Diese Hausarbeit möchte folgender Frage nachgehen: Auf welche Weise kann ein kreativer, schülerorientierter Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur zur Kompetenzentwicklung von Französischlernenden beitragen? Anhand des Bilderbuches Paris Rutabaga. Souvenirs d’enfance 1939-1945 von Jean-Louis Besson soll exemplarisch veranschaulicht werden, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten französische kinder- und jugendliterarische Texte fördern. Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes „Kompetenz“ existiert nicht. Der bekannteste und am weitesten entwickelte Ansatz stellt die Erläuterung des deutschen Psychologen Franz Weinert dar. Kompetenzen gelten demnach als die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.
Weinerts Begriffsbestimmung deutet auf das Zusammenwirken von Kenntnissen, Grundhaltungen und Handlungsweisen eines Menschen in bestimmten Situationen hin. Seit der Entdeckung von Kinder- und Jugendliteratur als Gegenstand des Französischunterrichts haben sich innerhalb der Fremdsprachendidaktik unzählige Verfahren etabliert, die Schüler zu Eigeninitiative und divergentem / problem-lösendem Denken bzw. Verhalten (Merkmale: Originalität, Produktivität und Schöpferkraft) im Umgang mit fiktionalen Texten anregen. Sie betonen sowohl das kreative Potenzial von Literatur, das in der kontinuierlichen Hervorbringung von Bedeutungen besteht, als auch den konstruktiven Lese- und Verstehensprozess, in welchem neue Eindrücke mit bestehenden Erfahrungen verknüpft werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen zum Thema „Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht“
2.1 Definitionsansatze des Begriffes „Kinder- und Jugendliteratur“
2.2 Argumente fur und gegen die unterrichtliche Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur im Fach Franzosisch
2.3 Zielsetzungen beim Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht
2.4 Methodische Verfahren im Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht
2.4.1 La lecture en classe
2.4.2 La lecture individuelle
2.4.3 La lecture interactive
2.4.4 Le Prix des lyceens allemands
2.5 Die Rezeptionsasthetik als literaturwissenschaftliche Theorie und ihr Einfluss auf die Literaturdidaktik sowie auf den fremdsprachlichen Literaturunterricht
2.6 Kinder- und jugendliterarische Texte in den bildungspolitischen Vorgaben: Die nationalen Bildungsstandards und das hessische Kerncurriculum
3. Unterrichtspraktischer Teil der Wissenschaftlichen Hausarbeit zum Thema „Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht“
3.1 Analyse des Bilderbuches Paris Rutabaga. Souvenirs d'enfance 1939-1945 von Jean-Louis Besson
3.2 Bericht uber die Erprobung einer Unterrichtseinheit zu dem Bilderbuch Paris Rutabaga. Souvenirs d'enfance 1939-1945 von Jean-Louis Besson
3.2.1 Erlauterung der Unterrichtsbedingungen
3.2.1.1 Schulprofil des Max-Planck-Gymnasiums in GroB-Umstadt
3.2.1.2 Stand des Faches Franzosisch am Max-Planck-Gymnasium
3.2.1.3 Lerngruppenanalyse
3.2.2 Darstellung und Begrundung der Hauptlernziele der Unterrichtseinheit
3.2.3 Ablauf der durchgefuhrten Unterrichtsstunden
3.2.4 Beschreibung und Auswertung der Lernergebnisse
3.2.5 Reflexion der Unterrichtseinheit
4. AbschlieBende Bemerkungen
5. Conclusion et perspectives
6. Literatur- und Quellenverzeichnis
Der Anhang wurde aus urheberrechtlichen Grunden von der Redaktion entfernt
1. Einleitung
Mitte der 1990er Jahre stellten hessische Franzosischlehrer zunehmend fest, dass Lehrwerke und die in ihnen enthaltenen Texte nicht in ausreichendem MaBe der Vorbereitung der Schuler 1 auf die Lekture authentischer Literatur dienten. Sie stieBen auf franzosische Kinder- und Jugendliteratur (KJL) und setzten diese im Unterricht der Sekundarstufe I ein. Verschiedene Faktoren begunstigten die rasche Verbreitung von Kinder- und Jugendliteratur als Gegenstand des Franzosisch- unterrichts: Projekte und Publikationen u.a. des Hessischen Landesinstituts fur Padagogik in Wiesbaden (HeLP), der „PISA-Schock“ und damit einhergehend die starkere Berucksichtigung der Lesekompetenz (inkl. der unterschiedlichen Lese- stile und -techniken), der vermehrte Einsatz von schulerorientierten Unterrichts- methoden in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die Anziehungskraft der Bucher selbst sowie schlieBlich die Mitwirkung seitens franzosischer Kultur- institute (vgl. Caspari, 2007, S. 9).
Kinder- und Jugendliteratur gewinnt heute zunehmend an Attraktivitat fur Schuler und Lehrer. Die Aufnahme von Textbeispielen aus Bilderbuchern, Erzahlungen bzw. Romanen in neue Lehrwerke und die positive Resonanz des Prix des lyceens allemands belegen das starke Interesse an dieser literarischen Gattung (vgl. Topf, 2009, S. 2). Es ist anders als vor einem Jahrzehnt, nicht mehr notwendig, die Lekture von KJL im Franzosischunterricht zu rechtfertigen“ (Caspari, 2007, S. 13). Bisher sind in der Fremdsprachendidaktik neben stark anwendungsbezogenen Beitragen kaum Veroffentlichungen mit einem umfassenden Forschungsuberblick zu Kinder- und Jugendliteratur erschienen (vgl. ebd., S. 14).
Diese Hausarbeit mochte folgender Frage nachgehen: Auf welche Weise kann ein kreativer, schulerorientierter Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur zur Kompetenzentwicklung von Franzosischlernenden beitragen?
Anhand des Bilderbuches Paris Rutabaga. Souvenirs d'enfance 1939-1945 von Jean-Louis Besson soll exemplarisch veranschaulicht werden, welche Fahigkeiten und Fertigkeiten franzosische kinder- und jugendliterarische Texte fordern.
Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes „Kompetenz“ existiert nicht. Der bekannteste und am weitesten entwickelte Ansatz stellt die Erlauterung des deutschen Psychologen Franz Weinert dar. Kompetenzen gelten demnach als die bei Individuen verfugbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fahigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu losen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fahigkeiten, um die Problemlosungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu konnen (Weinert, 2001, S. 27f.).
Weinerts Begriffsbestimmung deutet auf das Zusammenwirken von Kenntnissen, Grundhaltungen und Handlungsweisen eines Menschen in bestimmten Situationen hin (vgl. Bonnet / Breidbach, 2013, S. 22f.).
Seit der Entdeckung von Kinder- und Jugendliteratur als Gegenstand des Franzosischunterrichts haben sich innerhalb der Fremdsprachendidaktik unzahlige Verfahren etabliert, die Schuler zu Eigeninitiative und divergentem / problem- losendem Denken bzw. Verhalten (Merkmale: Originalitat, Produktivitat und Schopferkraft) im Umgang mit fiktionalen Texten anregen (vgl. Caspari, 1994, S. 53; vgl. Topf, 2009, S. 3). Sie betonen sowohl das kreative Potenzial von Literatur, das in der kontinuierlichen Hervorbringung von Bedeutungen besteht, als auch den konstruktiven Lese- und Verstehensprozess, in welchem neue Eindrucke mit bestehenden Erfahrungen verknupft werden (vgl. Caspari, 1994, S. 140-148).
Fremdsprachliche Kinder- und Jugendliteratur weist einen hohen Bildungswert - im Sinne der Personlichkeitsentwicklung von Schulern - auf: Sie lasst Lernende am gesellschaftlichen Leben der Zielsprachenkulturen teilhaben und schult so die Fahigkeit zum Fremdverstehen (Stichworte: Toleranz, Empathie und Perspektiven- ubernahme). Daruber hinaus unterstutzt sie die spielerische Auseinandersetzung mit poetischer Sprache und die subjektive ErschlieBung der realen Welt (vgl. Bredella, 2002, S. 150; vgl. Delanoy, 2007, S. 169-174). Der unterrichtliche Einsatz von fiktionalen Texten fur Heranwachsende im Fach Franzosisch bietet eine Alternative zu den haufig wenig ansprechenden Lehrwerken und kann dem Motiva- tionstief bei Schulern am Ende der Sekundarstufe I entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund habe ich mich entschieden, meine Examensarbeit zum Thema „Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht“ zu verfassen. Sie stellt eine mogliche Orientierungshilfe fur meine Tatigkeit als kunftige Franzosischlehrerin dar.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit umfasst die theoretischen Grundlagen zum obigen Thema: Zunachst erlautere ich verschiedene Uberlegungen zur Definition des Begriffes „Kinder- und Jugendliteratur“ und benenne gangige Argumente fur bzw. gegen die unterrichtliche Verwendung von kinder- und jugendliterarischen Texten im Fach Franzosisch. Daraufhin lege ich allgemeine Zielsetzungen und bewahrte Methoden im Umgang mit franzosischer Kinder- und Jugendliteratur dar. Zudem gehe ich auf die literaturwissenschaftliche Theorie der Rezeptionsasthetik ein, die den fremdsprachendidaktischen Diskurs seit den 1980er Jahren maBgeblich beeinflusst. Sie hat einen erheblichen Anteil an der Verbreitung kreativer Verfahren in der schulischen Praxis. SchlieBlich analysiere ich anhand neuer bildungs- politischer Vorgaben (Bildungsstandards fur den mittleren Schulabschluss in den Fachern Englisch und Franzosisch sowie das hessische Kerncurriculum in den modernen Fremdsprachen fur die Sekundarstufe I Gymnasium) den schweren Stand (kinder- und jugend)literarischer Texte im Zuge der Ausrichtung des Unterrichts auf die Leitprinzipien der Standardisierung und Kompetenzorientierung.
Im Mittelpunkt des zweiten, praktischen Teils dieser Arbeit steht die Abhandlung uber eine Unterrichtseinheit, die ich zu der Lekture Paris Rutabaga. Souvenirs d'enfance 1939-1945 konzipiert und in der Lerngruppe 9 A / D des Max-Planck- Gymnasiums in GroB-Umstadt zwei Wochen lang - im Dezember 2016 - durch- gefuhrt habe. Der Bericht beinhaltet neben der Erlauterung von Unterrichtsvoraus- setzungen eine Beschreibung der gehaltenen Stunden (in ihrem Ablauf, inkl. der Hauptlernziele), eine Auswertung und Reflexion der Unterrichtseinheit. Auch wird der bereits erwahnte kinder- und jugendliterarische Text analysiert.
AbschlieBende Bemerkungen sowohl in deutscher als auch in franzosischer Sprache runden die Examensarbeit ab.
2. Theoretische Grundlagen zum Thema „Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht“
2.1 Definitionsansiitze des Begriffes „Kinder- und Jugendliteratur“
Die deutsche Bezeichnung „Kinder- und Jugendliteratur“ (auf Franzosisch: litterature de jeunesse) weist auf eine „Adressatengruppe vom Saugling bis hin zum jungen Erwachsenen“ (O'Sullivan / Rosler, 2002, S. 68) sowie auf einen „Korpus unterschiedlicher Texte wie Bilderbucher fur Kleinstkinder, Erstlesebucher fur Erstklassler, Lyriksammlungen fur bereits literaturfahige Kinder und anspruchs- volle Adoleszenzromane“ (ebd.) hin. Angesichts der enormen Bandbreite der Kinder- und Jugendliteratur - Texte mit betrachtlichen Unterschieden in Komplexitat und asthetischer Qualitat - ist es problematisch, die Ausdrucke „Kinderliteratur“, „Jugendliteratur“ sowie „Kinder- und Jugendliteratur“ zu verwenden. Ebenso ist es nicht moglich, dieser Literaturgattung in ihrer Gesamtheit Merkmale (z.B. einfache Sprache, durchschaubare Handlung und unkritische Erzahlhaltung) zuzuordnen, die lediglich fur einen Teil gelten (vgl. ebd., S. 69).
In didaktischen Debatten und Abhandlungen wird innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur nicht differenziert. Dagegen unterscheidet die Kinder- und Jugend- literaturforschung in Deutschland zwischen verschiedenen Termini, um der Heterogenitat des kulturellen Phanomens „Kinder- und Jugendliteratur“ gerecht zu werden (vgl. ebd., S. 67). So fuhrt Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, ehemaliger Direktor des Instituts fur Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe- Universitat in Frankfurt am Main, zwei Definitionsreihen an. Als Grundlage dienen die Kriterien „literaturbezogene Handlung“ - Auswahl von Lekturen und Absichts- erklarungen - und „Text“ - Sammlung von Werken mit nahezu identischen Charakteristika (vgl. Ewers, 2000, S. 5f.).
Zur ersten Definitionsreihe (Korpusbildung auf literarischer Handlungsebene) gehoren die Kinder- und Jugendlekture, die intentionale Kinder- und Jugend- literatur, die intendierte bzw. nicht-intendierte Kinder- und Jugendlekture, die positiv sanktionierte bzw. negativ sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur sowie die spezifische Kinder- und Jugendliteratur (vgl. ebd., S. 2-5): Der Begriff „Kinder- und Jugendlekture“ beschreibt alle Bucher, die von Kindern und Jugendlichen wirklich gelesen werden. Die intentionale Kinder- und Jugendliteratur umfasst Werke, die nach Ansicht von Erwachsenen (u.a. Lehrer, Eltern, Verleger, Kritiker) fur Kinder und Jugendliche geeignet sind. Es handelt sich dabei um literarische Texte, die zwar ursprunglich nicht fur Heranwachsende verfasst, aber altersgerecht angepasst wurden. Die intentionale Kinder- und Jugendliteratur (auch „intendierte Kinder- und Jugendlekture“ genannt) wird teilweise von Kindern und Jugendlichen gelesen. Die nicht-intendierte Kinder- und Jugendlekture beinhaltet Bucher, die nicht fur Heranwachsende bestimmt sind. Sie bleibt un- entdeckt (heimliche Lekture) oder wird mit allen Mitteln bekampft (verbotene Lekture). Manchmal trifft sie auf Akzeptanz (tolerierte Lekture). Bis Mitte des 18. Jahrhunderts konkurrierten einflussreiche Institutionen (z.B. die Kirchen, weltliche Bildungsinstanzen, die literarische Offentlichkeit) sowie Drucker und Verleger um die Entscheidungshoheit uber die fur Kinder und Jugendliche angemessene Lekture. Eine Aufteilung der intentionalen Kinder- und Jugend- literatur in eine positiv sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur (Werke, die den Erwartungen obiger Institutionen entsprachen) und eine negativ sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur (von Druckern bzw. Verlegern veroffentlichte Bucher unter VerstoB gegen damalige WertmaBstabe) war die Folge. Ab Ende des 18. Jahrhunderts veranderte sich die Auffassung von Kindheit und Jugend. Es entwickelte sich die spezifische Kinder- und Jugendliteratur, die speziell fur Heranwachsende geschrieben und publiziert wurde. Sie ist heutzutage umfangreich und stellt den „Prototyp von Kinder- und Jugendliteratur“ (Ewers, 2000, S. 5) dar. Zur zweiten Definitionsreihe (Korpusbildung auf Textebene) zahlen die Erziehungs- und Sozialisationsliteratur (in Bezug auf Inhalte, die fur das Hineinwachsen in die literarische Welt als forderlich erachtet werden), die an Kinder und / oder an Jugendliche adressierte Literatur (hinsichtlich ihrer Eigen- schaften, die sich direkt an junge Leser richten), die kind- oder jugendgemaBe Literatur (Bucher, die das Alter und den Entwicklungsstand eines Heranwach- senden beachten), die Anfanger- und Einstiegsliteratur (Ermoglichung des litera- rischen Lernens durch Merkmale der Einfachheit) sowie die Kinder- und Jugend- literatur als Bestandteil der Kunstliteratur / als Art der Volkspoesie (Werke, die Normen neuerer und alterer Hochliteratur befolgen; vgl. ebd., S. 7-9).
Hans-Heino Ewers hebt hervor, dass eine allgemeingultige Definition auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur angesichts dieses nicht klar umrissenen Gegenstandsfeldes nicht existieren konne und auch sinnlos sei (vgl. ebd., S. 2).
In beiden Definitionsreihen fallt die „Asymmetrie der Kommunikation“ ins Auge, d.h. die Zuordnung von literarischen Texten an Kinder und Jugendliche geschieht meistens durch Erwachsene (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S. 27). Kinder- und Jugendliteratur muss sich allerdings an den Interessen und Fahigkeiten ihrer jungen Leser orientieren, um von der betreffenden Adressatengruppe gelesen zu werden.
2.2 Argumente fur und gegen die unterrichtliche Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur im Fach Franzosisch
Die Frage, ob kinder- und jugendliterarische Texte im Fremdsprachenunterricht eine Rolle spielen sollten, wird seit Jahren kontrovers diskutiert (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2008, S. 4). Nachfolgend zahle ich verbreitete Argumente fur bzw. gegen den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht auf:
Einerseits besitze Kinder- und Jugendliteratur eine „doppelte Bruckenfunktion“ (Caspari, 2007, S. 12): Sie verweise auf die Erfahrungswelt von Schulern und trage maBgeblich zu ihrer literarischen Sozialisation bei, indem sie auf die Lekture allgemeiner Literatur vorbereite 2 . Durch die Thematisierung von existenziellen Fragen und Problemen, die Heranwachsende beschaftigen (u.a. in den Bereichen Freundschaft, Liebe, Sexualitat, Identitatssuche, Krankheit, Tod, Ausgrenzung und Gewalt), knupfe Kinder- und Jugendliteratur an den Alltag der jungen Leser an (vgl. Mertens, 2007, S. 4). Dieser Realitatsbezug ermogliche Kindern und Jugendlichen, nicht nur andere Personen sowie deren Lebensverhaltnisse kennenzulernen, sondern auch das eigene Ich zu erkunden und innere Empfindungen zu klaren: « Comme toute fiction, la litterature propose au lecteur une grille de lecture de sa propre vie. Dans une conversation virtuelle, elle l'aide a grandir et a avancer » (ebd., S. 6). Auch forderten kinder- und jugendliterarische Texte den Prozess des Hineinwachsens in die literarische Welt. Nach Dr. Jorg Steitz-Kallenbach (Mitglied der „Gesellschaft fur Kinder- und Jugendliteraturforschung“) lernt ein Individuum hierbei, sich die Literatur zunutze zu machen und sie als Kunstform mit einer besonderen asthetischen Qualitat (Merkmale der Mehrdeutigkeit und der Verfremdung von Realitat Wirkung: Irritation, Forderung der Imagination des Lesers mithilfe seiner Vorerfahrungen und Wertvorstellungen) aufzufassen (vgl. Haug, 2005, S. 2). Insbesondere franzosische Kinder- und Jugendbucher dienten der Sprachentwicklung von Schulern. Deshalb sei es wichtig, diese bereits in der Sekundarstufe I einzufuhren, um Lernende fruhzeitig an Erzahlweisen, Bild- symbole der frankophonen Kulturen sowie an die Dekodierung zielsprachlicher Muster zu gewohnen und sie auf die allgemeine Literatur in der Sekundarstufe II vorzubereiten. Nur so konnten Schuler auf lange Sicht zur Lekture franzosischer Literatur angeregt werden (vgl. Boberg, 2007, S. 21; vgl. Burwitz-Melzer, 2007b, S. 221).
Die formalen und sprachlichen Merkmale von Kinder- und Jugendliteratur (geringe Komplexitat, uberschaubare Lange, kurze Kapitel, viele Dialoge, aktuelles und adressatengerechtes Vokabular sowie jugendliche Protagonisten bzw. Ich-Erzahler, die Identifikationsmoglichkeiten bieten) erleichterten deren ErschlieBbarkeit und erhohten somit die Lesemotivation der Schuler (vgl. Mertens, 2007, S. 5).
Durch die Behandlung konfliktgeladener Themen (z.B. die deutsch-franzosischen Beziehungen oder die oftmals prekaren Lebensbedingungen von Migranten in Frankreich aus der Perspektive von Betroffenen) leiste franzosische Kinder- und Jugendliteratur zudem einen Beitrag zur Entwicklung der interkulturellen Kompetenz von Lernenden (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2002, S. 81-86): Auf der Grundlage von erworbenem landeskundlichen Wissen uber Politik, Geschichte und Gesellschaft Frankreichs bzw. anderer frankophoner Lander erlangten Schuler die Fahigkeit, offen auf andere Kulturen zuzugehen, fremde Denk- und Verhaltens- weisen zu erkennen, zu respektieren und die eigene Haltung zu uberdenken (vgl. Nieweler, 2006a, S. 317). Interkulturelles Lernen stelle ein Hauptziel des modernen Fremdsprachenunterrichts und einen nie abgeschlossenen Prozess dar (vgl. Caspari / Schinschke, 2000, S. 469).
Andererseits sind - Britta Boberg zufolge - einige Franzosischlehrer der Meinung, dass Oberstufenschuler schon allein aufgrund der geringen Anzahl an Wochen- stunden im Fach Franzosisch vorzugsweise kanonisierte und in Frankreich angesehene Literatur lesen sollten (vgl. Boberg, 2007, S. 20). Kinder- und Jugend- bucher sowie Kanonliteratur (u.a. von Camus, Sartre, Moliere) werden demnach gegeneinander ausgespielt. Des Weiteren betrachten manche Lehrkrafte Kinder- und Jugendliteratur nicht als asthetisch angemessen, da diese einen geringen Grad an Komplexitat aufweise und nicht den Lekturebedurfnissen von erwachsenen Lesern entspreche (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2002, S. 73). 3
SchlieBlich wird die AltersgemaBheit von franzosischer Kinder- und Jugend- literatur insbesondere bei Bilderbuchern mit folgendem Argument infrage gestellt: Zwischen den sprachlichen Fahigkeiten von Franzosischlernenden im jugendlichen Alter und dem Textinhalt, der auf jungere, muttersprachliche Leser gerichtet sei, bestehe eine Kluft - un ecart (vgl. Boberg, 2007, S. 20; vgl. Caspari, 2007, S. 11). Meines Erachtens besteht fur Fremdsprachenlehrer im Allgemeinen die Heraus- forderung darin, literarische Texte auszuwahlen, die sprachlich, inhaltlich und asthetisch anspruchsvoll sind, aber Lernende wahrend ihres Leseprozesses nicht frustrieren (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S. 56).
2.3 Zielsetzungen beim Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht
Der Literaturunterricht im Fach Franzosisch - oder in den Fremdsprachen generell - kann zur Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzen der Schuler beitragen. Lehr- und Lernziele lassen sich auf sprachlicher, literarisch-asthetischer, affektiver und interkultureller Ebene festlegen:
Authentische kinder- und jugendliterarische Texte dienen im Franzosischunterricht vor allem der Schulung des Leseverstehens (vgl. Caspari, 2007, S. 12). Lesen stellt eine wesentliche Kulturtechnik dar, die einem Individuum die Orientierung in einer stetig wachsenden Informationsfulle der heutigen Wissensgesellschaft sowie die Kommunikation mit anderen Menschen ermoglicht. Die gedankliche Erfassung des geschriebenen Wortes kann zudem den personlichen Erfahrungsraum er- weitern, Freude bereiten und die Urteilskraft scharfen. Auch in Zeiten zunehmender Digitalisierung hat Lesekompetenz eine hohe Bedeutung, zumal sie zur reflek- tierten Nutzung verschiedener Medien befahigt (vgl. Henseler / Surkamp, 2009, S. 4; vgl. Sobel, 2012, S. 18 / S. 42). Sowohl in der Muttersprache als auch in der Fremdsprache handelt es sich beim Lesen um einen komplexen Prozess: Auf allen Stufen (Wort-, Satz- und Textebene) entnimmt der Leser nicht nur Sinn, sondern er konstruiert Bedeutung, indem er zum einen Buchstaben, Worter, Satze, stilistische Merkmale sowie Textstrukturen entschlusselt (datengesteuerte TexterschlieBung: bottom up) und zum anderen Hypothesen auf der Grundlage seines Erfahrungs- und Wissenshorizontes bildet (wissensgesteuerte Verarbeitung: top down). Lesever- stehen ist demnach als Interaktion von Text und Leser, d.h. von bottom up - und von top down -Prozessen, aufzufassen (vgl. Sobel, 2012, S. 44-47; vgl. Blume / Nieweler, 2016, S. 3). Um Schuler zu erfolgreichen Lesern auszubilden, ist es vor allem wichtig, top down -Prozesse durch angemessene Aufgaben zu auto- matisieren. Wahrend schwachere Leser muhsam Wort fur Wort dekodieren und daher Schwierigkeiten im Bereich des Textverstehens haben, sind gute Leser in der Lage, nicht ausdrucklich genannte Informationen unter Ruckgriff auf individuelle Erfahrungen, Kenntnisse uber Textkonventionen, kulturelle Schemata 4 und Welt- wissen mental zu erganzen. Der Umgang mit literarischen Texten verdeutlicht, dass Lesen stets eine aktive Sinnkonstruktion ist, bei welcher der Rezipient die dar- gestellte Welt zu den eigenen Lebensumstanden auch mithilfe von Emotionen in Beziehung setzt (vgl. Henseler / Surkamp, 2009, S. 5f.; vgl. Blume / Nieweler, 2016, S. 3).
Im Ganzen gesehen bedingen sich beim Leseverstehen mehrere Determinanten gegenseitig (vgl. Sobel, 2012, S. 47-59): kognitive Faktoren (Intelligenz eines Menschen als eine gedankliche Leistung, die genetisch und von Umwelteinflussen gepragt ist; Arbeitsgedachtnis zur Verwertung und Speicherung von Informationen; Dekodierfahigkeit als eine fur das Lesen zentrale Kompetenz, Worter und Satze zu erfassen und zu entschlusseln; Vorkenntnisse des Lesers, u.a. Weltwissen, lexikalisches, grammatisches und thematisches Wissen), metakognitive Faktoren (Kenntnisse uber Lesestrategien und uber ihre Anwendung), affektive Faktoren (Lesemotivation, Lesehaufigkeit und innere Beteiligung des Rezipienten) sowie familiare und schulische Faktoren als Bedingungen der Lesesozialisation.
Fremdsprachliche literarische Texte stellen eine besondere Herausforderung fur Lernende dar, da sie einem anderen Kultur- und Traditionszusammenhang zugehorig sind als muttersprachliche Literatur und auf verschiedenartige Lese- und Lebensgepflogenheiten verweisen. Sie sind fur Leser mit einer groBeren Sprach- kompetenz geschrieben und erfordern daruber hinaus Vorwissen uber gattungs- spezifische Besonderheiten. Diese Fremdheit auf sprachlicher, kultureller und literarisch-asthetischer Ebene bewirkt eine Verzogerung des Lese- und Verstehens- prozesses. Fremdsprachliche literarische Texte werden dadurch aber auch auf- merksamer und bewusster gelesen (vgl. Schinschke, 1995, S. 68f.; vgl. Bartels et al., 1999a, S. 3f.).
Der Erwerb und das gezielte Einuben von Strategien ermoglichen eine Ver- besserung des fremdsprachlichen Leseverstehens. Defizite bei der Dekodierung, also bei bottom up -Prozessen, konnen somit kompensiert werden. Lesestrategien sind „mentale Handlungsplane, mit denen der Leser ein bestimmtes Leseziel erreichen soll“ (Sobel, 2012, S. 52). Sie umfassen Lesestile 5 und -techniken des Rezipienten, die ihm eine effektive Forderung seiner Lesekompetenz erlauben. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgezahlt: globales Lesen (la lecture survol, skimming} Uberfliegen eines Textes zur groben Orientierung, kursorisches Lesen (la lecture ecremage, receptive reading) Erfassung von Kernaussagen eines Textes im Hinblick auf eine konkrete Aufgabenstellung, selektives Lesen (la lecture reperage, scanning) Durchkammung eines Textes nach bestimmten Informationen zur Beantwortung einer Fragestellung, detailliertes Lesen (la lecture intensive) Verarbeitung moglichst aller Informationen eines Textes, analytisches Lesen (la lecture approfondissement) tiefgehende Auseinandersetzung mit einem Text (meistens mit einem literarischen Werk), Markierung von Schlusselwortern oder unbekanntem Vokabular, Strukturierung eines Textes durch symbolische Verweise bzw. Notizen, Formulierung von W-Fragen, Zusammenfassung, Uber- tragung des Textinhaltes in Tabellen oder Grafiken (vgl. Nieweler, 2006b, S. 116; vgl. Sobel, 2012, S. 50-53). In fachdidaktischen Zeitschriften erscheinen seit einigen Jahren Beitrage mit praktischen Vorschlagen fur den Franzosischunterricht, die veranschaulichen, wie Schuler ab dem 3. / 4. Lernjahr (Sekundarstufe I) mithilfe von Kinder- und Jugendliteratur in unterschiedlichen Lesestilen geschult werden konnen (z.B. Blumel-de-Vries, 2003, S. 68-75 oder Romig / Topf, 2016, S. 36-45). Ziel ist es dabei, Lernende zu befahigen, ihre Lesehandlung mit ihren Intentionen und dem konkreten literarischen Text in Einklang zu bringen. Durch die Vermittlung und die Anwendung von Lesestilen soll ihnen eine Hilfestellung fur eine erfolgreiche Lekture im Unterricht an die Hand gegeben werden (vgl. Blumel-de- Vries, 2003, S. 68). Nicole Romig (Franzosischlehrerin in Offenbach am Main) und Silke Topf (Fachleiterin fur Franzosisch am Studienseminar fur Gymnasien in Offenbach am Main) stellen u.a. die Methode lire contre la montre vor, die das globale bzw. das kursorische Lesen fordert. Sie haben das Verfahren mit Schulern im 3. Lernjahr Franzosisch (Niveau A2 des „Gemeinsamen europaischen Referenz- rahmens fur Sprachen“) anhand eines Kapitels aus dem Kinderbuch Les frayeurs de la baby-sitter von Jo Hoestlandt erprobt: Unter Zeitdruck (jeweils 30 Sekunden in den drei Durchgangen) sollten die Lernenden den Textabschnitt lesen und die wesentlichen Informationen erfassen. Sie machten hierbei die positive Erfahrung, dass fremdsprachliche literarische Texte auch ohne detailliertes Lesen in ihren zentralen Aussagen nachvollzogen werden konnen. Nach Ansicht von Nicole Romig und Silke Topf eignet sich die Methode lire contre la montre, um Schuler von einer zu starken Textabhangigkeit zu losen und sie zu selbstbewussten Lesern im Franzosischen auszubilden (vgl. Romig / Topf, 2016, S. 36-39).
Genauso wie der Einsatz von Strategien ubt die Lesemotivation einen groBen Einfluss auf die Leseleistung von Schulern - in der Muttersprache und in der Fremdsprache (hier: Franzosisch) - aus. Infolge des „PISA-Schocks“ im Jahre 2001 hat die Leseforschung sie zunehmend in den Blick genommen. Es wird von einer Wechselwirkung zwischen der Lesemotivation, der Lesehaufigkeit und der Lesekompetenz ausgegangen: Eine erhohte intrinsische Lesemotivation, also ein starkerer innerer Antrieb zur Beschaftigung mit Texten (u.a. mit Literatur), fuhrt zu vermehrtem Lesen und somit zu einer Steigerung der Lesekompetenz. In umge- kehrter Richtung kann eine verbesserte Leseleistung einen positiven Effekt auf die intrinsische Motivation und das Leseverhalten haben (vgl. De Florio-Hansen, 2012, S. 61; vgl. Sobel, 2012, S. 55f.). Insbesondere im Fremdsprachenunterricht der Mittelstufe gilt es, die intrinsische Motivation von Schulern durch bereichernde Leseerfahrungen zu fordern, um das wachsende Desinteresse der Jugendlichen am Sprachenlernen aufzuhalten. Kinder- und Jugendbucher mit ihrer ansprechenden asthetischen Qualitat, individualisierende bzw. differenzierende Leseprozesse in Anknupfung an personliche, lebensrelevante Themen der Schuler sowie klein- schrittige, aufeinander aufbauende Ubungen sind dabei von zentraler Bedeutung (vgl. Sobel, 2012, S. 56-58; vgl. Wieland, 2015, S. 65-67).
Die asthetische Erziehung stellt eine weitere wichtige Zielsetzung im Umgang mit literarischen Texten im Allgemeinen dar. Sie ist in der fremdsprachendidaktischen Debatte um Kinder- und Jugendliteratur - als Folge der geringen Wertschatzung dieser Literaturgattung - lange Zeit kaum berucksichtigt worden (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2002, S. 64; vgl. Caspari, 2007, S. 13). Erst seit wenigen Jahren mehren sich didaktische Abhandlungen, in denen das besondere Potenzial kinder- und jugendliterarischer Texte fur das literarisch-asthetische Lernen im Franzosisch- unterricht beleuchtet wird (z.B. Hethey, 2015, S. 163-178). Die Auseinander- setzung mit franzosischer Kinder- und Jugendliteratur geht weit uber das reine Leseverstehen als rezeptive kommunikative Fertigkeit hinaus und ist ein komplexer Vorgang. Dabei spielen sprachlich-diskursive Strukturen der literarischen Gattung (u.a. rhetorische Figuren, inhaltliche Lucken, Multiperspektivitat, intertextuelle Bezuge, Ich-Erzahlsituation, Dialoge und Gestaltung von Szenen) eine groBe Rolle. Sie haben einen asthetischen Charakter und unterscheiden sich zum Teil von der Alltagskommunikation. Umfassende Kenntnisse dieser narrativen Besonderheiten und ihrer Wirkungsweise helfen Schulern, kognitive Konstruktionen des Dar- gestellten beim Lesen zu bilden und sie an einem bestimmten kinder- und jugendliterarischen Text zu uberprufen (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 23; vgl. Hethey, 2015, S. 167f. / S. 170-175). Auch dient ein verstarktes Bewusstsein fur narrative Details der Ausbildung einer reflexiven - durchaus kritischen - asthetischen Rezeptionskompetenz, d.h. Lernende werden befahigt, literarische Texte eigenstandig zu ergrunden und zu kommentieren. Im Umgang mit dem vielfaltigen medialen Angebot in der heutigen Gesellschaft ist diese Kompetenz von enormer Wichtigkeit (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 23; vgl. De Florio- Hansen, 2012, S. 64). Kreative, schulerorientierte Methoden (z.B. die szenische Darstellung, die Konzipierung alternativer Moglichkeiten zu einer Lekture und die Abwandlung einer Erzahlsituation) konnen zur Entwicklung textanalytischer Fahigkeiten beitragen, indem sie Lernende dazu anhalten, ihre Aufmerksamkeit auf die sprachlich-formale Gestaltung literarischer Texte zu richten und die Wahl von Autoren fur gewisse Merkmale zu verstehen. Allzu oft werden sie aber lediglich als „spielerische Abwechslung“ im Franzosischunterricht eingesetzt, wie Daniela Caspari (Professorin fur Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Freien Universitat in Berlin) in ihrer empirischen Studie anhand einer Umfrage unter Berliner Franzosischlehrern festgestellt hat (vgl. Caspari, 1994, S. 245f.; vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 67f.). Dadurch geraten literarische Texte aus dem Blick oder fungieren hochstens als Anlass subjektiver Reaktionen der Schuler bzw. Leser (vgl. Schrader, 1996, S. 212). Trotz massiver Kritik haben traditionelle, textanalytische Verfahren (z.B. die Beantwortung von Fragen) nach wie vor ihre Berechtigung im Umgang mit franzosischer Literatur, da sie spezielle sprachliche Mittel fur die selbststandige Textinterpretation zur Verfugung stellen und zeigen konnen, dass gefuhlsmaBige Leseeindrucke durch literarische Darstellungsweisen beeinflusst sind. Allerdings durfen sie nicht fur eine einseitige kognitive Sach- und Zielorientierung des fremdsprachlichen Literaturunterrichts verwendet werden (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 63 / S. 66).
Daruber hinaus sollten Schuler im literarisch-asthetischen Lernprozess immer wieder die Moglichkeit haben, sich schriftlich und mundlich im Franzosischen zu einem gelesenen kinder- und jugendliterarischen Werk zu auBern, um bei der Produktion eigener Texte subjektive Empfindungen zu reflektieren und im Austausch mit Klassenkameraden neue Sinneseindrucke in schon bestehende Erfahrungen einzuordnen (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 24; vgl. De Florio- Hansen, 2012, S. 64). Neben den sprachlichen Basisfertigkeiten bzw. Komponenten der kommunikativen Kompetenz „Schreiben“ und „Sprechen - an Gesprachen teilnehmen“ und der Sozialkompetenz als uberfachliches Lehr- und Lernziel wird somit die narrative Kompetenz von Schulern gefordert (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 26f.; vgl. Hessisches Kultusministerium, 2011, S. 9f. / S. 19f.): Die meisten geschriebenen und gesprochenen Schulertexte besitzen eine narrative Form. Lernende erwerben die Fahigkeit, klar strukturierte und vielschichtige Geschichten sowohl schriftlich als auch mundlich in der Fremdsprache mithilfe ihrer Vorerfahrungen, ihrer Gefuhle sowie ihrer Imagination zu erzahlen. Jeder Mensch hat das Grundbedurfnis, sich mitzuteilen. Das Erzahlen erlaubt ihm, mit anderen zu kommunizieren und seinen Erlebnissen einen Sinn zu verleihen. Selbstdar- stellungen wirken also auch identitatsstiftend (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 194). Die Narrationen der Schuler konnen aber nur dann ihr volles personlich- keitsbildendes Potenzial entfalten und zu einem besseren Verstandnis des literarischen Originaltextes beitragen, wenn sie auf diesen zuruckbezogen werden (vgl. ebd., S. 65). SchlieBlich bieten moderne Bilderbucher, in denen literarische Texte in aufwendiger Weise mit anderen kulturellen Codes und Medien (Bild und bisweilen auch Ton) verknupft sind, ein besonderes asthetisches Leseerlebnis fur Lernende (siehe Kapitel 3.1 der Hausarbeit, S. 41f.). Aufgrund ihres Lebenswelt- bezuges wecken sie ebenso bei alteren Schulern Neugier und Lesefreude (vgl. De Florio-Hansen, 2012, S. 61).
Der heutige Fremdsprachenunterricht ist dem Ziel der interkulturellen Handlungs- fahigkeit verpflichtet. Nach dem britischen Sprachdidaktiker Michael Byram umfasst die interkulturelle Kompetenz, die in konkreten Begegnungen mit einer fremden Kultur und Sprache Anwendung findet, funf unterschiedliche Fahigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Mertens, 2006b, S. 238f.; vgl. Muller-Hartmann / Schocker- von Ditfurth, 42007, S. 18-27): savoir (Wissen uber das Land der Zielsprache: uber seine Kultur, sein Selbst- und Fremdbild, seine sozialen Umgangsformen sowie WertmaBstabe), savoir comprendre (Fahigkeit, Texte als Ausdruckstrager der eigenen bzw. fremden Kultur zu deuten und miteinander abzugleichen), savoir apprendre / faire (sprachliches Handeln, angemessener Einsatz von Korpersprache, Fahigkeit zur Losung von Konflikten, die durch kulturelle Missverstandnisse verursacht sind), savoir s'engager (Fahigkeit zur kritischen Reflexion der eigenen und fremden Kultur) und savoir etre (bestimmte Haltungen, wie z.B. Respekt, Toleranz sowie Offenheit dem Fremden und der eigenen Person gegenuber, Empathiefahigkeit, Bereitschaft zur Relativierung der eigenen Sichtweise und zur Ubernahme einer anderen Perspektive) 6 Es wird deutlich, dass interkulturelles Lernen sich vor allem auf die Entwicklung einer inneren Grundeinstellung stutzt. Dagegen ist der Erwerb linguistischer Kompetenzen in diesem Prozess von untergeordneter Bedeutung (vgl. Braun / Schwemer, 2015, S. 8). Der interkulturelle Ansatz steht zunehmend im Zentrum der Kritik. Die Unterstellungen lauten folgendermaBen: Das Konzept der Interkulturalitat rufe Verstandnisschwierig- keiten zwischen Angehorigen verschiedener Kulturen hervor. Durch die einseitige Hervorhebung kultureller Differenzen im Unterricht verfestigten sich Stereotype oder sogar Vorurteile. Individuen wurden ausschlieBlich nach ihrer ethnischen Zugehorigkeit kategorisiert. So entstunden bei Schulern ausgrenzende Verhaltens- weisen (vgl. Schinschke, 1995, S. 17). In den 1980er bzw. 1990er Jahren kam in der Fremdsprachendidaktik der Begriff „Transkulturalitat“ auf. Der damit verbundene Ansatz nimmt unterschiedliche Kulturen innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr als homogene und in sich geschlossene Gebilde wahr, sondern betont ihre gegenseitige Durchdringung. Die Verwischung kultureller Grenzen und die wechselseitige Beeinflussung mannigfaltiger Lebensweisen entsprechen der aktuellen Lage in der Welt, die von Migration, Handel und elektronischem Informationsaustausch gepragt ist (vgl. Burwitz-Melzer, 2003, S. 51-53). Zur Darstellung eines grundsatzlich nie abgeschlossenen Prozesses, in dem sich Individuen auf der Grundlage ihrer lebensweltlichen Erfahrungen sowie ihrer kulturbedingten Einstellungen mit dem „Fremden“, d.h. mit dem fur sie Unbekannten, auseinandersetzen und dabei eigene Anschauungen uberdenken, bevorzugen einige Fremdsprachendidaktiker (z.B. Andrea Schinschke) den Begriff „Fremdverstehen“ gegenuber dem Ausdruck „interkulturelles Lernen“ (vgl.
Schinschke, 1995, S. 19f.; vgl. Hermes, 1998, S. 129f.). Sie schreiben literarischen Texten eine herausragende Bedeutung bei der Schulung der Fahigkeit zum Fremd- verstehen zu. Ihrer Meinung nach vermittelt fremdsprachliche Literatur Schulern nicht nur landeskundliches Wissen uber andere Kulturen, sondern gewahrt ihnen durch lebendig geschilderte fiktionale Einzelschicksale vielmehr einen tiefen Einblick in Erlebnisse, Denk- und Handlungsweisen anderer Menschen. Im Gegensatz zu einem Sachtext konne sie also das Fremde emotional erfahrbar machen und lebensweltliche Grenzen der Fahigkeit zum Nachempfinden von subjektiven Bewusstseinsvorgangen uberschreiten. Da fremdsprachliche Literatur reale Erfahrungen und Handlungen von Personen beschreibe, spreche sie Vorkenntnisse, Wertvorstellungen und die Fantasie ihrer Leser an. Lernenden werde wahrend der Lekture eines literarischen Textes ermoglicht, sich in die Lage einer Figur hineinzufuhlen und Ereignisse aus deren Sicht nachzubilden (Lernziele „Empathie“ und „Perspektivenubernahme“). Ein fremdsprachliches literarisches Werk, das die reale fremdkulturelle Lebenswelt mit stilistischen Mitteln interpretiere und somit von einer bestimmten Betrachtungsweise uberzeugen mochte, rege Schuler aber auch zur kritischen Auseinandersetzung an. Die Ausbildung der Urteilskraft erfordere sowohl kognitive als auch emotionale Fahigkeiten. Indem fremdsprachliche Literatur einen wichtigen Beitrag zur Revidierung bestehender Konzepte, zur Einnahme neuer Standpunkte und zu einem vertieften Verstandnis anderer Kulturen sowie ihrer Angehorigen leiste, bereite sie Lernende zudem auf ethisches Handeln - nach den Grundprinzipien: Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Aufrichtigkeit - im auBerschulischen Umfeld vor (vgl. Bredella, 2002, S. 306-309; vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 15; vgl. Nunning, 2007, S. 131-135).
Vor allem zum Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht der Sekundarstufen I und II fur Zielsetzungen des „interkulturellen Lernens“ bzw. des „Fremdverstehens“ existieren zahlreiche Uberlegungen (z.B. Caspari / Schinschke, 2000, S. 468-479 oder Bausch, 2008, S. 40-44). Franzosische kinder- und jugendliterarische Texte mit Protagonisten im jugendlichen Alter und Problemstellungen, die zu personlichen AuBerungen sowie Diskussionen anregen, sind geeignet, um bei Schulern die Bereitschaft bzw. die Fahigkeit zum Perspektivenwechsel zu fordern. Auch Aufgaben, die Einfuhlungsvermogen ver- langen und bei denen Lernende ihre gesamte Personlichkeit einbringen konnen (z.B. Rollenspiele), dienen der Korrektur ursprunglicher Auffassungen im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen (vgl. Bausch, 2008, S. 40f.). Daniela Caspari und Andrea Schinschke schlagen fur den Franzosischunterricht in einer 10. oder 11. Klasse den Einsatz mehrerer Kinder- und Jugendbucher (u.a. La force du berger von Azouz Begag und Samira des Quatre Routes von Jeanne Benameur) vor, die das Thema „Leben in mehreren Kulturen“ anschaulich auf der Figurenebene problematisieren und somit ein enormes Potenzial fur interkulturelles Lernen bzw. Fremdverstehen bieten. In allen westlichen, multi- kulturellen Gesellschaften ist die Verbundenheit des Einzelnen zu einer ethnischen, religiosen, berufsspezifischen oder regionalen Gruppe immer weniger von vorn- herein festgelegt. Identitatsentwurfe sind durch Instabilitat und Unbestimmtheit gekennzeichnet. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen, d.h. in einem offenen und endlosen Aushandlungsprozess, hat jedes Individuum die Aufgabe, sich neu zu positionieren. Das obige Thema ist demzufolge von landes- kundlicher und erzieherischer Relevanz (vgl. Caspari / Schinschke, 2000, S. 468-471). Im Mittelpunkt der dargebotenen franzosischen Kinder- und Jugend- bucher stehen Figuren, die sich als Migranten der ersten oder zweiten Generation in einer misslichen Lage in Frankreich befinden: Tagtaglich erleben sie Diskriminierung bzw. Rassismus vonseiten der franzosischen Mehrheitsgesell- schaft und sind zusatzlich mit unterschiedlichen kulturell gepragten Denk- und Verhaltensmustern ihrer Verwandten konfrontiert. Sie versuchen, eine ihnen ange- messene Form des Lebens mit mehreren Kulturen zu finden. Daniela Caspari und Andrea Schinschke sind der Ansicht, dass dieser Vorgang der Perspektivenkoordi- nation Schuler zu einer personlichen Stellungnahme anrege und deren Selbst- findungsprozess begunstige (vgl. ebd., S. 471-473).
Letztlich konnen franzosische kinder- und jugendliterarische Texte zur Wortschatz- und Grammatikarbeit herangezogen werden, um Lernende fur bestimmte Aus- drucke und Strukturen im Sinnzusammenhang zu sensibilisieren. Jedoch durfen Sprachaktivitaten nicht die alleinige Zielsetzung im Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur sein (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S. 152f.). Anhand authen- tischer Texte lassen sich beispielsweise Techniken zur ErschlieBung von unbe- kannten Wortern im Franzosischen (aus dem Kontext, aus Internationalismen, aus Fremdwortern, uber die Wortfamilie, durch die Analyse der Wortzusammen- setzung) vermitteln und trainieren (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 174). Die Beschaftigung mit einem grammatischen Phanomen sollte als integrativer Bestandteil textbezogener Handlungen erfolgen. Dabei ist es ratsam, dass Schuler sich zunachst die Funktion der Sprachstruktur mithilfe von Textbeispielen und anschlieBend die Form sowie die Terminologie selbst erarbeiten (induktive Methode des Grammatikerwerbs; Prinzip des entdeckenden Lernens). Die Lehrkraft leitet sie an (vgl. Mertens, 2006a, S. 148-150). Laut Jurgen Mertens erfordert ein effizienter fremdsprachlicher Grammatikunterricht ein Zusammenwirken von Lehrer- und Schuleraktivitat:
Seitens der Lernenden ist Grammatik im Sinne von Wissen um bzw. Kompetenz zu etwas das Resultat einer Auseinandersetzung mit Strukturfragen der Zielsprache, oder anders ausgedruckt, eine vorlaufige Vorstellung von strukturellen Gegebenheiten der Fremdsprache. Seitens des Lehrers bedeutet Grammatik die bewusste Lenkung des kognitiven Aneignungsprozesses durch die Schuler (ebd., S. 147).
2.4 Methodische Verfahren im Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur im Franzosischunterricht
Im folgenden Abschnitt der Hausarbeit erlautere ich vier Unterrichtsprojekte, die das Ziel verfolgen, Schuler zum Lesen franzosischer Kinder- und Jugendliteratur zu animieren: la lecture en classe, la lecture individuelle, la lecture interactive und le Prix des lyceens allemands. Sie werden im Franzosischunterricht der Sekundar- stufen I und II mithilfe kreativer Verfahren der Textarbeit (auch „handlungs- und produktionsorientierte Methoden“ genannt) durchgefuhrt (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 169; vgl. Surkamp, 2007a, S. 92). Um diese vielfaltigen Formen des Umgangs mit literarischen Texten zu systematisieren und somit der Beliebigkeit in der Terminologie entgegenzuwirken, unterscheidet Daniela Caspari mehrere Konzepte (vgl. Caspari, 2005, S. 13): den „produktionsorientierten Ansatz in enger Bindung an literarische Vorbilder“ (Ziel: Rekonstruktion des literarischen Originals), den „personlichkeitsorientierten Ansatz im kreativen Umgang mit literarischen Texten“ (zur Forderung des Selbstausdrucks und der Fantasie), den „prozessorientierten Ansatz einer kreativen Um- und Neugestaltung literarischer Texte“ (Ziel: spielerische Auseinandersetzung mit dem literarischen Original) sowie den „prozessorientierten Ansatz fur den Ausbau der kreativen Rezipientenrolle“ (zur Vertiefung des individuellen Lese- und Verstehensprozesses). Die Gemeinsamkeit aller Konzepte eines kreativitatsorientierten Umgangs mit literarischen Texten liegt in der Anschauung von Lesen und Verstehen als einer aktiven Sinnbildungs- konstruktion, in der Verwirklichung eines schulerorientierten Literaturunterrichts und in der Entfaltung des kreativen Potenzials literarischer Werke (vgl. Caspari, 1994, S. 229; siehe Einleitung der Hausarbeit, S. 2).
2.4.1 La lecture en classe
In didaktischen Beitragen werden fur den Literaturunterricht im Fach Franzosisch uberwiegend methodische Verfahren vorgeschlagen, die eine Starkung der Rolle von Schulern als Rezipienten im Lese- und Verstehensprozess beabsichtigen. Nach dem unterrichtlichen Zeitpunkt ihres Einsatzes lassen sie sich in activites avant la lecture, activites pendant la lecture und activites apres la lecture einteilen (vgl. Caspari, 1994, S. 200; vgl. Nieweler, 2006c, S. 212f.). Die ErschlieBung eines literarischen Textes im Rahmen der lecture en classe beruht demnach auf drei Phasen. Diese berucksichtigen die Vielschichtigkeit des Lesevorgangs, bei dem sich Textinformationen mit den Erwartungen und den individuellen Wissens- bestanden der Schuler verbinden. Zudem schulen sie Lernende schrittweise im Verstehen franzosischer Literatur und versuchen auf diese Weise, deren Angste abzubauen, die durch sprachliche, inhaltliche und kulturelle Hindernisse in fremd- sprachlichen literarischen Texten ausgelost werden konnen (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 2-4 / S. 13-25).
Am Anfang des Projektes der lecture en classe, in der Phase vor dem Lesen, stimmt die Lehrkraft die Schuler emotional, sprachlich und inhaltlich auf eine von ihr ausgewahlte franzosische Lekture ein, um ihnen den Zugang zu dem fremd- sprachlichen literarischen Text zu erleichtern. Dies geschieht beispielsweise mit- hilfe des Buchcovers (einschlieBlich des Titels). Ein solcher visueller bzw. stummer Impuls aktiviert mogliches Vorwissen (u.a. zum Autor, zum Thema, zur Gattung, zum kulturellen und geschichtlichen Hintergrund sowie zum Wortschatz eines literarischen Werkes) und ruft affektive Reaktionen hervor. Auch sind Abbildungen besonders geeignet, die Neugier und das Interesse der Lernenden zu wecken (vgl. ebd., S. 63f.).
Die Phase wahrend des Lesens dient der Erarbeitung und der Sicherung des Textverstandnisses, indem die Schuler zum aktiven, eigenstandigen Lesen sowie zur Interaktion mit der fremdsprachlichen Lekture, also mit ihrem Inhalt, ihren stilistischen Merkmalen und ihrer auBergewohnlichen Sprache, angeregt werden. In diesem Zusammenhang ist es von groBer Bedeutung, die individuellen Sinn- bildungsprozesse der Lernenden zu intensivieren (vgl. Nunning / Surkamp, 2006, S. 74). Ein haufig verwendetes Verfahren im Franzosischunterricht zur Forderung des aktiven Lesens stellt die „Puzzletechnik“ dar: Die Schuler fugen auseinander geschnittene Passagen eines fur sie noch unbekannten literarischen Textes zu einem sinnvollen Handlungsverlauf zusammen. AnschlieBend erfolgt ein Vergleich mit dem Originaltext. Diese Methode empfiehlt sich vor allem bei Gedichten und kurzer Prosa mit einstrangiger Handlung. Um Lernenden den Leseprozess als Vorgang des Formulierens und Verifizierens von Vermutungen vor Augen fuhren zu konnen, sind fur das kreative Verfahren Puzzles mit unterschiedlichen Losungen unerlasslich (vgl. Schrader, 1996, S. 228-231; vgl. Bartels et al., 1999a, S. 82). Zum Abschluss des Projektes der lecture en classe, in der Phase nach dem Lesen, sollen die Schuler die Gelegenheit haben, „den durchlaufenen Erkenntnisweg nachzuvollziehen [und] die im Verlauf der Textarbeit gewonnenen Einsichten [...] zur eigenen Person oder zu anderen Texten in Beziehung zu setzen oder auf uberindividuelle Probleme anzuwenden“ (Nunning / Surkamp, 2006, S. 78). Das Schreiben eines Tagebucheintrages, eines Briefes oder eines inneren Monologes aus der Perspektive eines Protagonisten stellt u.a. ein Verfahren dar, das Lernende zu einer interpretatorischen Auseinandersetzung mit einem literarischen Text anhand eigener Kenntnisse, Empfindungen und Wertvorstellungen veranlasst. Die in der literarischen Vorlage ausgesparten oder nur angedeuteten Erlebnisse und Gedanken einer Hauptfigur werden dabei sprachlich ausgefuhrt. Die Methode verlangt Einfuhlungsvermogen gegenuber dem jeweiligen Protagonisten, fordert aber auch Empathie. Letztlich konnen die verschiedenen Deutungen der Schuler, die in den kreativen Schreibprodukten sichtbar sind, im Plenum vorgestellt und diskutiert werden (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 90-94).
Alle kreativen Verfahren der Textarbeit, die ich fur die drei Phasen des Unterrichtsprojektes der lecture en classe vorgestellt habe (Buchcover als visueller Impuls, „Puzzletechnik“ und perspektivisches Schreiben) 7 , ermoglichen einen ganzheitlichen Umgang mit franzosischer Literatur: Sowohl kognitive, analytische Kompetenzen als auch affektive Lernziele spielen eine wichtige Rolle. Dies wirkt sich vorteilhaft auf die Merkfahigkeit beim Lernen aus. Ferner werden subjektive Betrachtungsweisen und Problemlosungsstrategien verstarkt einbezogen. Nicht zuletzt tragt das Prinzip des ganzheitlichen Lernens den Bedurfnissen und Voraussetzungen jedes einzelnen Schulers Rechnung (Binnendifferenzierung). Insbesondere fur leistungsschwachere Lernende ist das praktische Handeln im Umgang mit fremdsprachlichen literarischen Texten auBerst hilfreich (vgl. Caspari, 2005, S. 14f.). Allerdings durfen die beschriebenen kreativen Verfahren nicht beliebig im Unterricht eingesetzt werden. Sie mussen der konkreten Lekture und dem Stundenziel angemessen sein (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 4).
2.4.2 La lecture individuelle
Das Projekt der lecture individuelle stellt eine Alternative zu konventionellen, textanalytischen Methoden und zu einer „radikalen Verzweckung“ (Haas, 1995, S. 217) des fremdsprachlichen Literaturunterrichts dar. Es ist besonders geeignet, die Lesefreude von Schulern beispielsweise anhand franzosischer Kinder- und Jugendliteratur zu wecken und deren Lesekompetenz zu starken. Dem Lernenden wird hierbei ermoglicht, seine Lekture aus einem reichhaltigen Angebot an Buchern auszuwahlen und diese entweder zu Hause oder im Unterricht nach seinem Rhythmus und unter Mitbestimmung des Fokus seiner literarischen Auseinander- setzung zu lesen. Die lecture individuelle entspricht dem privaten Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen (vgl. Sernetz, 1997, S. 24; vgl. Bartels et al., 1999a, S. 169). Der franzosische Schriftsteller Daniel Pennac fasst diese ungezwungene Lesehaltung in seinem Essay Comme un roman als unverauBerliche Rechte eines Rezipienten zusammen:
1. Le droit de ne pas lire.
2. Le droit de sauter des pages.
3. Le droit de ne pas finir un livre.
4. Le droit de relire.
5. Le droit de lire n'importe quoi.
6. Le droit au bovarysme (maladie textuellement transmissible).
7. Le droit de lire n'importe ou.
8. Le droit de grappiller.
9. Le droit de lire a haute voix.
10. Le droit de nous taire (Pennac, 1992, S. 167-198).
Zu Beginn des Unterrichtsprojektes der lecture individuelle entscheidet sich jeder Schuler fur seine Lekture aus einem groBen Bucherrepertoire, das von der Lehrkraft u.a. in Form einer Klassenbibliothek zusammengestellt wird und inhaltlich wie sprachlich der Lerngruppe angemessen sein sollte. Fur die wichtige Phase der Lektureauswahl gibt es unzahlige Unterrichtsverfahren. Um nur ein Beispiel zu nennen: das sogenannte „Bucherbuffet“ (Bartels et al., 1999a, S. 182). Die Bucher liegen bei dieser Methode auf einer Tischreihe in der Mitte des Klassenraums zur Ansicht bereit. In Gruppen entdecken die Schuler sie eigenstandig. Als Hilfe- stellung bei Verstandnisschwierigkeiten dienen zweisprachige Worterbucher und die Lehrkraft, die beratend zur Seite steht. Den Lernenden sollte ausreichend Zeit gegeben werden, ein Buch nach individuellen Neigungen sowie sprachlichen Fahigkeiten auszusuchen und unter Umstanden einzutauschen. AnschlieBend prasentieren alle Schuler mithilfe von Redemitteln die vor ihnen liegenden Bucher auf Franzosisch und kennzeichnen ihre Lektureentscheidung durch ein Fahnchen auf einem Wandplakat mit den kopierten Buchtiteln. Das Verfahren bietet ihnen die Gelegenheit, einen direkten Zugang zu franzosischen Werken zu erhalten und ihre Lektureauswahl - wie in einer realen Situation in einer Buchhandlung - nach eigenen Kriterien zu treffen. Jedoch erfordert die Methode „Bucherbuffet“ gewisse sprachliche und methodische Fahigkeiten der Lernenden (vgl. Bartels et al., 1999a, S. 181f.).
Der eigentliche Lese- und Verstehensprozess kann durch ein Lesetagebuch (journal de lecture) begleitet werden, in dem die Schuler ihre Lektureerfahrungen, Erkennt- nisse, gedanklichen Assoziationen und Fragen mithilfe selbst verfasster Texte sowie Zeichnungen zum Ausdruck bringen (vgl. Sernetz, 1997, S. 25f.). Die Vorteile liegen auf der Hand: Das Verfahren unterstutzt die individuelle Rezeption eines literarischen Textes und lasst die emotionalen Reaktionen eines Lesers zur Geltung kommen. Die Leseeindrucke, Vermutungen und Bewertungen, die in einem Lesetagebuch festgehalten werden, bilden die Basis fur ein gemeinsames Interpretationsgesprach im Plenum. Der Tagebuchgestaltung sind keine Grenzen gesetzt, wodurch neben der Schreibkompetenz in der Zielsprache Franzosisch das Lesevergnugen sowie der Einfallsreichtum der Lernenden gefordert werden (vgl. ebd.; vgl. Bartels et al., 1999a, S. 87). Allerdings stellt die Bewertung eine groBe Herausforderung dar, da sich Lesetagebucher als kreative Schulerprodukte weitest- gehend objektiven Beurteilungskriterien entziehen (vgl. Caspari, 1994, S. 253).
Lesebilder (affiches de lecture) sind eine weitere bewahrte Form der Dokumen- tation von individuellen Eindrucken der Lernenden wahrend des extensiven Lesens. In ihnen verarbeiten die Schuler ihre Erfahrungen auf emotionale bzw. kognitive Art und Weise. Sie verfassen dabei eigene Texte (u.a. kurze Inhaltsangaben, Kritiken, erste Deutungsversuche) und fertigen Collagen oder Illustrationen an. Ein Lesebild kann ein zentrales Element, aber auch mehrere, sogar strittige Aspekte eines literarischen Textes hervorheben. Seine Gestaltung bleibt vollstandig den Schulern uberlassen (vgl. Mengler, 1997, S. 32; vgl. Bartels et al., 1999a, S.106f.).
Lesetagebucher und -bilder eignen sich fur eine abschlieBende Prasentation im Rahmen einer Ausstellung entweder im Klassenraum oder im Schulgebaude und fungieren somit als moglicher Ansporn fur weitere Leser. Zudem konnen durch die Zusendung von Lesebildern Kontakte zu den Autoren der entsprechenden Bucher hergestellt werden. Dies wirkt sich positiv auf die Motivation der Lernenden aus.
[...]
1 Aus Grunden der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Hausarbeit die mannliche Form („der / die Schuler“ im Singular bzw. Plural) verwendet. Die Angaben beziehen sich allerdings auf Angehorige beider Geschlechter.
2 Der zweite Teil des Arguments der „doppelten Bruckenfunktion“ - Kinder- und Jugendliteratur bereite auf die Lekture allgemeiner Literatur („Erwachsenenliteratur“: Boberg, 2007, S. 20) vor - wird stark kritisiert: Laut Emer O'Sullivan (Professorin fur englische Literatur in Luneburg) und Dietmar Rosler (Professor fur Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in GieBen) impliziert er die Auffassung, kinder- und jugendliterarische Texte seien asthetisch minderwertig und nur so lange geeignet, bis mit „richtiger“ Literatur gearbeitet werden konne (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S.45; auch: vgl. Keller, 2010, S. 172-176). Eine solche Ansicht habe hochstwahrscheinlich dazu gefuhrt, dass das Potenzial fremdsprachiger Kinder- und Jugendliteratur fur die asthetische Erziehung lange Zeit nicht anerkannt wurde (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S. 45).
3 Die Grenzen zwischen Kinder- / Jugendliteratur und allgemeiner Literatur sind zunehmend flieBend: Erzahltechniken des psychologischen Romans pragen vor allem die gegenwartige Jugendliteratur. Der Einwand der geringen asthetischen Komplexitat kann also zumindest fur Jugendbucher zuruckgewiesen werden (vgl. O'Sullivan / Rosler, 2013, S. 28f.).
4 Die Begriffe bottom up, top down und „Schema“ stammen aus der kognitionspsychologischen und psycholinguistischen Leseforschung (vgl. Kuster, 2003, S. 101).
5 Der Begriff „Lesestil“ bezeichnet ein Leseverhalten, das durch eine bestimmte Absicht gekenn- zeichnet ist (vgl. Sobel, 2012, S. 50).
6 Die „Bildungsstandards fur die erste Fremdsprache (Englisch / Franzosisch) fur den Mittleren Schulabschluss“ beschreiben die interkulturelle Kompetenz auf der Ebene des savoir, des savoir etre und des savoir apprendre / faire: - soziokulturelles Orientierungswissen. - verstandnisvoller Umgang mit kultureller Differenz. - praktische Bewaltigung interkultureller Begegnungssituationen. (Sekretariat der Standigen Konferenz der Kultusminister der Lander in der Bundes- republik Deutschland, 2004, S. 8; Fur weitere Informationen zu den nationalen Bildungsstandards siehe auch: Kapitel 2.6 der Hausarbeit, S. 30-35).
7 Die obigen Methoden sind lediglich ein kleiner Ausschnitt aus einer unuberschaubaren Vielfalt an kreativen, schulerorientierten Verfahren im Umgang mit literarischen Texten.
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- Selina Ebel (Author), 2017, Kinder-und Jugendliteratur im Französischunterricht. France – Allemagne. Quelle histoire ! (Französisch, Gymnasium Jahrgangsstufen 9/10), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1025855
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