Eine Zusammenfassung darüber, was Sprache nach Herta Müller vermag und wie dadurch der "Dritte Raum" wortloser Gedanken beeinflusst und eingegrenzt wird.
Herta Müllers Erfahrung als deutschsprachige Rumänin, die in einem abgesonderten Dorf aufgewachsen ist und später erst in das Land und die Sprache Rumäniens als ganzes Zugang gefunden hat, spiegelt sich in dem Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ sehr stark wieder. An verschiedenen Stationen ihres Lebens macht sie Halt und hebt daran hervor, wie Sprache und Worte an einen inneren Raum einer Person stoßen, der sich nur zum Teil beschreiben und erklären lässt.
Essay zu Herta Müllers Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“
Herta Müllers Erfahrung als deutschsprachige Rumänin, die in einem abgesonderten Dorf aufgewachsen ist und später erst in das Land und die Sprache Rumäniens als ganzes Zugang gefunden hat, spiegelt sich in dem Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ sehr stark wieder. An verschiedenen Stationen ihres Lebens macht sie Halt und hebt daran hervor, wie Sprache und Worte an einen inneren Raum einer Person stoßen, der sich nur zum Teil beschreiben und erklären lässt.
Müllers Kindheit in einem deutschsprachigen Dorf im Banat bietet immer wieder den Hintergrund zu ihren Erzählungen und Überlegungen, so auch hier. Ihre erste Station in dem Essay, die der Kindheit, beschreibt sie als „Schule des Schweigens“, in der Menschen „das Sprechen verlernen“.1 Gerade diese Verstummung, eine Art Decke des Schweigens, die über das Leben im Dorf gelegt wird, fordert bei ihr die Phantasie regelrecht heraus, sich Bilder auszudenken, aus denen es keinen Ausweg gibt. Die Schwierigkeit, Worte zu finden und auszudrücken, was in ihrem Kopf vorgeht, begleitet sie ihr Leben lang.
Schon als Kind hat sie Albträume, die sie ins Totenreich führen. Sie sieht ihr Dorf als „Fransen der Welt“ und „Panoptikum des Sterbens“, im Kontrast zu den Städten mit ihrem Asphalt als „Teppich“ auf dem man sicher ist vor dem Tod.2 Als sie dann später in die Stadt zieht und vor der Herausforderung steht, Rumänisch zu lernen, dient ihr diese intensive Sichtweise auf Dinge, sowie die lange Zeit, die sie braucht, um die Sprache zu beherrschen. Beides führt dazu, dass sie die Bildlichkeit und Poetik des Rumänischen lieben lernt, mit dem sie sich auch weiterhin identifiziert. Trotzdem nutzt sie diese Sprache in ihren Werken nicht um sich auszudrücken. Erst als sie aus der Welt des Dorfes mit seinem im Vokabular eingeschränkten Dialekt entkommt, findet sie Worte, die annähernd ausdrücken, was sie denkt und empfindet.
Dabei empfindet Müller aber nicht den Zwang, alle ihrer Gedanken und Empfindungen ausdrücken zu müssen. Sie sagt sogar, „den Glauben, das Reden komme den Wirrnissen der Welt bei, kenne [sie] nur aus dem Westen.“3 Stattdessen findet sie vielmehr in Werken anderer Autoren Gedanken ausgedrückt, die die Welt in ihrem eigenen Kopf besser beschreiben als ihre eigenen Worte. Für Müller ist der Effekt der Sprache und der Worte das Wichtige. Je intensiver die Reaktion ist, die Worte in ihr hervorrufen, desto näher kommt sie einer Beschreibung des „Dritten Raumes“ ihrer wortlosen Gedanken. Die Beschreibung dieses Raumes ist also abhängig von der Fähigkeit anderer Menschen, etwas auszudrücken, was mit dem Leser oder Zuhörer resoniert. Je größer die Reaktion, desto mehr ist der Dritte Raum ausgefüllt. „Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten.“ Hiermit drückt Müller aber auch aus, dass der Dritte Raum der Gedanken mehr beinhaltet, als in Worte gefasst werden kann. Der Aprikosenbaum, der sie an ihren Vater erinnert, hat nichts mit dem Vater an sich zu tun, und man kann auch gar nicht in Worte fassen, was gerade der Baum in ihr auslöst. Dennoch ist die Reaktion da und für sie unumstößlich mit ihrem Vater verbunden, ohne die Erwartung, eine Erklärung zu bekommen.4
Müller besteht darauf, dass „es [] nicht wahr [sei], daß es für alles Worte gibt“.5 Zweimal triff sie die Aussage „wenn der Großteil am Leben nicht mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab“.6 Also ist es vor allem die anhaltende Notsituation, die Krise in vielen oder allen Bereichen des Lebens, in der Sprache und Worte nichts mehr ausrichten können. Dann bleibt der Dritte Raum verschlossen, denn es gibt weder Worte, auf die man reagieren könnte, noch Worte, die ausdrücken können, was jemand empfindet. Dennoch erlaubt Herta Müller der Schriftstellerin Hanna Krall, dass ihre Sätze selbst in der Beschreibung einer schrecklichen wahren Geschichte gerecht werden. „Die Sätze reden und horchen gleichzeitig, und sie rücken mich beim Lesen in die schier unaushaltbare Nähe von Tatsachen.“7 Also ist es die einfachste Beschreibung der Wahrheit, die dieser am gerechtesten werden. Versucht man, mit Kommentaren und eigener Stellungnahme etwas hinzuzufügen, werden die Worte leer und bedeutungslos. Auf unterschiedliche, verschiedenen Schriftstellern ganz eigene Art und Weise, erreichen sie das gleiche Ziel bei Herta Müller: „Sie fesseln mich an ihre Sätze und verblüffen mich, daß ich noch einmal neben mir stehe und mit den Sätzen an meinem eigenen Leben arbeiten muss.“8 Diese Auseinandersetzung mit den Werken anderer Autoren fordert wiederum eine Neuverhandlung und schafft einen Raum, in dem mehrere Welten aufeinander treffen und zu etwas Neuem werden.
Mit dem Fokus auf Sprache und Worte, den Unterschied zwischen deutschem Dialekt, Rumänisch und Hochdeutsch, illustriert Herta Müller den Dritten Raum der subjektiven Weltwahrnehmung, kodiert durch Worte und deren Erinnerung und Erlernung. Sie kommt zu dem Fazit, dass zwischen Sprachen eine „Verschiebung“ und „Verwandlung“ stattfindet, und damit „jeder Satz ein [] anderer Blick“ ist.9 Der letzte Absatz des Essays lässt den Leser noch weit nach Beendigung der Lektüre darüber nachdenken. Im Kontext von Brutalität, verfehltem Humor und der Frage der Heimat, muss man sich fragen, was die eigenen Worte anrichten. Denn Worte sind immer ein Mittel, mit denen man einen neuen Raum schafft. Worte haben immer eine Auswirkung auf die Menschen und die Welt um uns herum. Der Dritte Raum der Zukunft wird ständig von Menschen neu geschaffen, und Worte sind die Steine, mit denen dieser Raum gebaut wird. „Sprache war und ist nirgends und zu keiner Zeit ein unpolitisches Gehege, denn sie läßt sich von dem, was einer mit dem anderen tut, nicht trennen.“10 Worte und Sprache kreieren sowohl einen neuen, dritten Raum der Wahrnehmung und Realität, als dass sie nie ausreichen, um den „dritten Raum“ der Gedanken vollkommen auszudrücken.
[...]
1 Müller, Herta. In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Ders.: Der König verneigt sich und tötet. Fischer Taschenbuch Verlag. 2. Auflage. Frankfurt am Main 2009, S.8.
2 Ebd. S. 13.
3 Ebd. S. 15.
4 Ebd. S. 20.
5 Ebd. S. 14
6 Ebd. S. 15 und 31.
7 Ebd. S. 22
8 Ebd. S. 23
9 Ebd. S. 25
10 Ebd. S. 39
- Quote paper
- Josefine Stahl (Author), 2019, Zu Herta Müllers Essay "In jeder Sprache sitzen andere Augen". Der Dritte Raum als subjekte Wahrnehmung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1030853
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.