Hausarbeit
Gedichtinterpretation (von Julia Sailer)
Das Gedicht „Tränen des Vaterlandes“, das anlässlich des 30- jährigen Krieges gedichtet wurde, stammt von Andreas Gryphius, dem größten Dichter des Hochbarocks. Diese Epoche war von starken Kontrasten geprägt. Einerseits gab es wundervolle Prachtbauten und die Menschen waren sehr religiös und genossen das Leben gemäß ihrem Grundsatz „carpe diem“, andererseits war der Barock eine Zeit von Kriegen, Tod und menschlichem Leid, das heißt eine Zeit der Vergänglichkeit.
Genau dieser Gegensatz kommt bei „Tränen des Vaterlandes“ sehr gut zum Vorschein. Es werden ausführlich die Leiden und Folgen des Krieges beschrieben. Das lyrische Ich , das sich mitten im Kriegsgeschehen befindet, betont aber zum Schluss noch einen ganz anderen Aspekt, der von Außenstehenden oft nicht bedacht wird, nämlich die Tatsache, dass man neben all den Grausamkeiten, die einem im Krieg widerfahren, auch noch des „Seelen Schatz[es]“ (V4/Z14) beraubt wird.
Bei dem Gedicht handelt es sich um ein Sonett, bestehend aus zwei Quartetten mit jeweils umschließenden Reim (abba) und zwei Terzetten mit jeweils einem Schweifreim (ccd/eed). Die Verse sind in Alexandrinern verfasst und haben eine feste Zäsur, die sich auch inhaltlich niederschlägt. In der zweiten und dritten Zeile werden nämlich visuelle Metaphern den akustischen gegenübergestellt und im zweiten Terzett wird das greifbare Bild mit einer gedanklichen Abstrahierung ergänzt. Durch den starken Rhythmus erhält das Sonett einen dramatischen Ausdruck.
Schon die Überschrift „Tränen des Vaterlandes“ ist eine Metapher. Sie verbildlicht das weinende Land, als ein Motiv für Leid und Elend.
Es folgt ein Quartett, das in Hyperbeln und Einzelmetaphern die Elemente des Krieges auflistet und durch Adjektive, wie „frech“, „rasend“, „fett“ und „donnernd“ (Qu1/V2-3), sowie durch ein Personifizierung von Waffen und Geschützen der Kriegstruppen , den Leser zu Mitgefühl verleitet.
Offensichtlich herrscht am Kriegsschauplatz große Armut, denn die zu Friedenszeiten hart erarbeiteten Notwendigkeiten wurden vom Feind alle aufgebraucht : „hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret“ (Qu1/V4).
Der zweite Sinnabschnitt führt den Gedanken des ersten Quartetts im gleichen Reimschema fort. Abermals steht der Kriegsschauplatz im Vordergrund. Es wird gezeigt , wie sich auch das Umfeld der Menschen verändert: „die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret; das Rathaus liegt im Graus,...“ (Q2/V1-2). Hinter dieser Aussage steckt, dass im Krieg jegliche Sicherheit, Ordnung und aller Halt verloren geht, sind „die Türme“ doch ein Zeichen des Schutzes, „die Kirch“ ein Ort für Glaube und Geborgenheit und „das Rathaus“ eine Funktion für Recht und Ordnung.
Die letzte Zeile des zweiten Quartetts unterstreicht noch einmal das grausame Elend.
Nach den beiden Quartetten erfolgt der bei Sonetten so übliche Einschnitt.
Nicht nur, dass der Dichter jetzt zu Terzetten übergeht, sondern auch sinnbildlich erfolgt eine Wandlung. Zum ersten Mal tritt die Dauer des Krieges auf. In dem Ausdruck „dreimal sind schon sechs Jahr“(T1/V2) versteckt sich die verzweifelte Frage, wieviele es denn noch sein werden. Es scheint als sei kein Ende des Gräuels voraussehbar. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer, es gibt täglich weitere Unmengen von Blut und Leichen. Die beiden Aussagen „rinnt allzeit frisches Blut“ (T1/V1) und „Ströme Flut“ (T1/V2) legen nahe, dass das Blut unaufhaltsam, wie ein Strom, fließt. Nach dem dritten Sinnabschnitt scheint es, als sei der Horror nicht mehr zu übertreffen, doch schon der Beginn des zweiten Terzetts widerlegt diesen Gedanken. Gleich das erste Wort „doch“ lässt eine Steigerung anklingen. Gefolgt von „schweig ich noch von dem“, wird klar dass es noch etwas Schrecklicheres geben muss, etwas „ärger[es]“ (T2/V2), „grimmer[es]“ (T2/V2). Noch das Gedicht zum Höhepunkt kommt, gibt es noch mal eine kurze Zusammenfassung der vorangehenden Verse: „Pest und Glut und Hungersnot“ (T2/V2). Erst im letzten Vers offenbart das lyrische Ich die Tatsache, welche den Menschen zur damaligen Zeit das größte Leid bescherte, nämlich dass den Leuten das einzige was ihnen noch bleibt, ihr „Seelen Schatz“ (T2/V3) genommen wird. Mit diesem letzten Vers werden die Folgen des Krieges aus einer ganz anderen Perspektive eröffnet. Den Menschen wird der Glaubensverlust erzwungen und damit auch ihr letzter Halt und ihre letzte Würde und Hoffnung. Mit dieser gelungenen Finalstruktur stellt Gryphius die Vergänglichkeit direkt der Freude am Leben gegenüber, eine typische Antithetik bei Barockgedichten. Auffällig ist auch, dass nicht nur die strenge Sonettform eingehalten wird, sondern auch, dass das Gedicht in sich gegliedert ist, so ergänzen sich zum Beispiel die erste und die letzte Zeile: zu Beginn erhält man den Eindruck, dass der erste Vers „wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret“ nicht mehr zu überbieten sei, und es sich dabei um die Kernaussage des lyrischen Ichs handle, dieser Eindruck wird jedoch überraschend widerlegt, indem in der letzten Zeile die eigentliche Absicht entlarvt wird. Die restlichen Verse sind eigentlich nur zur Verdeutlichung der Problematik vorhanden .
Andreas Gryphius ist es sehr gut gelungen die schrecklichen Auswirkungen eines Religionskrieges nahezulegen. Sein Leben spielte sich fast ausschließlich im 30- jährigen Krieg ab, deshalb gelang es ihm auch die versteckten Grausamkeiten weiterzugeben, die einem unbeteiligtem verborgen bleiben. Bedauerlicherweise ist das Thema des Sonetts immer noch ein präsentes Thema. Man sollte meinen, dass im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der Kommunikation, dank fortgeschrittener Entwicklung, Kriege nicht mehr notwendig seien, sondern auftretende Probleme kommunikativ gelöst werden könnten. Doch anscheinend muss es noch viele weitere Kriege geben, für die Unmassen von unschuldigen Opfern ihren Glauben und ihr Leben hinhalten müssen, bevor diese primitive Denkweise aus den Köpfen der Menschen entschwindet.