Im vorliegenden Essay geht es um die deutsche Islamdebatte aus einer religionsethnologischen Sicht. Identitätspolitik, Säkularismus, Religionsfreiheit sowie das Konzept der Zivilregion stehen dabei im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Gehört der Islam zu Deutschland? Und wenn ja, welcher Islam?
Essay
Die deutsche Islamdebatte
Säkularismus, Zivilreligion oder Religionsfreiheit?
Abgabedatum: 19.04.2020
„Nein. Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Einer Umfrage zufolge stimmte 76 Prozent der deutschen Bevölkerung dieser Aussage des Bundesinnenministers Horst Seehofer aus dem Jahr 2018 zu. Deutschland sei durch das Christentum geprägt, fügte er hinzu, „die bei uns lebenden Muslimen gehören selbstverständlich zu Deutschland.“ (Die Zeit 13/2018) Damit entfachte Seehofer einen Diskussionsstreit, der seit Jahren und immer stärker die deutsche Gesellschaft spaltet.
Die Debatte ist sehr komplex. Es geht um die kontroverse Beziehung von Staat und Religion, um die verfassungsgarantierte Religionsfreiheit in Deutschland, um den Schutz von Religionsminderheiten, um Religion als Identität und Kultur, um Religion als individuelle Spiritualität sowie um die Rolle der Religion für eine politische Gemeinschaft namens Nationalstaat. Komplex ist die Debatte zudem auch, weil jeder ein anderes Verständnis von Religion hat.
Die Debatte macht aber eines deutlich: hingegen das Selbstverständnis der Moderne von säkularisierten Gesellschaften und laizistischen politischen Ordnungen ist Religion immer noch gesellschaftlich und politisch omnipräsent. Eine zentrale Einsicht der Postmoderne ist, dass Gemeinschaften, darunter auch politische Gemeinschaften wie Nationalstaaten, für ihre Entstehung und Fortbestehung einen gewissen Grad an Religiosität voraussetzen (vgl. Durkheim 2007: 625), auch wenn man hierbei nicht von Religion, sondern von Zivilreligion und „Leitkultur“ spricht.
Exemplarisch an der deutschen Islam-Debatte wird in diesem Essay auf die Funktionalität der Religion in der deutschen Gesellschaft eingegangen. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Zivilreligion, die vor allem das Verhältnis von religiöser Imaginiertheit der modernen Nationalstaaten (vgl. Anderson 1983) und deren kodifizierter „Neutralität“ in Bezug auf Religion beschreibt. Theoretisch werden dabei der psychologische Ansatz von Gustav Jung, der funktionalistischer Ansatz von Durkheim sowie der symbolisch-interpretative Ansatz von Geertz herangezogen.
Die Islam-Debatte zeigt zwei Konfliktlinien der deutschen Gesellschaft: Zum einen geht es um einen Konflikt zwischen Säkularität und Religiosität des Staates, zum anderen um die Frage nach einem Übergang von der „konfessionellen Parität“ zu einer „allgemeinen Pluralität“ (Die Zeit 16/2004), eine Frage der Zeit also, die sich vor allem eine globalisierte Einwanderungsgesellschaft zu stellen hat.
Das wird in der Äußerung von Horst Seehofer daran deutlich, dass er eine Trennung zwischen den Religionsanhägern und der Religion selbst vornimmt: den Muslimen, die „selbstverständlich zu Deutschland gehören“, und dem Islam, der nicht zu Deutschland gehöre. Implizit unterscheidet er damit zwischen zwei Dimensionen der Religion, nämlich zwischen der privaten Ausübung von Religion einerseits und der Religion als einem gesellschaftsrelevanten Faktor anderseits. Kann diese dichotome Sichtweise auch auf die unterschiedliche Funktionen von Religion übertragen werden und inwieweit ist sie aus religionsethnologischer Perspektive angemessen?
Zu bemerken ist zunächst, dass Religion als „letztgültige Signifikanz“ (VL Funktionalismus/Strukturalismus) sich nicht universell definieren lässt und ist vielmehr eingebettet in der jeweiligen Gesellschaft und Zeit zu verstehen (VL Psychologische Ansätze). Klassische Theorien der Ethnologie richteten auch ihren Augenmerk auf bestimmte Dimension von Religion.
In Bezug auf die Funktion von Religion liegt der Fokus bei den psychologischen Ansätzen von Sigmund Freud (1856 – 1939) und Carl Gustav Jung (1875 – 1961) ausschließlich auf der individuellen Dimension der Religion.
Nach Freud ist Religion als Resultat der Erziehung und Sozialisation eine Art „infantiler Zwangsneurose“, die auf den Ödipus-Komplex zurückgeht und zu heilen ist. Sie spendet zwar Trost und psychologischen Schutz, indem sie zum Beispiel die realen Gefahren verschleiert, sie ist aber eine „kollektive Illusion“, die weder für einzelnen Individuen noch für gemeinschaftliche Koexistenz eine Notwendigkeit darstellt, und deshalb möglichst aus den modernen Gesellschaften zu verbannen gilt (Freud 1927 und VL Psychologische Ansätze).
Im Freuds Sinne kann man auch den Islam kritisieren, dass er aus einer archaischen und patriarchalischen Zeit stammt und nichts in der „modernen“, von Rationalität geprägten deutschen Gesellschaft nichts zu suchen hat. Das wäre jedoch zum einen eurozentristisch, zweitens einseitig, da man mit derselben Logik auch das Christentum kritisieren kann, und drittens wissenschaftlich inkorrekt, wie der jüngere Psychologe Gustav Jung bereits einige Jahre nach Freuds Tod das zeigte.
Gustav Jung hingegen erachtet Religion als etwas dem menschlichen Wesen inhärentes, als ein menschliches Bedürfnis:
„Ja, jeder krankt an letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“ (Jung 1963: 362) Religion ist für Jung ein „geoffenbarter Heilsweg“ (Jung 1963: 216), der Menschen hilft, nicht „gänzlich den untersten Schichten des Unbewussten ausgeliefert zu sein“ (VL Psychologische Ansätze). Dabei definiert er Religion als Spiritualität, die nicht mit gesellschaftlichen Institutionen von Religion in Form von Konfessionen oder Kirchen zu tun hat (ebd.).
Ausgehend von einem funktionalistischen Religionsverständnis argumentiert auch der Gründervater der ethnologischen Feldforschung Bronislaw K. Malinowski (1884 – 1942), dass Religion individualpsychologische Funktionen erfüllt. Im Gegensatz zu Gustav Jung ist Religion nach Malinowski jedoch ein Ergebnis der strategischen Handlungen der Menschen in Reaktion auf ihre basic needs und natürliche Gegebenheiten. Religion spende Trost und ein Gefühl der Sicherheit. Malinowski betont die zentrale Bedeutung von religiösen Ritualen, die zudem „Integrität und Kontinuität der Gesellschaft [fördern], indem sie den Teilnehmern die Gewissheit gäben, mitsamt dem Kollektiv seinen Platz innerhalb einer festgefügten kosmologisch begründeten Ordnung einzunehmen.“ (Beer und Fischer 2003: 209) In diesem Sinne kann die Äußerung von Seehofer so verstanden werden, dass die Präsenz von Islam in Deutschland unproblematisch sei, solange er nur in Form von individueller Spiritualität zu Hause ausgeübt wird und keine institutionelle Gestalt mit einer gesellschaftlicher Prägekraft einnehme. Dem würden wahrscheinlich auch viele „säkularen“ und „nicht-religiösen“ Menschen zustimmen, die sowieso für eine Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum sind. Wie oben bereits argumentiert, würde dieselbe Logik aber auch für die christliche Religion gelten, genau im Sinne der in der deutschen Verfassung garantierten Religionsfreiheit.
In der Islam-Debatte geht es nicht nur um die Ablehnung des Islam, sondern auch um die Vorrangstellung des Christentums durch einen Repräsentanten des deutschen Staates, der sich verfassungsmäßig der Neutralität verpflichtet hat. Welche Rolle spielt noch Religion im modernen deutschen Nationalstaat, dessen Recht und Ordnung getrennt von der Religion im Grundgesetz verankert ist? Diesen Aspekt der Religion lässt sich mit der funktionalistischen Theorie von Durkheim und der symbolistischen Theorie von Geertz verstehen.
Wie in seinem gesamten soziologischen Theoriegebäude befasst sich der französische Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim (1858 – 1917) in seiner Religionstheorie mit der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der Kern seiner Religionstheorie, skizziert in seinem Werk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (1912), bildet die binäre Einteilung der Welt in profan und sakral. Das alltägliche Leben und alles Gewöhnliche, was Individuen gestalten und beeinflussen können, sind profan. Sakral ist hingegen das Überindividuelle, aber auch das Verbotene in einer Gesellschaft, „das den Lebenden zeitlich vorangehe, sie beschütze, belehre, ernähre, dominiere, bestrafe und sie letzten Endes auch überlebe.“ (Beer und Fischer 2003: 208) Das ist genau das Bindeglied zwischen Individuen und Gesellschaften, die mehr ist als die Summer ihrer Teile.
Das Sakrale ist aber auch nichts anderes als représentations collectives, also kollektive Vorstellungen einer Gesellschaft, die auch Normen und Institutionen einschließen. Und die Funktion der Religion besteht allein darin, diese kollektiven Vorstellungen in sakrale System zu transformieren. Für Durkheim ist Religion also etwas Gesellschaftliches, weshalb er „nicht-öffentliche Praktiken, wie z. B. Magie, aus seiner Definition von Religion ausschließt.“ „Die Gesellschaft sakralisiere sich selbst als über-individuelle Instanz mit absoluter Autorität.“ (Beer und Fischer 2003: 208) „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verborgene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“ (Durkheim 2007: 76) Vergesellschaftung ist also nach Durkheim die zentrale Funktion der Religion. Zudem hat Religion die Funktion der Integration von Individuen in einer Gesellschaft, der Vermittlung von Werten und Normen sowie eine psychologisch-kognitive Funktion des Kollektivbewusstseins (vgl. Hammer 2015: 82/84). Religion und Gesellschaft bedingen sich gegenseitig (ebd.: 85) und der Mensch wird nur zu einer Person, also zu einem Mitglied der Gesellschaft, durch das, „was er mit anderen Menschen gemein hat“ (Durkheim 2007: 399).
Laut Durkheim braucht also eine Gesellschaft ein Kollektivbewusstsein, das die Form von Moral, Religion oder anderen gemeinsamen Überzeugungen annehmen kann (Hammer 2015: 82). Damit ist dann das theoretische Fundament für das Konzept der Zivilreligion gelegt, welches die Beziehung zwischen Nation, Politik und Religion thematisiert (ebd.: 33). Dazu schreibt Durkheim:
„welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündung der Zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern?“ (Durkheim 2007: 625).
In diesem Zusammenhang schreibt der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (1976: 60), der moderne Staat lebe „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Was können diese Voraussetzungen sein? In einigen Staaten, vor allem islamischen, ist das die Staatsreligion, die die Nation vereint bzw. vereinen soll. Seehofer verweist auf kollektive Werte- und Moralvorstellungen – auch unter dem Begriff „Leitkultur“ debattiert –, die durch das Christentum (und Judentum) geprägt würden. Abgesehen von der Parteipolitik Seehofers geht es in dieser Debatte letzten Endes darum, was man in der deutschen Gesellschaft als gemeinschaftsfördernd und nation-bildend erachtet: (christliche) Religion oder Zivilreligion – ohne eine der beiden ist anscheinend eine nationale Einheit unmöglich.
Denn Nationen seien „imagined communities“, so einer der bekanntesten Nationalismusforscher Benedict Anderson (1983: 49), weil „the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion.“ Und “a religion is a system of symbols which acts to establish powerful, pervasive, and long-lasting moods in men by formulating conceptions of a general order of existence and clothing those conceptions with such an aura of factuality that the moods and motivations seem uniquely realistic.” (Geertz 1973: 90) Die Definition von Nation und Religion zeigen ihre frappierende Ähnlichkeit. Der Prozess der Nation Building erfordert also die eine Art Religion, die die Vorstellung von einer Nation formt und das Konzept von Nationalstaat in die Realität umsetzt. In Staaten ohne eine Staatsreligion ist das Zivilreligion.
Der Begriff der Zivilreligion geht auf den französischen Philosophen der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), der ein Kapitel seines Werkes „Der Gesellschaftsvertrag“ (1762) der „bürgerlichen Religion“ widmete (Rousseau 2012: 175ff.). Begrifflich besteht sie aus zwei Teilen, dem Zivilen und des Religiösen, sodass man sie als „Religion der Bürger eines Nationalstaates“ übersetzen kann (vgl. Hammer 2015: 28). Prominent wurde das Konzept der Zivilreligion jedoch durch den amerikanischen Soziologen Robert N Bellah (1927 – 2013), der die „Civil Religion in America“ (1967) erforschte. Mit dem Begriff der Zivilreligion beschreibt Bellah die Idee einer kollektiven moralischen Ethik, die als das bindende Glied der amerikanischen Gesellschaft von den Politikern und Bürgern in Form von Ritualen und Symbolen öffentlich präsentiert werden. Dabei bezieht er sich in erster Linie auf die Idee von Durkheim, dass jede Gesellschaft eine Art Kollektivbewusstsein braucht, das er Zivilreligion nennt. Er Schreibt:
„Behind the civil religion at every point lie Biblical archetypes: Exodus, Chosen People, Promised Land, New Jerusalem, Sacrificial Death and Rebirth. But it is also genuinely American and genuinely new. It has its own prophets and its own martyrs, its own sacred events and sacred places, its own solemn rituals, and symbols. It is concerned that America be a society as perfectly in accord with the will of God as men can make it, and a light to all the nations.” (Bellah 1967: 18)
Die amerikanische Zivilregion ist zwar stark christlich geprägt, aber sie ist ein Ergebnis von Kompromissen.
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- Quote paper
- Anonymous,, 2020, Die deutsche Islamdebatte. Säkularismus, Zivilreligion oder Religionsfreiheit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1030442
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