Herta Müller:
Reisende auf einem Bein
Irene sitzt im Warteraum des Flughafens, schaut sich die Menschen an und wartet, wartet auf Franz, den sie schon lange nicht gesehen hat. Neben dem Ausgang steht ein Mann, der ein Schild vor die Brust hält. Auf dem Schild steht „Irene“. Sie möchte warten, bis diese Frau auf den Mann zugeht, sehen wie die beiden sich begrüßen, wissen, wie diese andere Irene aussieht. Sie schaut aus dem Fenster und beobachtet zwei Männer, die aufeinander zugehen. Dann kommt der Mann mit dem Schild zu ihr. Der Warteraum ist leer. Der Mann heißt Stefan, er soll sie vom Flughafen abholen. Statt Franz. Franz konnte nicht kommen. Die Beschreibung, die Stefan bekommen hat, paßt nicht.
In diesem Augenblick beginnt das neue „Leben“ der dreißigjährigen Irene. Irene, das ist eine Frau, die aus dem anderen Land kommt und endlich die Ausreise in den Westen Deutschlands bewilligt bekommen hat. Der Diktator aus dem anderen Land ist nun fern, verbirgt sich aber in ihrem Herzen und reißt hier und da ihre Gedanken an sich. Sich selber hat Irene vor langer Zeit im anderen Land verloren. Wenn sie in den Spiegel sieht, dann sieht sie nicht sich selber, sondern eine andere Irene, die fremde Irene, die Irene, die so ganz anderes ist als die Irene tief drinnen. Auch Franz, den sie als betrunkenen Touristen im anderen Land kennen gelernt und mit dem sie damals geschlafen hatte, ist weit weg. Auch er schafft es, Irenes Gedanken an sich zu reißen, ist aber eigentlich nur ein Gedanken unter vielen in Irenes Kopf - wenn auch ein wichtiger. Franz ist Student, einige Jahre jünger als Irene und lebt in Marburg. Die beiden führen eine Art Beziehung, finden aber nie wirklich zu einander, sind nicht fähig ihr Inneres zu ergründen, sich zu verstehen und sich alles zu geben. Diese Erfüllung findet Irene in Thomas, einem schwulen, arbeitslosen und geschiedenen Familienvater, der zwischendurch in seinem Schwulsein Ausnahmen macht. Für einen Moment wird auch Irene eine dieser Ausnahmen - körperlich, nicht geistig. Irene und Thomas, das sind zwei Menschen die in der Lage sind tiefgründige Gedanken und Gefühle miteinander auszutauschen und sich wirklich zu verstehen. Stefan, der sie im neuen Land empfangen hatte, spielt dagegen „nur“ die Rolle eines Kumpels und die des Verbindungsstückes zwischen Irene und den anderen. Er ist ein Freund von Franz‘ Schwester und ebenfalls einer von Thomas.
Eine tatsächliche Handlung findet in dem Roman allerdings kaum statt: Irene lernt Franz im anderen Land kennen, reist bald darauf nach Westberlin aus. Dort freundet sie sich erst mit Stefan und dann mit Thomas an. Franz und sie besuchen sich zwischendurch gegenseitig und verstehen sich eigentlich nie wirklich. In dem Roman „Reisende auf einem Bein“ dreht es sich viel mehr um die Gedanken und Gefühle einer Frau, die vor einem Diktator aus dem anderem Land geflüchtet ist und eigentlich gerettet sein müßte. Die Wirklichkeit sieht allerdings ein wenig anders aus: Mit einem Bein ist Irene zwar gerettet, sicher in Deutschland, in ihrem neuem Leben. Mit dem anderen Bein ist sie verloren, noch dort, wo sie her kam, nicht mehr sie selbst, anscheinend identitätslos. Sie macht sich über alles und jeden Gedanken und zeigt die Dinge von ihrer ganz persönlichen, von Melancholie geprägten Seite. Ihre Gefühle spiegeln sich durch ihre Gedanken wieder, wirken nicht nur melancholisch, sondern auch abgestumpft und in sich gekehrt - sie ist weder tot noch lebendig. Teilweise versucht sie ihre Lebendigkeit wieder zu entdecken, hatte zum Beispiel im anderen Land ein Ritual mit einem Mann, der sie allabendlich als Masturbationsvorlage am Strand benutzte. Irene genoß diese Prozedur auf eine Weise, wird traurig als der Mann sich nach zweitägigem Ausbleiben ihrerseits eine neue „Vorlage“ gesucht hat. Sie hatte sich gesehen und „gebraucht“ gefühlt.
Die neunzehn Kapitel des Buches sind alle recht kurzgehalten (ca. 9 Seiten lang) und lediglich mit Nummern überschrieben. Die Sprache stellt ihren Anspruch nicht an das Allgemeinwissen des Lesers und dessen Umgang mit komplizierten Begriffen, sondern vielmehr an seinen Verstand und seine Auffassungsgabe. Der Text ist aus einfachen einzeln leicht zu verstehenden Worten zusammengesetzt, muß aber als Ganzes stetig hinterfragt und analysiert werden, um ein richtiges Verständnis der wirren Gedanken in Irenes Kopf zu sicherzustellen. Dialoge wurden nicht gesondert gekennzeichnet und bilden somit mit dem Text eine Einheit. Die Intention der Autorin ist anscheinend eine Generalisierung der Situation. Nicht wer spricht ist wichtig, nicht wie „der Diktator“ oder „das andere Land“ heißen, sondern der Inhalt, die Situation. Dies erklärt auch die Numerierung der einzelnen Kapitel. Es wird nicht über eine bestimmte Person berichtet, die dieses Schicksal erlitten hat, sondern über tausende, denen gleiches widerfahren ist und immer noch widerfährt. Irene ist stellvertretende Sprecherin dieser Personen und spiegelt ihre Gedanken, Ängste und Gefühle wieder. Eine dieser Personen, die sich in Irene wiederfinden läßt, ist die Autorin Herta Müller. Geboren als Teil einer deutschsprachigen Minderheit in Rumänien, erlebte sie nahezu das gleiche Schicksal wie die Protagonistin in ihrem Buch. In Herta Müllers Lebensgeschichte trägt der Diktator den Namen Caeusescu. Nach ihrem Studium der Germanistik und Romanistik arbeitete sie zunächst als Lehrerin, wurde aber aufgrund einer Zusammenarbeitsverweigerung mit der Rumänischen Geheimpolizei aus dem Schuldienst entlassen. Seit 1984 ist sie freie Schriftstellerin, konnte ihre Leidenschaft aber unter dem für sie in Rumänien verhängtem Arbeits- und Publikationsverbot nicht ausleben. Im März 1987 reist sie, wie Irene, nach West-Berlin aus, fühlt sich dort bis zum Tode Caeusecus im Jahre 1989 (er wurde gestürzt und gemeinsam mit seiner Frau hingerichtet) nie wirklich zuhause - Deutschland war Exilland. Nicht mehr und nicht weniger. Aus Angst vor der Macht des Diktators bricht sie jeglichen Kontakt zu ihren Freunden ab, um diesen nicht zu schaden. Ein Gutes hat die Ausreise nach West- Berlin allerdings doch: Sie kann ungehindert schreiben und ihren Gedanken freien Lauf lassen. Noch vor dem Sturz des Diktators beginnt sie gegen das Vergessen der Verbrechen unter seinem Regime zu schreiben und thematisiert in ihren Büchern die existentielle Bedrohung des Menschen durch totalitäre Systeme. Ihr erstes Buch „Reisende auf einem Bein“ spiegelt ihre persönlichen Erlebnisse wieder. Weitere Bücher folgen in kurzem Abstand (1992: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“, 1993: „Der Wächter nimmt seinen Kamm, Vom Weggehen und Ausscheren“, 1993: „Niederungen“, 1994: „Herztier“, 1995: „Hunger und Seide. Essays“, 1995: „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“, 1995: „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“, 2000: „Im Haarknoten wohnt eine Dame“). Einige der Titel lassen auf eine Themenverwandtschaft zu ihrem ersten Buch „Reisende auf einem Bein“ schließen. Die Thematik ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft und verlangt nach immer wieder neuen Büchern. Wie auch die Bücher über die NS-Zeit scheinen diese Bücher die Leser zu faszinieren und in ihnen den Wunsch nach mehr Informationen und Schicksalserzählungen zu wecken. So ist es kaum verwunderlich, daß Herta Müller nicht nur viele Bücher geschrieben, sondern auch viele Preise für ihre Werke erhalten hat (1987: „Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt“, 1989: Marieluise- Fleisser-Preis der Stadt Ingolstadt“, 1990: „Roswitha-Gedenkmedallie der Stadt Bad Gandersheim“, 1991: „Kranichstreiner Literaturpreis“, 1992: „Kritikerpreis (Sparte Literatur) des SWF, Baden-Baden“, 1994: „Kleist-Preis“, 1995: „Europäischer Literaturpreis Aristeion, Stadtschreiberin von Bergen- Enkheim, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“, 1998: „Impac Dublin Award für den Roman „Herztier““, 1998: „Ida-Dehmel-Literaturpreis des Verbandes der Künstlerinnen und Kunstfreunde (Gedok) in Hamburg“).
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Herta Müllers "Reisende auf einem Bein"?
"Reisende auf einem Bein" erzählt die Geschichte von Irene, einer Frau, die aus einem diktatorisch regierten Land nach West-Berlin ausreist. Der Roman konzentriert sich weniger auf eine lineare Handlung als vielmehr auf Irenes innere Gedanken, Gefühle und Identitätssuche in der neuen Umgebung. Sie fühlt sich entwurzelt und mit einem Teil ihres Selbst noch in der Vergangenheit gefangen.
Wer ist Irene?
Irene ist die Protagonistin des Romans. Sie ist eine Frau in den Dreißigern, die aus einem Land unter diktatorischer Herrschaft geflohen ist. Im Westen angekommen, kämpft sie mit ihrer Identität, ihrer Vergangenheit und dem Aufbau eines neuen Lebens. Sie fühlt sich innerlich zerrissen und fremd in ihrer neuen Umgebung.
Wer sind die wichtigsten Nebenfiguren im Roman?
Zu den wichtigsten Nebenfiguren gehören Franz, Stefan und Thomas. Franz ist Irenes Partner, ein Student in Marburg, zu dem sie eine distanzierte Beziehung führt. Stefan ist ein Freund von Franz' Schwester, der Irene am Flughafen abholt und eine freundschaftliche Rolle einnimmt. Thomas ist ein schwuler Mann, der eine tiefe, intellektuelle Verbindung zu Irene aufbaut.
Was sind die zentralen Themen des Romans?
Zentrale Themen sind Identitätsverlust, Entwurzelung, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Suche nach Zugehörigkeit und die Auswirkungen totalitärer Systeme auf das Individuum. Der Roman thematisiert die innere Zerrissenheit einer Frau, die versucht, in einer neuen Welt Fuß zu fassen, während ihre Gedanken und Gefühle noch von den Erfahrungen in ihrer Heimat geprägt sind.
Welche Rolle spielt die Sprache in "Reisende auf einem Bein"?
Die Sprache in Müllers Roman ist einfach und zugänglich, aber dennoch komplex. Die Sätze sind oft kurz und prägnant, fordern den Leser jedoch dazu auf, über die Bedeutung hinter den Worten nachzudenken und die wirren Gedanken der Protagonistin zu entschlüsseln. Dialoge sind nicht gesondert gekennzeichnet und verschmelzen mit dem Text, was die Intention einer Generalisierung der Situation unterstreicht.
Gibt es einen autobiografischen Bezug zu Herta Müller?
Ja, es gibt starke autobiografische Bezüge. Herta Müller, selbst Angehörige einer deutschsprachigen Minderheit in Rumänien, erlebte ähnliche Erfahrungen wie Irene. Sie emigrierte nach West-Berlin und setzte sich in ihren Werken mit den Auswirkungen totalitärer Regime auseinander. "Reisende auf einem Bein" spiegelt somit auch Müllers persönliche Erfahrungen und Gefühle wider.
Was ist die Bedeutung des Titels "Reisende auf einem Bein"?
Der Titel symbolisiert Irenes Zustand der Zerrissenheit. Mit einem "Bein" ist sie in Sicherheit, im Westen Deutschlands angekommen. Das andere "Bein" jedoch verbleibt in der Vergangenheit, in dem Land, aus dem sie geflohen ist. Sie ist nicht vollständig in ihrer neuen Umgebung angekommen und fühlt sich innerlich unvollständig.
Für wen ist das Buch geeignet?
Das Buch ist geeignet für Leser, die sich für die Themen Identität, Exil, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Auswirkungen politischer Systeme auf das Individuum interessieren. Es ist kein Buch für leichte Unterhaltung, sondern erfordert die Bereitschaft, sich intensiv mit den Gedanken und Gefühlen der Protagonistin auseinanderzusetzen.
Was ist die Intention der Autorin?
Die Intention der Autorin ist eine Generalisierung der Situation von Menschen, die unter totalitären Regimen gelitten haben und fliehen mussten. Es geht nicht um ein spezifisches Schicksal, sondern um das Schicksal vieler. Irene ist eine Stellvertreterin für diese Menschen, die in ihren Gedanken, Ängsten und Gefühlen widergespiegelt werden.
- Citation du texte
- Christine Schroder (Auteur), 2001, Müller, Herta - Reisende auf einem Bein, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103160