschichtliche Umwäl- zungen zwischen die Generationen, bei denen sich der Junge in der Regel dem Neuen anschließt, so verstärkt sich die Kluft und erweitert sich zur weltanschaulichen und politi- schen Gegnerschaft. Dabei fällt dem Vater als dem an Erfahrung reicheren die größere Last zu, denn er muß das Alte gegen das Neue abwägen, während der Sohn nur das mit ihm und seinen Altersgenossen heraufgekommene Neue sieht. Im Vater lebt das Streben nach Selbstbewahrung, das zugleich Bewahrung)des Überkommenen ist; es drängt sich ihm aber auch der Schutz für die Jugend auf, der er das Leben gegeben hat und die Fortsetzung seiner selbst ist, auch wenn sie sich gegen ihn wendet. Er möchte den Sohn zu sich hinüberziehen, denn er weiß, daß dessen Vernichtung ihn selbst und sein Fortle- ben zerstören würde. So wird in den meisten Fällen der Junge zum Erreger des Kon- flikts, dessen tragisches Opfer er werden kann, und der Vater ist der Sehende, leidende Gegenspieler. Die Bewertung der Gesamtsituation verschob sich im Zeitalter der eman- zipatorischen Bestrebungen zuungunsten des Vaters. (vgl. Frenzel 1992, S. 727 f.)
Kafkas Verhältnis zum Vater
Der Kafkasche Lebens-, Geschäfts- und Eroberungswille war bei Herrmann Kafka (Vater) stark ausgeprägt. Er vergaß nie seine schwere Jugend, hielt sie beständig seinen Kindern vor Augen und akzeptierte lediglich die gesellschaftliche Anerkennung als er- strebenswertes Ziel. Hermann Kafka beobachtete die Arbeit seines Sohnes mißtrauisch und verständnislos.
Erziehungsskrupel hegte man damals ganz allgemein nicht und schon gar nicht in Kafkas Elternhaus. Von elterlicher Erziehung konnte man nicht sprechen, denn der Vater hatte in seinem Geschäft ein polterndes Domizil aufgeschlagen, und die Mutter mußte ständig um ihn sein. Die Erziehung beschränkte sich auf Anweisungen bei Tisch und Befehle. Kindermädchen, Ammen und Köchinnen waren die Bezugspersonen des kleinen Franz. Zur verstärkten Ausprägung von Unsicherheit trug besonders die Richtung der väterli- chen Erziehung bei, die Kafka im Brief an den Vater bezeichnet: Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm, und Jäh- zorn, und in diesem Falle schien Dir das auch nochüberdies deshalb sehr gut ge- eignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.
Aufwachsend in einem meinungslosen Elternhaus, unter rätselhaften Gesetzen und in einer unverständlichen Umwelt, blieb dem Kind nur der Abschluß nach außen: Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zu ständen. In einem Brief an seine Schwester Elli spürt man in ungewohnter Heftigkeit noch immer die Betroffenheit über die eigene Kindheit.
Der Eigennutz der Eltern - das eigentliche Elterngefühl - kennt ja keine Grenzen. Noch die gr öß te Liebe der Eltern ist im Erziehungssinn eigennütziger als die kleinste Liebe des bezahlten Erziehers. Es ist nicht anders möglich. Die Eltern stehn ja ihren Kindern nicht frei gegenüber, wie sonst ein Erwachsener dem Kind gegenübersteht, es ist doch das eigene Blut - noch eine schwere Komplikation: das Blut beider Elternteile. Wenn der Vater (bei der Mutter ist es entsprechend) „ er- zieht “ , findet er z. B. in dem Kind Dinge, die er schon in sich gehaßt hat und nichtüberwinden konnte und die er jetzt bestimmt zuüberwinden hofft, denn das schwache Kind scheint ja mehr in seiner Macht als er selbst, und so greift er blindwütend, ohne die Entwicklung abzuwarten, in den werdenden Menschen, oder er erkennt z. B. mit Schrecken, daßetwas, was er als eigene Auszeichnung ansieht und was daher (daher!) in der Familie (in der Familie!) nicht fehlen darf, in dem Kinde fehlt, und so fängt er an, es ihm einzuhämmern, was ihm auch ge- lingt, aber gleichzeitig mißlingt, denn er zerhämmert dabei das Kind ... er sieht in dem Kind nur das Geliebte, er erniedrigt sich zu seinem Sklaven, er verzehrt es aus Liebe.
Das sind, aus Eigenschutz geboren, die zwei Erziehungsmittel der Eltern: Tyrannei und Sklaverei in allen Abstufungen, wobei sich die Tyrannei sehr zartäußern kann ( „ Du mußt mir glauben, denn ich bin deine Mutter! “ ) und die Sklaverei sehr stolz ( „ Du bist mein Sohn, deshalb werde ich dich zu meinem Retter machen! “ ), aber es sind zwei schreckliche Erziehungsmittel, zwei Antierziehungsmittel, geeignet, das Kind in den Boden, aus dem es kam, zurückzustampfen.
Diese Briefstelle stellt, kaum bewußt, die „Erziehung“ dar, die Kafka zuteil wurde. Kaf- ka versuchte ständig jenes vom Vater eingehämmerte Ideal einzulösen. Er bewunderte die Geschäftstüchtigkeit von Vorgesetzten oder die Energie, Entschlossenheit und Si- cherheit von Freunden über die er dachte, selbst nicht zu verfügen. Die Vereinsamung Kafkas, das rätselhafte Sichabschließen wurde primär durch die pragmatische und abstrakte Erziehung verursacht. (Wagenbach 1964, S. 9 ff.)
Kafkas Kampf mit dem Vater war die ihn vielleicht am schwersten belastende Kompo- nente seiner Biographie. Der Vater, übermächtig und kraftstrotzend, tyrannisiert den Ängstlichen, erdrückt den Schwachen mit seiner Vitalität, traumatisiert den Sensiblen mit seiner Lieblosigkeit. Von seiner Abhängigkeit und erschreckenden Ohnmacht gegenüber diesem unduldsamen, ihn immer wieder abweisenden Vater hat sich, so scheint es, Franz Kafka sein Leben lang nicht befreien können. Auch wenn Franz seinem Vater kritisch gegenüberstand und seine Distanz zu wahren suchte, seine Verehrung war un- endlich.
Bei seinem Sohn muß Herrmann Kafka manche schlimme Enttäuschung erlitten haben. Er hatte versucht, ihn im Geiste seiner Idealvorstellungen zu erziehen. Das Studium hatte er zwar abgeschlossen, aber statt seine akademische Ausbildung für eine anständige Karriere zu nutzen, den sozialen Aufstieg der Familie fortzusetzen und vielleicht jemand richtigen zu heiraten und selbständig zu werden, blieb er im Elternhaus sitzen und träumte über seinen Schreibereien, die nichts einbrachten.
Die völlig neuen Ansatzpunkte der neuen Generation stoßen auf Unverständnis nicht nur beim Vater, sondern auch bei der Mutter. Kafka äußerte: „Gewiß, ihr seid mir alle fremd, nur die Blutnähe besteht, aber sie äußert sich nicht.“
Die grobe Schimpferei des Vaters wird von Franz Kafka als genau das anerkannt, was sie ist: nicht ziel- oder personengerichtet, sondern ein Gepolter, das die unmännliche weiche Seite zudecken soll, die man vor dem Sohn entblößt hat, dem gegenüber man sich aus erzieherischen Gründen streng und fest geben muß. Franz weiß um die tatsäch- liche Schwäche des sich aus Pflichtbewußtsein stark gebenden Vaters. Der Leser erhält das Bild eines Sohnes, der sich schwach gibt, aber dem Vater überle- gen ist. Er wird dessen väterliches Rollenspiel nicht öffentlich entlarven, das wäre einem Unterlegenem gegenüber nicht fair. Dem gleichen Zweck, nämlich der Stützung des vä- terlichen Rollenbildes, dienen die Bekundungen der eigenen Schwäche. So fügt sich ein Bild zusammen, das im individuell Biographischen nicht viele Anhalts- punkte dafür übrigläßt, daß Kafka angsterfüllt und in seiner Grundhaltung depressiv, in einer Alptraumwelt von übermächtigen Familien- und Berufszwängen zu leben hatte, innerlich zerrissen und in seiner Schwäche dem Selbsthaß und dem Vatertrauma ausge- liefert. Die Züge eines anderen Kafkas gewinnen an Bedeutung: Selbstbewußtsein und Überlegenheit, spielerischer Witz und freundlicher Spott. Dieser Franz Kafka hat Spaß an Verwirrspielen und Mystifikationen, Rollenmasken, Szenen und Posen; er kostet sie aus, benutzt sie zum Freudemachen, aber auch zur Vermeidung von Konflikten. Die Verlobungen und der damit verbundene Entscheidungsdruck, die Arbeitszwänge und Gesundheitsprobleme sowie auch die zeitbedingten Familienoberhaupt - Allüren des Vaters Stellen ohne Zweifel eine Belastung dar. Die sich daraus ergebenden Auseinan- dersetzungen spielen sich jedoch so ab, daß weder von einem aufreibenden Kampf noch von dem Kampf eines hoffnungslos Unterlegenen die Rede sein kann. (Petr 1992, S. 45 ff.)
Im „Brief an den Vater“ hat Kafka die wahrgenommene Realität durch Übertreibungen bis hin zu grotesken und zuweilen komisch - karikaturhaften Verzerrungen gekennzeich- net. Um mich Dir gegenüber nur ein wenig zu behaupten, zum Teil auch aus einer Art Rache, fing ich bald an, kleinen Lächerlichkeit, die ich an Dir bemerkte, zu beobachten, zu sammeln, zuübertreiben. Den Vorwurf, der Vater habe sich selbst nicht an die Gebote gehalten, die er dem Sohn auferlegte, illustrierte er so. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen. Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren. Die An- klagen gegen den Vater sind vehement. Daß er mit seiner Macht die andersartige Indivi- dualität des Sohnes nicht fördert oder zumindest respektierte, sondern unterdrückte, ist der Hauptpunkt der Anklage: Ich hätte ein wenig Aufmunterung, ein wenig Freund- lichkeit, ein wenig Offenhalten meines Wegs gebraucht, statt dessen verstellst Du mir ihn, in der guten Absicht freilich, daßich einen anderen Weg gehen sollte. A- ber dazu tauge ich nicht...Ich verlor das Vertrauen zu eigenem Tun. Ich war unbe- ständig, zweifelhaft. Jeälter ich wurde, desto gr öß er war das Material, das Du mir zum Beweis meiner Wertlosigkeit entgegenhalten konntest; allmählich be- kamst Du in gewisser Hinsicht wirklich recht. Wieder hüte ich mich zu behaupten, daßich nur durch Dich so wurde; Du verstärktest nur, was war, aber Du ver- stärktest es sehr, weil Du eben mir gegenüber sehr mächtig warst und alle Macht dazu verwendetest... auch ich glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Ent- fremdung. Aber ebenso schuldlos bin auch ich. Könnte ich Dich dazu bringen, DaßDu das anerkennst, dann wäre _ nicht etwa ein neues Leben möglich, dazu sind wir beide viel zu alt, aber doch eine Art Friede, kein Aufhören, aber doch ein Mil- dern Deiner unaufhörlichen Vorwürfe.
Der Brief enthält zwei Personenportraits - ein Selbstportrait und ein Portrait des Vaters. Der Vater: ein ungemein vitaler, lebenskräftiger, starker und selbstbewußter Mann; der Sohn: ein schwacher, lebensuntauglicher, kränklicher Mensch, ohne Selbstvertrauen, gequält von permanenten Schuldgefühlen und Ängsten. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Der Vater ist tyrannisch, launisch, extrovertiert, robust und skrupellos; der Sohn dagegen ein introvertierter Hypochondrist.
Das Bild, das Kafka in diesem Brief vermittelt, stimmt nicht überein mit dem Bild, das sein persönliches Auftreten bei anderen hinterließ. Das, was in dem „Brief an den Vater“ dargestellt ist, schien nach außen hin nicht zu existieren - oder zeigte sich vielmehr nur andeutungsweise und nur bei sehr vertrautem Umgang. Auf den ersten Blick war Kafka ein gesunder junger Mensch, allerdings merkwürdig still, beobachtend, zurückhaltend. Ermunterungen zum literarischen Schreiben blieben im Elternhaus. In dem unter ökono- mischen Zwängen stehenden Familienalltag galt die Welt der Literatur als ein überflüssi- ger, parasitärer Luxus. Kafka hat zwar nie aufgegeben, in der Familie um Anerkennung für seine Arbeit zu werben, bekommen aber, zumal vom Vater, hat er sie jedoch nie.
Auf eindringlichen Wunsch des Vaters studiert er Jura und rechtfertigt sich mit folgenden Worten: Also eigentliche Freiheit der Berufswahl gab es für mich nicht, ich wußte: alles wird mir gegenüber der Hauptsache genau so gleichgültig sein, wie alle Lehrgegenstände im Gymnasium, es handelt sich also darum, einen Beruf zu fin- den, der mir, ohne meine Eitelkeit allzu sehr zu verletzen, diese Gleichgültigkeit am ehesten erlaubt. Also war Jus das Selbstverständliche.
Berücksichtigt man dies alles, so ergeben sich die Umrisse eines Persönlichkeitsbildes, das ein hervorragender Kafka - Kenner so skizziert hat: Kafka war ein von permanen- ten Angstzuständen, Unsicherheiten, Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, Kontakt- schwierigkeiten und körperlichen Gebrechen bedrängter Mann, dem es gelang, in der Öffentlichkeit einen weitgehend normgerechten, angepaßten und freundlich - unproble- matischen Eindruck zu erwecken. Schriftlich äußerte er sich jedoch als ein zum Teil völ- lig andersgearteter Mensch, der zumeist leidend die auferlegten Normen zu erfüllen suchte oder sie mit haßerfüllter Vehemenz attackierte. Hinter der äußeren Fassade einer zumeist einheitlichen Erscheinung verbarg er eine dissoziierte, vielschichtige Persönlich- keit, der es durch das Schreiben und eine damit verbundene fanatische Selbstbeobach- tung nur mühsam gelang, sich innerlich zu stabilisieren.(vgl. Anz 1989, S. 25 ff.)
Vater - Sohn - Konflikt in „ Die Verwandlung “
Die Betonung des autobiographischen Charakters fiktionaler Dichtung findet sich bei Autoren der expressionistischen Generation immer wieder, deshalb ist es möglich, Kaf- kas persönlichen Vater - Sohn - Konflikt auf seine Werke zu projizieren. Das „Die Verwandlung“ in einem humorvollen Erzählton geschrieben sein könnte, ergibt sich für den Rezipienten nur dann, wenn von der Einstellung ausgegangen wird, das Kafka über den Dingen steht und sie nur belächelt, seine eigenen Probleme in den Hin- tergrund treten und nicht in sein literarisches Schaffen einfließen. Die Leseerwartung ist also individuell verschieden.
In diesem Werk klagt Kafka die Lieblosigkeit der Väter an.
Das Bild des „Ungeziefers“, die Figur des nichtsnutzig - parasitären und Schande berei- tenden Außenseiters, der sich seinen beruflichen und damit auch familiären Verpflichtun- gen entzogen hat, den man seiner andersartigen „Eigentümlichkeit“ wegen einsperrt, den man nicht mehr wie einen Menschen, sondern wie ein widerliches Tier behandelt, wird uns hier von Kafka vorgestellt und letztendlich ist es er selbst, der sich hier so bezeich- net. Dabei lassen sich fast deckungsgleiche Parallelen zu seinem Schriftstellerdasein fest- stellen.
Im „Brief“ an den Vater schreibt Kafka dem Vater zweimal das Wort vom parasitären „Ungeziefer“ zu. Einmal ist damit Kafkas Freund, der jiddische Schauspieler Löwy, ein Künstler (somit also Schmarotzer und Schädling in den Augen des Vaters), gemeint, das andere Mal der eigene Sohn.
Zum unnützen, minderwertigen, abstoßenden „Ungeziefer“ wird, wer seinen beruflichen Verpflichtungen nicht nachkommen mag oder kann. Grund genug, sich in ein nutzloses „Ungeziefer“ zu verwandeln, ist schon eine Krankheit, ein Zuspätkommen, allein schon der Gedanke an nicht hundertprozentige Erfüllung der beruflichen Pflichten. Diesen Gedankengang Gregor Samsas hätte ebensogut auch Kafka nachvollziehen können, denn die permanente Tyrannisierung durch den Vater läßt eine ähnliche, wenn nicht identische Denkweise in Kafkas Realität vermuten.
Gregors Verwandlung, die auch mit einer Krankheit verglichen werden kann, könnte man als Versuch zur Befreiung von dem belastenden Druck eines Abhängigkeitverhält- nisses verstehen. Es ist denkbar, daß es Kafkas Wunsch entsprochen hätte, auch eine Ähnliche Metamorphose zu durchlaufen, um sich endlich von allem lästigen zu befreien und endlich Ruhe für das eigentlich wichtige in seinem Leben zu finden. Das Tier (Ungeziefer) in Kafkas Werken repräsentiert das Andere der sozialen Norma- lität, drückt eine gewisse Autonomie aus, verfügt über naturwüchsige Vitalität und Un- gebundenheit, ist aber aufgrund seiner Andersartigkeit häufig Opfer sozialer Macht und Gewalt.
Im Bild des „Ungeziefers“ Gregor Samsas ist die Befreiung des Tieres von gesellschaftli- chen Zwängen sowie die Abscheu, die Empörung, das Unverständnis und die Gewalt, mit denen die Gesellschaft auf seine Andersartigkeit reagiert, präsent. Als der Vater den Sohn in dessen Zimmer zurücktreiben will, stößt er „Zischlaute aus, wie ein Wilder“ , später wirft er mit Äpfeln nach ihm, wie ein Affe (Wer ist hier eigent- lich das abnorme Tier?).
Da Kafkas Vater ein eigenes Geschäft besitzt und dort sowieso die meiste Zeit ver- bringt, ist es wohl kaum verwunderlich, daß Formulierungen wie: schlummert „vollstän- dig angezogen auf seinem Platz, als sei er immer zu seinem Dienst bereit und warte auch hier auf die Stimme des Vorgesetzten.“ Aus diesen Worten spricht das Sichlustigmachen über die bestehende Situation, vielleicht versucht Kafka mit Hilfe der Ironie zu kompensieren, über seine eigenen Probleme hinwegzusehen.
Gregor wird im Verlauf der Erzählung immer mehr zum gejagten, verwundeten und ge- fangenen Tier. Zuerst grenzt sich Gregor von der Familie ab, dann grenzt die Familie ihn aus: „Früh, als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die Schlüssel steckten nun auch von außen.“ Nun ist er fast gänzlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und vergessen, sein Ende steht bevor.
Da Kafka dem Vater auch so nicht die Schuld an ihrem gestörten Verhältnis gibt, ist letztendlich auch er nicht derjenige, der das „Todesurteil“ spricht, das freiwillig von Gregor befolgt wird, denn mit diesem Leben hat er schon lange abgeschlossen. „An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück.“ Dieser Satz nimmt der Familienliebe jeden Wert. Kafkas Äußerung: „Gewiß, ihr seid mir alle fremd, nur die Blutnähe besteht, aber sie äußert sich nicht“, damit ist sein Standpunkt zur Familie (primär Vater und Mutter) klar. (Seine Schwestern nehmen einen gesonderten Platz ein).
„Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht.“ In Kafkas „Verwandlung“ wie auch sonst ist ihm sein Posten verhaßt.
Schon bei „Hochzeitsvorbereitungen au dem Lande“ taucht (fünf Jahre vor Entstehung der „Verwandlung“) das Käfermotiv auf.
Nur der Körper wird zu diesen Vorbereitungen geschickt, das Ich bleibt als Käfer verwandelt zu Hause.
Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich.
Eines Käfers große Gestalt, ja. Ich stelle es dann so an, als handle es sich um ei- nen Winterschlaf, und ich presse meine Beinchen an meinen gebauchten Leib. Und ich lisple eine kleine Zahl Worte, das sind Anordnungen an meinen traurigen Kör-
per, der knapp bei mir steht und gebeugt ist. Bald bin ich fertig - er verbeugt sich, er geht flüchtig und alles wird er aufs beste vollführen, während ich ruhe. (vgl. Wagenbach 1964, S.63)
Darin zeigt sich Kafkas Phobie, Angst und Empfindlichkeit gegenüber der Außenwelt und letztendlich auch vor seiner Familie. Er möchte einfach nur seine Ruhe haben; Ruhe vor dem Vater, der weder Ihn noch seine Arbeit akzeptiert.
Gregor versorgt eine Zeitlang seine gesamte Familie, vor allem seinen Vater. Doch eine plötzlich eintretende Unfähigkeit, Geld zu verdienen, läßt ihn sich in ein nichtsnutziges Ungeziefer verwandeln, damit kann er den Ansprüchen, die man an ihn stellt, nicht mehr gerecht werden.
Die Äußerlichkeit der Vaterautorität macht Kafka mehrfach deutlich Übertriebene Ges- tik wird dabei als Mittel verwendet. „Er warf seine Mütze... Über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging,... die Hände in den Hosentaschen, mit verbisse- nem Gesicht auf Gregor zu. Er wußte wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Füße ungewöhnlich hoch“. Die Uniform legt der Vater auch zu Hause nicht ab und schläft „ höchst unbequem und doch ruhig“. Einerseits „verlor die gleich anfangs neue Uniform... an Reinlichkeit“ und wurde über und über fleckig, andererseits ist sie die Uniform eines Dieners.
Die Komödie, die der Vater aufführt, ist leicht durchschaubar. Obwohl der Vater nicht wirklich krank und arbeitsunfähig war, bekam er, was er wollte; Aufmerksamkeit, Be- achtung, gebührenden Respekt - eben als Mittelpunkt und Oberhaupt der Familie zu fungieren. Mühelos schaltet er seine Schwach- und Krankheit je nach Bedarf ein oder ab. Auch der angebliche Geldverlust nach einem Bankrott ist vorgespielt und das beisei- te geschaffte Geld blieb nutzbar. Mutter und Tochter sind darüber nicht sonderlich ver- wundert, vielleicht waren sie auch schon von Anfang an eingeweiht. Nur Gregor wurde in dem Glauben gelassen, daß die Familie ohne seine Unterstützung nicht existieren kann, seine Besorgnis um das Wohlergehen aller Familienmitglieder wurde ausgenutzt. Er war ein nichtwissender Geldgeber, der versuchte, durch seine Rolle als Ernährer, sich eine Stellung in der Familie aufzubauen und Anerkennung durch den Vater zu erlangen.
Mit dem neuen Leben als Ungeziefer verliert er die Position in der Familie, die er dachte inne zu haben und damit auch Perspektiven und Lebensmut.
Vater - Sohn - Konflikt in „ Das Urteil “
In dieser Erzählung verdammt Kafka den Vaterhaß als eine Art Sünde, läßt den mit Mordgedanken spielenden Sohn sich willig dem Todesurteil des Vaters unterwerfen. Zu Beginn der Erzählung hat Georg Bendemann einen Brief an den Freund geschrieben, der ihn von der Verlobung informiert. Das Schreiben des Briefes war schwierig, denn sein Verhältnis zum Freund war kompliziert geworden. Dieser ist das ganze Gegenteil von ihm. Georg ist beruflich erfolgreich, sozial integriert, verlobt, lebt im Elternhaus und ist abhängig vom Vater. Der Freund ist beruflich erfolglos, arbeitet „sich in der Fremde nutzlos ab“, lebt zurückgezogen und richtet sich „auf ein endgültiges Junggesellentum ein“, hält sich in Rußland auf, versteht die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr und scheint krank zu werden. Aber er hat sich unabhängig gemacht und ist nicht bereit, durch Rückkehr in die längst fremd gewordene Heimat, seine Selbständigkeit auf- zugeben.
Im folgenden Teil rückt Georgs Vater immer mehr in den Mittelpunkt des Geschehens. Der Sohn geht zu ihm und teilt ihm mit, daß er dem Freund seine Verlobung angezeigt hat.
Im nächsten Teil folgt nun die Beschreibung eines Kampfes zwischen Vater und Sohn, der eindeutiger ausgetragen wird als in „Die Verwandlung“. Dieser Kampf, so scheint es, wird unter dem Deckmantel von Liebe und Fürsorglichkeit ausgetragen. Der Wille des Vaters richtet sich gegen die Beziehung zum Freund und gegen die Bindung an die Braut. Der Vater glaubt nicht an die Existenz des Freundes, Georg muß ihn erst erinnern, daß der Freund doch schon zu Besuch war. Um seinen Willen durchzusetzen, ist der Vater plötzlich derjenige, der in regem Kontakt zum Freund steht und sich mit diesem verbündet hat um die Hochzeit zu verhindern.
Der versteckte Machtkampf wird an der Stelle offen geführt, als der Vater seinen Machtanspruch wieder geltend machen will. Der Vater erhebt offene Anklage gegen den Sohn, und der wiederum reagiert darauf mit Versuchen, diesen lächerlich zu machen (vgl. „Briefe an den Vater“ Kafka versucht Probleme zu kompensieren, indem er sich lustig macht).
„Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemein- samkeit. Georg glaubt den Vater in sich zu haben... Die Entwicklung der Geschichte zeigt nun, wie aus dem Gemeinsamen, dem Freund, der Vater hervorsteigt“. (vgl. Kaf- kas Tagebücher)
Georg akzeptiert alle Autoritätsanmaßungen des Vaters.
Die Macht des Vaters über den Sohn scheint so von Bedeutung zu sein, das der Sohn das Urteil an sich selbst vollstreckt. Das vom Vater ausgesprochene Urteil ist lächerlcuch. Noch lächerlicher ist seine gehorsame Annahme und Befolgung durch den Sohn. Georg möchte doch nur die ewige Sohnesrolle hinter sich lassen, aber der Vater läßt ihn nicht heraus. Seine Machtstellung ausnutzend, weist er Georg in seine Schranken und spricht das harte und tödliche Urteil.
Nachweis der Intertextualität in „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“
Intertextualität ist nichts anderes als die altbekannte, vielleicht wichtigste Eigenschaft literarischer Texte überhaupt, nämlich die, sich zu anderen Texten irgendwie zu verhalten - sie fort- oder umzuschreiben, sie zitierend zu bestätigen oder zu parodieren, heraufzubeschwören oder lächerlich zu machen. Insbesondere komische Effekte sind ja sehr häufig Produkte von Intertextualität. (vgl. Abraham 1993, S.65 f.)
Gregor Samsa und Georg Bendemann sind beides Junggesellen. Beide ereilt ein schrecklich theatralisches Ende, das beide einfach so hinnehmen. Gregor verhungert einsam und verlassen, Georg vollstreckt das Urteil seines Vaters an sich. Die Zwei sind einsame Menschen, denen ein Sich - zur - Wehr - setzen fehlt. Beide scheinen biogra- phisch gesehen als Variante des Junggesellen Kafka und sein gestörtes Verhältnis zum Vater, seine permanenten Auseinandersetzungen mit diesem Autoritätsbild. Gregor und Georg machen sich selbst den Prozeß, beenden beide selbst ihr Leben, nur weil sie nicht mehr erwünscht sind. Bei beiden haben die Väter die uneingeschränkte macht. Auch wenn die Söhne versuchen, sich eine anerkennende Stellung zu erkämpfen, werden sie dennoch immer wieder mit teilweise äußerster Brutalität in ihre Schranken gewiesen, was u. a. bei beiden mit dem Tod endet. Auffällig ist, daß bei beiden das Ableben kein hochdramatisches Geschehen ist. Ihnen wird befohlen oder auferlegt, aus dem Leben zu scheiden und beide kommen, ohne großes Aufsehen zu erregen, diese Aufforderung nach. Beide Texte handeln von der uneingeschränkten Macht der Väter und den sich in ihr Schicksal fügenden Söhne. Die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen sind ge- stört und nicht reparabel.
Die Geschichten äußern Wünsche nach Selbstbefreiung und enden mit der Unterwerfung. Immer wieder werden die gleichen Bindungskonflikte durchgespielt. Gregor löst mit seiner Verwandlung die Bindung an Beruf und Familie. Georg verlor die Bindung an den Vater mit dessen Abtreten aus der Stellung des Geschäftsführers. Beide Söhne haben keine Chance sich jemals aus dem Nur - Sohn - Dasein zu lösen. Sie sind dem autoritären Vater auf Lebenszeit unterworfen und diese Unterwerfung kann nur mit dem Tod, den beide wählen , enden.
Der Vater - oder Wer ist hier eigentlich das Tier?
In der ganzen Erzählung wird offensichtlich nur von Gregor, dem Tier, gesprochen. Daß auch der Vater eine Veränderung durchmacht und dabei animalische Verhaltensweisen an den Tag legt, soll an dieser Stelle untersucht werden.
Der Vater schlüpft immer mehr in die Rolle des selbst tierische Züge aufweisenden We- sens (Menschen ?). Bei Gregors Erstentdeckung machte er sich „unter Füßestampfen daran, Gregor durch Schwenken des Stockes und der Zeitung in sein Zimmer zurückzu- treiben“ .Mit den Füßen stampft ein wütendes, aufgebrachtes und angriffslustiges Tier (z. B. ein Stier), das sich bedroht und provoziert, aber auch vielleicht hilflos fühlt. Die verwendeten Utensilien zur Zurückdrängung oder Zurücktreibung sollen wohl dann zur Einschüchterung dienen, sie könnten allerdings auch ein Zeichen für seiner Hilflosigkeit sein, die er versucht, so zu kompensieren.
„Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder.“ Ich denke, daß Gregor schon in diesem Moment in den Augen seines Vaters die Identifikation mit dem Tier vollzogen hat und deshalb so behandelt wird. Der Vater paßt sich erstaunlich schnell an die neuen und veränderten Umstände an -vielleicht ist es auch einfach nur seine grenzenlose Hilflosigkeit, die ihn so handeln läßt. Ich glaube, daß der Vater mit dieser neuen Situation völlig überfordert ist, denn als Familienoberhaupt wird von ihm erwartet, schnell und richtig zu handeln. Warum der Vater aber gerade Zischlaute aus- stößt, kann nur auf eine eventuelle Veränderung in seiner Persönlichkeit zurückgeführt werden. Ob Gregors Verwandlung auch eine Veränderung beim Vater bewirkte? Der Vater scheint mehr und mehr seine menschlichen Züge abzulegen. Wie eine Schlange zischt er und jagt Gregor damit Angst ein.
... „und jeden Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der töd- liche Schlag auf den Rücken oder auf den Kopf.“ An dieser Stelle tritt der Vater sogar als gewalttätige Person in Erscheinung, der auch vor Tätlichkeiten gegen den eigenen Sohn nicht zurückschreckt, auch wenn diese tödlich enden könnten. Der Vater ist hier in der Position des Schlächters oder Vollstreckers, demonstriert also seine Position gegenüber einer niederen Kreatur.
An anderer Stelle dirigiert und kontrolliert er wieder nur bestimmte Bewegungen Gre- gors aus der Ferne ( ob er sich wohl ekelt oder fürchtet? ), beweist damit die Über- schaubarkeit der ganzen Situation, die er voll im Griff zu haben scheint „sondern diri- gierte sogar hie und da die Drehbewegungen von der Ferne mit der Spitze seines Sto- ckes.“ Er wird mehr und mehr zum Oberaufseher, der Gregors Leben bestimmt, lenkt und verändert. Dieses Recht maßte er sich zwar schon vor der Verwandlung an, setzt es aber jetzt mit ganz anderen Mitteln um. Maßnahmen, die einem Tier angemessen er- scheinen. „ vielmehr trieb er...Gregor jetzt unter besonderem Lärm vorwärts; es klang schon hinter Gregor gar nicht mehr wie die Stimme bloß eines einzigen Vaters...da gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaft erlösenden starken Stoß, und er flog, hef- tig blutend, weit in sein Zimmer hinein.“ Der Vater hat anscheinend vergessen, das die- ses Tier immer noch sein Sohn ist, der vor kurzer Zeit noch seine menschliche Gestalt besaß, demnach vielleicht auch noch menschlich empfindet und dem diese Behandlung nicht gut tun kann. Unter lautem Lärm (die Methoden eines Viehtreibers) drängt er Gre- gor in sein Zimmer zurück und verpaßt diesem einen derart brutalen Stoß, daß er blu- tend und schwer verletzt liegen bleibt. Dieser Vater kann einfach kein Gefühl haben. Seine Umgangsformen müssen auch vor der Verwandlung schon existiert haben, wahr- scheinlich aber in anderer Form. Jetzt erst zeigt sich verstärkt seine Aggressivität gegen- über seinem Sohn, die er nun voll auszuleben scheint.
Ein Bombardement mit Äpfeln verletzt den ohnehin geschwächten Gregor derart stark, das längere Überlebenschancen schwinden. Der Vater scheint auf dem Höhepunkt sei- ner Rache angekommen zu sein, wirft blindlings wie ein wildgewordener Affe und nur das eindringliche Bitten der Mutter rettet (oder verlängert) noch einmal Gregors Leben. Nach diesen Angriffen läßt des Vaters Interesse an Gregor bald nach. Er ist fortan pri- mär nur noch mit sich selbst und seinen neuen Verpflichtungen beschäftigt, d. h. nach der Arbeit schläft er und beteiligt sich höchst selten am Familiengeschehen.
Auch jetzt zeigen sich tierische Verhaltensmuster, die sich nicht mehr auf Gregor bezie- hen, sondern die er an sich selbst vollzieht. Es ist zu erkennen, daß der Vater mit seiner neuen Aufgabe überfordert ist, wie ein überfüttertes Tier (eine Fliege z. B.) ist er fett und faul geworden, verschläft seine freie Zeit und ist zu träge, sich noch aktiv am Geschehen in der Familie zu beteiligen. Die Sauberkeit seiner anfänglich so sehr gepflegten Uniform läßt bald zu wünschen übrig. Wie ein Ungeziefer fängt er an zu verunreinigt und zu schmarotzen. Auch wenn er es nicht ausdrücklich formuliert, so fordert er dennoch ständig - essen, trinken, schlafen, umsorgt werden usw. Er ist das eigentliche Ungeziefer, das auf Kosten anderer lebt, denn Mutter und Schwester arbeiten härter und länger als der Vater und gönnen sich kaum Pausen. Hinzu kommt, daß trotzdem nun alle Famili- enmitglieder arbeiten, die finanzielle Seite keineswegs positiv aussieht und man sich auch noch nach anderen Einkünften umschauen muß. Warum ist das so? Vielleicht, weil der Vater die Gelder schon wieder auf ein Konto abzweigt, welches in schlechteren Tagen ihm und seiner Familie helfen soll? Oder konsumiert die Familie allen voran der Vater zuviel und lebt über ihre Verhältnisse?
Ich glaube, da? der Vater ein vielfaches mehr an animalischem Verhalten aufweist, als der direkt zum Tier verwandelte Gregor. Gregor vermeidet es, tierische Laute auszustoßen, er ist pflegeleicht und fordert nicht. Bis auf sein Äußeres ist er derselbe geblieben. Sein Vater hingegen behielt seine äußere Gestalt, veränderte aber sein Wesen. Er behandelt Gregor ohne Rücksicht auf seine Gefühle wie ein Tier. Er treibt ihn immer wieder in sein Zimmer zurück, stößt dabei tierische Laute aus, mißhandelt Gregor und lebt auf Kosten der Familie. Der Vater scheint die Verwandlung vollzogen zu haben. Er weist tierische Züge in einem menschlichen Körper auf.
Literaturverzeichnis
Abraham, Ulf: Franz Kafka -Die Verwandlung. Diesterweg Verlag, Frankfurt 1993, S. 5 ff.
Anz, Thomas: Franz Kafka. C. H. Beck Verlag, München 1989, S. 7 ff.
Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1992, S. 727 ff.
Petr, Pavel: Kafkas Spiele. Carl Winter Verlag, Heidelberg 1992, S. 45 ff.
Wagenbach, Klaus: Kafka. Rowohlt Taschenbuch Verlag 1964, S.9 ff.
- Quote paper
- Uta Hotze (Author), 1996, Franz Kafka - Das Urteil - Die Verwandlung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103402
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