Inhalt
1 KRIEG UND KRIEGSERFAHRUNGEN IM KINDES- UND JUGENDALTER
1.1 Psychisch belastende Kriegserlebnisse
1.1.1 Erste Phase der Kriegstraumatisierung
1.1.2 Zweite Phase der Kriegstraumatisierung
1.1.3 Dritte Phase der Kriegstraumatisierung
1.1.4 Konfrontationsgrad
2 FOLGEN VON KRIEGSERFAHRUNGEN FÜR KINDER UND JUGENDLICHE
2.1 Physische Folgen
2.2 Psychische Folgen
2.2.1 Akute Belastungsstörungen
2.2.2 Posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD)
2.2.3 Symptomkategorien nach Alter
2.3 Entwicklung des Sozialverhaltens
2.4 Eltern-Kind Beziehung
3 FOLGEN VON BESONDEREN KRIEGSEREIGNISSEN
3.1 Folgen von Flucht und Emigration
3.2 Folgen für Kindersoldaten
3.3 Folgen für Verfolgte und Überlebende von Gefangenenlager
4 ABSCHLIESSENDE GEDANKEN
5 LITERATURVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
Zusammenfassung
Kinder, die Kriege miterleben, sind verschiedenen Stressoren ausgesetzt. Die traumatisierenden Ereignisse lassen sich in drei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen (Kriegszeit, Nachkriegszeit, bzw. Flucht und darauf folgende Rückkehr in die Heimat bzw. endgültiges Sich-Niederlassen in fremder Umgebung) aufteilen. Jede dieser drei Phasen ist mit spezifischen belastenden Ereignissen verbunden, wobei nachfolgende Phasen, sofern sie durchlebt werden, die Wirkung der vorhergegangenen jeweils verstärken können. Auf die Belastungen von Flüchtlingen, Verfolgten, Kriegsgefangenen und Kindersoldaten wird getrennt eingegangen.
Die Folgen dieser oft wiederholten und chronischen Belastungen für Kinder sind schwerwiegend. Im physischen Bereich resultieren Krankheiten, Behinderungen, Verletzungen, Verstümmelungen und Mangelernährung. Psychische Folgen sind Unruhe und Nervosität, emotionale Labilität, Kontaktangst, Depressivität, spezifische Ängste und Belastungsstörungen (insbesondere die posttraumatische Belastungsstörung). In sozialen Bereichen weisen die Kinder ein ausgeprägtes unangepasstes Sozialverhalten, stärkere Aggressivität, ein verzerrtes Moralverständnis und eine kognitive Anpassung an ihre gewalttätige, bedrohliche Umwelt auf.
1 Krieg und Kriegserfahrungen im Kindes- und Jugendalter
Krieg ist, wenn geschossen wird.
Krieg ist, wenn die Leute ihre Häuser verteidigen.
Krieg ist, wenn die Leute in die Luftschutzkeller laufen.
Krieg ist, wenn die Leute aus ihren Häusern vertrieben werden.
Krieg ist, wenn Papa nicht bei uns ist.
Dajana Rajcevic, 2. Klasse (Schäffer, 1994, S. 105).
Kinder haben unter kriegerischen Auswirkungen besonders stark zu leiden und sind somit in hohem Masse gefährdet. Da sie von ihrer Umgebung und ihrer Familie abhängig sind, sind sie der Zerstörung ihrer vertrauten Welt und den Gräueln des Krieges ohnmächtig ausgeliefert.
Im Januar 1994 meldeten die 12 UNICEF-Büros im ehemaligen Jugoslawien, dass seit dem Ausbruch des Krieges annähernd 15’000 Kinder getötet, zahllose Kinder verletzt und 620’000 Kinder aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Noch heute leben 281’000 Kinder in besetzten Gebieten (Schäffer, 1994, S. 9).
Ein Wechselbad der Gedanken und Gefühle bestimmt diese Kinder im Krieg. Angst, Sorge, Trennung, Rache, aber auch Vergebung beherrschen ihre Gefühlswelt. Auch die Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen hat sich durch den Krieg deutlich verändert. In einem Krieg werden Familien physisch und psychisch zerrissen und können ihren Kindern nicht länger die Geborgenheit vermitteln, die sie bräuchten (Kizilhan, 2000; Schäffer, 1994).
1.1 Psychisch belastende Kriegserlebnisse
Wir spielen in der Nähe vom Meer in Grikvenica. Es ist schön hier, aber wir denken an unsere Stadt. Wir erinnern uns an die zerstörte Kirche, an das verbrannte Theater und an die zerstörten Häuser. Wir hören immer das Dröhnen der Granaten und den Lärm der Flugzeuge, die uns Angst einjagten. Oft habe ich Angst einzuschlafen, da mich die Erwartung nicht loslässt, dass Mama oder Papa mich wegen des Alarms plötzlich in den Keller holen.
Manchmal bin ich sauer auf die, die uns aus unserem Haus vertrieben haben und uns nicht zu Hause spielen lassen. Ich denke oft an meine Spielsachen und an meine Freunde. Irgendwo ist mein Ball geblieben, und ich habe doch so gern Fussball gespielt.
Warum musste eigentlich mein Papa in den Krieg ziehen, wo er doch niemandem etwas getan hat? Tomislav Radotic, 4. Klasse (Schäffer, 1994, S. 41).
Die Beschreibung des Viertklässlers zeigt die Vielfalt der belastenden Lebensereignisse (Trennung, Miterleben von Kampfhandlungen und Zerstörung, Flucht, Verlust von Freunden, Hab und Gut etc.), denen Kinder durch Krieg und dessen Folgen ausgesetzt werden.
In Anlehnung an Kocijan-Hercigonja (1997), werden die traumatisierenden Kriegserlebnisse hier in drei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen gegliedert:
1.1.1 Erste Phase der Kriegstraumatisierung
Die grünen Augen meines Vaters strahlten immer, wenn er mich umarmte. Nun gibt es den Vater nicht mehr, aber es blieben die grünen Augen in meiner Erinnerung (...)
Ich weiss, dass mein Papa zum lieben Gott ging, aber es scheint mir so, als sei er immer noch in der Armee und würde zurückkehren. Ich warte, warte und warte, dass Papa zurückkehrt und seine grünen Augen öffnet. Ich brauche sie, denn meine Hände sind klein und die Kräfte verbraucht. Deshalb Papa, höre mich. Ich möchte, dass deine grünen Augen erneut erwachen!
Bernadicta Kovacevic, 8. Klasse (Schäffer, 1994, S. 57).
In dieser Phase wird das Kind mit Situationen konfrontiert, die unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängen und die es bisher nicht kannte. So erlebt es Gewalt und Verwundungen, wird Zeuge von Morden, Gräueltaten und Vergewaltigungen muss in Schutzkellern leben oder fliehen und erlebt Trennungen und Verluste (vgl. Kocijan-Hercigonja, 1997).
Kocijan-Hercigonja unterscheidet in dieser Phase drei verschiedene Arten von belastenden Kriegserlebnissen, bzw. Kriegstraumata:
- Direkte Kriegstraumata: Traumata, die die Kinder am eigenen Leib erlebt haben. Der Verlust von Eltern durch Trennung oder Tod, körperliche Verletzungen und Behinderungen, Misshandlung und Folter, Mangelernährung und Krankheiten, die Teilnahme an Kampfaktionen, sowie das Leben in Gefangenenlager. Zudem tun Kinder in ihrer Verzweiflung oft selbst Dinge, mit deren Konsequenzen sie nachher nur schwer leben können (sie töten oder verletzen z.B. andere Menschen, im Wunsch, die eigene Familie zu beschützen).
- Indirekte Traumata: Das sind Wahrnehmung von Kampflärm, detonierenden Bomben, brennenden Häusern, etc. Kinder, die Zeugen von Gewaltanwendungen wurden oder Verwandte und Freunde verloren haben sowie das Miterleben von Kampfhandlungen.
- Traumata, die eng mit dem Leben im Land zusammenhängen, wie z.B. Unterbrechung der Erziehung und Schulung und sozialer Werte-Zerfall. ,Wenn Regeln und Sitten, mit denen das Kind vertraut war, plötzlich keine Gültigkeit mehr haben, wird es unsicher. Es versteht nicht, warum heute vieles nicht mehr so ist wie früher’ (Kocijan-Hercigonja, 1997, S. 179).
1.1.2 Zweite Phase der Kriegstraumatisierung
In der zweiten, dem Krieg nachfolgenden Phase erleben Kinder meist völlig veränderte Lebensbedingungen. Sie leiden unter der durch Krieg bedingten Armut, dem Verlust des sozioökonomischen Status, dem Zerfall der Familie, etc. Eine besondere einschneidende Veränderung bedeutet das Leben als Flüchtling oder im Exil. Das Leben mit den Belastungen der Nachkriegszeit birgt für das kriegstraumatisierte Kind oft weitere, sekundäre Traumata, die die primäre Traumatisierung noch zusätzlich verstärken.
Kriegsverlierer müssen sich mit dem Leben in besetzten Gebieten arrangieren, ihnen werden fremde Werte und Sitten aufgezwungen. In ihrer kindlichen Neugier nähern sich Kinder schneller Vertretern der gegnerischen Mächte und nehmen eventuell Geschenke an. Sie geraten so entweder zwischen zwei Fronten oder übernehmen eine Vermittlerfunktion.
1.1.3 Dritte Phase der Kriegstraumatisierung
Die dritte Phase der Kriegstraumatisierung ist die Phase der Rückkehr in die Herkunftsregion oder das endgültige Sich-Niederlassen in einer fremden Umgebung. Beides ist mit neuerlichen Anpassungsanstrengungen verbunden. Im ersten Fall mit dem Verlust der in der neuen Umgebung gefundenen Beziehungen, im zweiten Fall mit dem Aufgeben von Träumen über die Rückkehr in die geliebte Heimat.
Durch die Rückkehr wird es wieder mit dem konfrontiert, was es in den letzten Jahren verdrängt und vergessen hat. Während dieser Zeit hat das Kind von seiner Rückkehr geträumt, sich auf seine Freunde sein Haus, seinen Heimatort gefreut. Es muss dann aber feststellen, dass die Realität eine völlig andere ist. Die Häuser sind zerstört, die meisten Freunde sind nicht mehr da, und diejenigen, die geblieben oder zurückgekommen sind, haben sich verändert (Kocijan-Hercigonja, 1997, S.181).
1.1.4 Konfrontationsgrad
Der Grad der Traumatisierung ist oftmals abhängig vom Konfrontationsgrad des belastenden Ereignisses (Kizilhan 2000). So haben Dauer des Krieges, Intensität des Erlebnisses sowie chronische, bzw. einmalige Kriegsbelastung sicherlich eine unterschiedliche Wirkung auf die Art und Schwere der Traumatisierung.
WIEDER! Wieder haben sie unsere Hoffnungen zerstört und ruiniert, alles am Boden zerstört (...) Manchmal denk ich bei mir, dass es besser wäre, wenn die Angriffe nicht aufhören würden, damit wir nicht jedes Mal aus allen Wolken fallen, wenn sie wieder anfangen. Denn so lässt man sich ein wenig gehen, und dann GEHT ES WIEDER LOS. Jetzt bin ich sicher, dass es nie enden wird. Manche wollen einfach nicht, dass das aufhört, schlechte Menschen, die Kinder und Leute wie uns hassen - Zlata Filipovic, 14 Jährig (Filipovic, 1994, S. 190).
2 Folgen von Kriegserfahrungen für Kinder und Jugendliche
Krieg ist ein Stressauslöser, der bei Personen, die damit konfrontiert werden verschiedenste traumatische Reaktionen hervorruft. Die Folgen von Kriegsbelastungen sind vielfältig. In Anlehnung an Müller (1994) werden sie hier in drei Kategorien geteilt: physische (Mangelernährung, Krankheit), psychische (Belastungsstörungen) und soziale (Verlust von Normen, Familie, Institutionen) Belastungen, zusätzlich wird noch die Eltern-Kind- Beziehung berücksichtigt.
2.1 Physische Folgen
Primäre physische Folgen von Kriegen sind Verletzungen, Behinderungen, Verstümmelungen (z.B. Minenopfer), Krankheiten, Mangelernährung und physische Deprivation. Besonders grausame und schleichende Folgen entstehen meines Erachtens durch den Einsatz von chemischen-, biologischen- und Atom-Waffen.
Sekundär können daraus wiederum eine Reihe von psychischen Störungen resultieren. Körperbehinderte Kinder sind z.B. ‚häufig ängstlich-gehemmte, scheue, zurückgezogene und passive Kinder mit wenig Selbstvertrauen, Problemen in der Anbahnung von heterosexuellen Kontakten und Schwierigkeiten hinsichtlich der sozialen Integration’ (Steinhausen , 2000, S. 184). Zudem weisen sie nach Steinhausen ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen auf. Physische Deprivation und Mangelernährung können zu psychosozialem Minderwuchs und verschiedenen kognitiven und emotionalen Entwicklungsverzögerungen führen.
2.2 Psychische Folgen
Eth und Pynoos (1985; zit. nach Hordvik, 1997) definieren das psychische Trauma folgendermassen: ,Ein psychisches Trauma entsteht durch ein extremes Ereignis, das unerwartet und plötzlich eintritt, das lebensbedrohend ist oder als solches empfunden wird und die betroffene Person ganz intensiv über deren Sinneswahrnehmung trifft’.
Die unmittelbaren Reaktionen können als Schockzustand definiert werden (z.B. Gefühl der Unwirklichkeit, emotionale Gefühllosigkeit oder Verwirrtheit sowie verschiedene physische Reaktionen). Zu den Langzeitfolgen zählen spezifische und unspezifische Ängste, Verletzbar- keit, Depressionen, Pessimismus, emotionale Labilität und Kontaktangst (Hordvik, 1997).
Crocq (1999, 190) teilt die psychischen Kriegstraumata folgendermassen auf:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Akute und chronische psychotraumatische Syndrome.
Die zwei bedeutendsten psychischen Belastungsreaktionen, die in der Folge von Kriegen auftreten, sind die akute und die posttraumatische Belastungsstörung. Diese zwei Störungsbilder sollen im Folgenden genauer beschrieben werden. Weitere psychische Folgen werden unter den altersspezifischen Symptomkategorien abgehandelt.
2.2.1 Akute Belastungsstörungen
Die akute Belastungsreaktion ist gemäss ICD-10 eine vorübergehende Störung von beträchtlichem Schweregrad, die sich bei einem zuvor gesunden Menschen als Reaktion auf eine aussergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickelt. Sie klingt in der Regel innerhalb von Stunden oder Tagen wieder ab (Steinhausen, 2000, 139).
Die Symptome sind sehr variabel und treten meist innerhalb von Minuten nach dem Ereignis auf. In der Regel geht ein initiales Gefühl von Betäubung voraus, das durch Einengung von Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Reizverarbeitung sowie Desorientiertheit gekennzeichnet ist.
,In der Folge können sozialer Rückzug bis hin zum Stupor oder Agitiertheit, Überaktivität mit Flucht oder Fugue auftreten. Ferner können vegetative Zeichen panischer Angst, Gefühle von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aber auch Ärger und Aggressivität beobachtet werden’ (Steinhausen, 2000, S. 139).
2.2.2 Posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD)
In einer Studie über die Rate von posttraumatischen Stressreaktionen bei palästinensischen Kindern, die verschiedenen Kriegsereignissen ausgesetzt waren, zeigten 72.8% der untersuchten Kinder mindestens eine milde Form von PTSD, 41% zeigten mittlere bis schwere posttraumatische Belastungsstörungen (Thabet, 1999).
Steinhausen (2000, S. 139) definiert die posttraumatische Belastungsstörung wie folgt:
Unter der posttraumatischen Belastungsstörung ist eine verzögerte und anhaltende Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmass zu verstehen. Hierzu zählen natürliche oder von Menschen hervorgerufene Katastrophen, Kriegs- und Kampfhandlungen, schwere Unfälle oder das Erleben des gewaltsamen Todes anderer. Ebenso gehören Erfahrungen dazu, Opfer von Verbrechen, Vergewaltigung, Folterung oder Terrorismus zu werden.
Nach Steinhausen sind die folgenden drei Ebenen charakteristisch für die Symptomatik der Posttraumatischen Belastungsstörung:
- Das Wiedererleben des Traumas drängt sich in sogenannten Nachhall-Erinnerungen (Flashbacks) oder Träumen auf. Dabei handeln oder fühlen die Kinder, als ereigne sich das Trauma erneut oder sie beschäftigen sich im Spiel repetitiv mit den traumatischen Themen. Sie sind massiv durch Hinweise belastet, welche einen Aspekt des Traumas symbolisieren oder ihm ähneln.
- Vermeidungsverhalten und emotionaler Rückzug äussern sich in Amnesie für wichtige Aspekte des Traumas sowie Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen oder Unterhaltungen, die sich auf das Trauma beziehen. Dazu kommen ein abnehmendes Interesse an Alltagsaktivitäten sowie ein Gefühl der Entfremdung von anderen, ein reduzierter emotionaler Ausdruck und das Gefühl einer begrenzten Lebensperspektive.
- Physiologische Übererregtheit, wie Schlafstörungen, Wutausbrüche, Konzentrations- störungen sowie Überwachsamkeit und gesteigerte Schreckhaftigkeit.
Das klinische Bild der posttraumatischen Belastungsstörung weist altersspezifische Variationen auf. Während im Säuglings- und Kleinkindalter vor allem Angstsymptome, Vermeidungsverhalten und physiologische Übererregtheitszustände überwiegen, steht im frühen Schulalter das Wiederinszenieren des Traumas im Vordergrund. Amnesie, NachhallErinnerungen und emotionale Abstumpfung können noch fehlen. Im Jugendalter entwickelt sich am ehesten das Vollbild der Symptome auf allen Ebenen.
Komorbide Störungen sind unter anderem: Depressive Störungen, andere Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens und gelegentlich hyperkinetische Störungen. Bei Jugendlichen können Substanzmissbrauch und - speziell bei sexuellem Missbrauch - impulsive (Borderline-)Persönlichkeitsstörungen hinzukommen.
2.2.3 Symptomkategorien nach Alter
Die verschiedenen Entwicklungsphasen von Wahrnehmung, Kognition, Emotion und sozialen Kontakten und die Tatsache, ob ein Kind im Krieg geboren wurde oder die vorausgegangene Friedenszeit erlebt hat, beeinflussen die Reaktion des Kindes und die Art und Weise, wie es bestimmte Ereignisse versteht, darauf reagiert und angebotene Hilfe aufnimmt. Die psychischen, physischen, sozialen und kognitiven Folgen des Krieges auf Kinder und Jugendliche sollen hier bezüglich vier verschiedener Lebensabschnitte beschrieben werden (vgl. Kizilhan, 2000; Kocijan-Hercigonja, 1997; Macksoud, 1996):
Säuglings und Kleinkindalter (bis 3 Jahre)
‚Je jünger ein Kind ist, desto weniger stark wirkt sich die Reaktion auf das traumatisierende Ereignis aus’ - dies ist ein weit verbreiteter Irrglaube, der durch die oft verhältnismässig unscheinbaren psychischen Reaktionen von Säuglingen aufrechterhalten wird. Säuglinge reagieren auf Kriegsbelastung mit einer Veränderung bereits angenommener Gewohnheiten und Verhaltensmuster, mit Regression in frühere Entwicklungsphasen, häufigem Weinen, Schlaf- und Essstörungen, kommunikativen Veränderungen und Störungen im verbalen und nonverbalen Ausdruck. Viele Auswirkungen zeigen sich meines Erachtens erst in späteren Jahren.
Kinder zwischen 3 bis 8 Jahren
Kleinkinder sind vom Schutz und der Sicherheit von Erwachsenen abhängig. Kinder dieses Alters reagieren allgemein sehr ängstlich und leiden an verschiedenen Phobien. Sie reagieren stark auf Dinge, die sie direkt oder indirekt an schlimme Ereignisse erinnern (z.B. Uniformen, Flugzeuge, Lärm, etc.). Sie haben Angst, dass sich das traumatische Erlebnis wiederholt und reagieren mit ängstlichem Anklammern und heftigen Trennungsreaktionen. Sie verstehen nicht, warum Menschen sterben müssen, setzen Tod mit Trennung gleich und glauben, dass die tote Person zurückkommt. Sie sprechen nur wenig, spielen traumatische Erlebnisse nach, leiden unter Schlafstörungen und Alpträumen und zeigen regressives Verhalten, wie erneutes Bettnässen und Daumenlutschen.
Hana ist sieben Jahre alt. Ihr Haus wurde von einer Granate getroffen, und ein Teil des Hauses wurde schwer beschädigt. Seit diesem Ereignis ist Hana ein sehr ängstliches, furchtsames Kind geworden. Sie hat Angst, das Haus zu verlassen und zeigt eine übermässige Abhängigkeit von der Anwesenheit ihres Vaters, wohin sie auch geht. Sie ängstigt sich ständig vor zukünftigen Ereignissen und fragt ihre Eltern immer wieder, ob ihr Haus nochmals von einer Granate getroffen werde. Sie wiegt sich selbst in den Schlaf und erwacht morgens mit Kopfschmerzen und Bauchweh und möchte bei ihrer Mutter bleiben, anstatt in die Schule zu gehen (Macksoud, 1996, S. 45).
Kinder im Schulalter zwischen 9 und 14 Jahren
Kinder im Schulalter haben ein grösseres Repertoire an kognitiven, emotionalen und verhaltensmässigen Reaktionen um sehr belastende Ereignisse zu verarbeiten. Sie versuchen die Ereignisse auf logische Weise zu erklären und durchzuspielen. Diese Fähigkeiten können zu Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen führen, da Kinder sich in der Phantasie oft vorstellen, wie sie eine Situation hätten verhindern können. Kinder aus dieser Altersgruppe haben Angst vor Reizen die sie an das Trauma erinnern, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten sowie Gedächtnisstörungen und spielen - oft zwanghaft - Spiele, die mit dem Trauma zusammen- hängen. Psychosomatische Symptome, wie Bauch- und Kopfschmerzen sowie Herzklopfen treten auf. Diese Kinder haben übertriebenen Angst um andere, beobachten die Reaktionen der Eltern und anderer Personen aus der unmittelbaren Umgebung genau und versuchen, die Eltern nicht mit ihren Problemen zu belasten. Sie zeigen Verhaltensänderungen wie Aggression (sind z.B. beim Spielen sehr laut und brutal oder benehmen sich dominierend und ablehnend, schreiend und kreischend) und Passivität (verhalten sich z.B. ganz ruhig und brav, zeigen keine Gefühle und zeigen Anzeichen von Depression) sowie Ess- und Schlafstörungen.
Konzepte, wie Moral und Nächstenliebe werden auf die im Krieg vorherrschende Realität von Gewalt gekennzeichnet. Kinder akzeptieren, beeinflusst von Medien und Propaganda, dass Töten als eine Art Konfliktlösung moralisch vertretbar ist und dass Nächstenliebe sich nur auf die eigene religiöse oder ethnische Gruppe beschränkt.
Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren
Jugendliche sind in einer Lebensphase, in der sie viele physische und emotionale Änderungen erfahren. Sie befinden sich in einem Ablösungsprozess von der Familie und besitzen die kognitive Fähigkeit, die weitreichenden Folgen eines Krieges zu verstehen. Auch sie haben oft Schuldgefühle und meinen nicht genug getan zu haben um Geschehenes zu verhindern (fühlen sich z.B. schuldig, dass sie überlebt haben, während eine vertraute Person bei einem Kriegsereignis gestorben ist). In diesem Alter äussert sich das Trauma in schwerwiegenden Verhaltensänderungen. Die Jugendlichen sind häufig niedergeschlagen und gereizt, zeigen antisoziales Verhalten, konsumieren Alkohol und Drogen und nehmen an riskanten Manövern teil (z.B. Rebellion gegen wichtige Autoritätspersonen, Teilnahme an militanten Bewegungen, Stehlen und Plündern). Ihre Lebenseinstellung und ihre Wertvorstellungen in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen verändern sich, sie reagieren oft mit Rückzug. Es ist dem Jugendlichen unmöglich sich eine Zukunft vorzustellen. Mehr und mehr wird er sich seiner eigenen Verwundbarkeit und Hilflosigkeit bewusst. Mitunter kommt es sogar zu Selbstmordversuchen und selbstdestruktivem Verhalten. Neben den erwähnten Symptomen können in manchen Fällen auch Symptome schwerwiegender Psychosen auftreten.
Jugendliche sind oft gezwungen, frühzeitig die Rolle von Erwachsenen zu spielen, haben jedoch noch nicht die nötige emotionale Reife dazu und sind durch diese Situation meist stark belastet.
2.3 Entwicklung des Sozialverhaltens
Feindseligkeiten, Zerstörungen und die Aggression des Krieges können niemals nur als äusserer Stress gesehen werden. Es ist vielmehr unausweichlich, dass sie Teil des inneren Phantasielebens und der Gefühlswelt der Kinder werden (Kizilhan, 2000). Im Krieg zeigen Kinder oft stark dissoziales Verhalten (z.B. unangepasstes Sozialverhalten, Aggressivität und verzerrtes Moralverständnis).
- Verstimmung, Aggression und Neigung zu Jähzornausbrüchen: Die Zerstörung von Vertrauen und die überwältigende Ohnmacht der Kinder führen oft zu vermehrter Aggressivität, Misstrauen und Gefühlslabilität. Die Kinder stören beispielsweise Spiele anderer Kinder, quälen kleinere Kinder, werfen mit Gegenständen oder neigen bei geringsten Anlässen zu Jähzornausbrüchen.
- Moralische Entwicklung: moralische Werte sowie Etikettierungen nach gut und böse, bzw. richtig und falsch werden der kriegerischen Umwelt angepasst. Dabei sind Grundzüge von Fairness, Gegenseitigkeit und Reziprozität sehr wohl vorhanden, werden aber stets physisch oder pragmatisch interpretiert.
- Nationalistische Attitüden: Einstellungen gegenüber Fremden werden in erster Linie durch den Kontakt mit den in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschenden Einstellungen geprägt. Depersonalisierung und Dehumanisierung der ‚Sie-Gruppe’ sind oft auch bei Kindern markante Bestandteile der nationalistischen Einstellungen. Sie neigen zu starken Wünschen nach Bestrafung sowie hoher Kampfbereitschaft gegenüber dem Feind oder Andersdenkern (‚auf Türken muss man Steine werfen’ oder , Kollaborateuren muss man das Haus anstecken’, etc.) (vgl. Kizilhan, 2000).
2.4 Eltern-Kind Beziehung
Aufgrund von Kriegs- und Exilbedingungen wird das Beziehungsgeflecht innerhalb einer Familie grundlegend umgekrempelt. Die innere Festigkeit einer Bezugsperson und die Fähigkeit, flexibel auf ungewohnte und sehr belastende äussere Faktoren zu reagieren, ist mitentscheidend für die Verarbeitungsmöglichkeiten des Kindes. Die psychischen Kapazitäten der Eltern (häufig alleinerziehende Mütter) sind jedoch oft, aufgrund der selbst erlebten Belastungen und Verlusterlebnisse, begrenzt. Zerrüttete Familien, gestörte Beziehungen, aber auch Überprotektion sind häufige sekundäre Kriegsfolgen (Adam, Riedesser, Romer & Walter, 1994).
Es stellt sich beispielsweise die Frage, wie eine alleinerziehende Mutter in der Lage ist, folgende verschiedenen Stressoren gleichzeitig zu bewältigen: ‚Vaterersatz’ und Familienvorstand zu sein, selbst kulturellen und sozioökonomischen Veränderungen ausgesetzt zu sein, Verlusterlebnisse zu verarbeiten sowie eine dramatische Veränderung in der Gefühlswelt ihres Kindes zu erleben. Erschwerende Verhältnisse kommen hinzu, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung während des Krieges oder der Flucht resultierte.
Besonders die männlichen Erwachsenen sind in den meisten Gesellschaften in politische Gewalt verwickelt. Dies kann zu ihrem Tod, ihrer Gefangenschaft oder zu langer Abwesenheit führen. Daraus resultiert einerseits der Verlust von Vaterfiguren, aber auch eine Heroisierung der Männlichkeit. In diesem Zusammenhang werden die Begriffe sekundäres und tertiäres Stress Syndrom eingeführt. Ersteres ist eine Störung aufgrund grosser Sorge um die betroffene Person, letzteres eine Störung aus Sorge um ein sekundäres Opfer, z.B. die Mutter (Kizilhan, 2000).
Oft verschiebt sich auch die familiäre Struktur grundlegend. Durch die Abwesenheit des Vaters und die finanzielle Not wird eine Arbeitstätigkeit der Mutter notwendig. Viele Kinder müssen daher Erziehungs-, Betreuungs- und Versorgungsfunktionen übernehmen. So sind schon kleinste Kinder gezwungen, unter widrigsten Bedingungen und oft illegal Nahrungsmittel, Brennholz und andere Mangelwaren zu beschaffen.
In repressiven Systemen müssen Eltern auch erleben, wie aufgrund eines ausgeklügelten Spitzelsystems ihre Kinder teilweise als Zeugen gegen sie selbst und andere nahestehende Personen missbraucht werden. Dies führt zu Misstrauen gegenüber den eigenen Kindern und hat Auswirkungen auf die Eltern-Kind Beziehung in jedem Lebensalter (Kestenberg, 1992).
Meiner Ansicht nach belasten diese verschiedenen Aspekte das Familiensystem und das UrVertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen stark. Gestörte Familienverhältnisse und Eltern-Kind Beziehungen können sich auf verschiedene Arten und oft erst längerfristig auf die Psyche des Kindes aus wirken (z.B. Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch, Emotionale Störungen, etc.).
3 Folgen von besonderen Kriegsereignissen
Einige besondere Kriegsereignisse bedeuten für das ohnehin schon durch zahlreiche Verluste und Konfrontationen mit psychischer Gewalt traumatisierte Kind eine zusätzliche Belastung aus der verschiedene für das Ereignis spezifische Folgen resultieren können.
3.1 Folgen von Flucht und Emigration
Das Leben als Flüchtling oder im Exil bedeutet ür das Kind die Anpassung an eine neue und unbekannte Umgebung, die sich oft auch in kultureller Hinsicht und sprachlich von seiner Heimat unterscheidet. Es begegnet Fremdenfeindlichkeit und lebt oft in unmittelbarer Nähe von Kindern ehemals gegnerischen Ethnien. Die Eltern des Kindes, bisher Autoritätspersonen, sind nun oftmals verstärkt auf das Kind angewiesen (z.B. Übersetzertätigkeit) und verlieren im Vergleich mit den Eltern seiner neuen Freunde auf einmal an Bedeutung und Respekt. Häufig schämt sich das Kind seiner Eltern und seiner Herkunft. Diese Bedingungen stellen für das Kind ein zusätzliches Trauma dar und sind oft mit Verhaltensstörungen, Aggression, Depression und Kommunikationsstörungen verbunden (Kocijan-Hercigonja, 1997).
Flüchtlingskinder werden häufig vor und während der Migration oder in Flüchtlingslagern psychisch und physisch über längere Zeit schwerst depriviert. Mangel an Essen und Wasser, fehlende medizinische Behandlung und inadäquate Behausung sind nur einige der deprivierenden Bedingungen. Eine Folge davon können z.B. psychosoziale und geistige Entwicklungsretardierungen sein (Athey & Ahearn, 1991).
3.2 Folgen für Kindersoldaten
Did you kill? - no.
Did you have a gun? -yes.
Did you aim the gun?- yes.
Did you fire? - yes.
What happened? - They just fell down. (Brot für die Welt, 1997)
Mehr als 300000 Kinder unter 18 Jahren kämpfen momentan in Kriegen und Konflikten auf der ganzen Welt. In über 50 Ländern werden aktiv Kindersoldaten rekrutiert, teilweise sind sie jünger als 10 Jahre (Arms Trade Ressource Center, 1999). Einige Kinder greifen aus der politischen Überzeugung ihrer Eltern oder um ihre Geschwister oder Eltern zu rächen zu den Waffen, andere werden zwangsweise rekrutiert und solange gequält und bedroht, bis sie sich widerstandslos fügen. Zwangsweise rekrutierte Kinder müssen oft gegen Regierungstruppen kämpfen sowie Dörfer überfallen und plündern in denen Freunde und Verwandte wohnen. Diese Kinder werden später von ihren Gemeinden und oft auch von den eigenen Eltern nicht mehr akzeptiert. Ehemalige Kindersoldaten sind oft schwer reintegrierbar, sie zeigen starke Störungen des Sozialverhaltens und politisch und gesellschaftlich verursachte Identitätskrisen (Bianco, 1999; Netzhammer, 1995).
3.3 Folgen für Verfolgte und Überlebende von Gefangenenlager
Keilson (1992, S.74) unterscheidet bei jüdischen Kriegswaisen drei traumatische Sequenzen:
Erste traumatische Sequenz: Die feindliche Besetzung der Niederlande mit beginnendem Terror gegen die jüdische Minderheit.
Zweite traumatische Sequenz: Direkte Verfolgung, Versteck in improvisierten Kriegspflegefamilien, Aufenthalt in Konzentrationslagern.
Dritte traumatische Sequenz: Nachkriegsperiode.
Permanente Angst, ein Leben im Verborgenen und unter primitivsten Bedingungen, meist ohne ein Wort sprechen zu dürfen einerseits, Folter, Erniedrigung und Zwangsarbeit andererseits, prägen das Leben von verfolgten und kriegsgefangenen Kindern. Oft müssen sie zusehen wie geliebte Personen verschleppt und getötet werden.
Kinder, die im Säuglings- oder Kleinkindesalter verfolgt oder versteckt wurden, zeigten später vorwiegend Störungen der Kontaktfähigkeit und der sozialen Selbständigkeit. Ältere Kinder (in der Vorpubertät und Pubertät) zeigten mit zunehmendem Alter stärker die charakteristischen Symptome einer chronisch reaktiven Depression sowie Persönlichkeitsveränderungen (Lempp, 1992).
Niederland (1980) führte für die verschiedenen Symptome von Überlebenden von Gefangenenlagern den Begriff ‚Übelebenden-Syndrom’ ein. Das Syndrom besteht aus schweren, oft ganz plötzlich einsetzenden Erregungs- und Angstzuständen, dem unartikulierten Gefühl des ‚Anderssein’ und nirgendwo richtig dazuzugehören und einer tiefen Überlebensschuld. Viele Überlebende meinen, sich für ihr Überleben rechtfertigen zu müssen, erlauben sich daher nicht die geringste Freude und können nichts geniessen. Sie fürchten sich noch im Erwachsenenalter vor Verlust und Tod und können speziell ihre eigenen Kinder nur schwer loslassen (Kestenberg, 1992; Tyrangiel, 1989).
4 Abschliessende Gedanken
In der vorliegenden Arbeit wurde aufgezeigt, wie Kinder auf verschiedene Arten in Kriegsgeschehen verwickelt werden. Ob es sich um direkte Auswirkungen des Krieges, wie das miterleben von Kriegsgräueln, Verletzung, Vergewaltigung und Vertreibung oder um indirekte Belastungen, wie Armut, Zerstörung der Familienstruktur oder Wertewandel in der Gesellschaft handelt, die Konsequenzen des Aufwachsens in Gefahr, Chaos und Deprivation sind meines Erachtens immer vielfältig und schwer.
Auf der Grundlage dieser Kriegserlebnisse konnten eine Vielzahl von physischen, psychischen und sozialen Traumatisierungen für das Kind unterschieden werden. Eine Festlegung von charakteristischen Symptomen oder Phänomenen im Verhalten von unter Kriegszuständen aufwachsenden Kindern scheint dabei nur schwer möglich. Es hängt von zahlreichen Faktoren ab, mit welcher Art von Symptomen ein Kind reagiert, wie stark diese sind, wie lange sie andauern oder ob es Spätfolgen geben wird (vgl. Athey & Ahearn, 1991; Kizilhan, 2000; Kocijan-Hercigonja, 1997). Auf diese Weise lässt sich die oft beobachtbare Tatsache, dass längst nicht jedes Kind gleich stark unter den traumatisierenden Folgen von Kriegserlebnissen leidet, meiner Ansicht nach zu einem grossen Teil erklären. Es scheint mir daher wichtig, dass intervenierende Variablen wie Familie (Erziehungsstil, Beziehung zu den Eltern, Bewältigungsmöglichkeiten der Eltern), Alter, Geschlecht, soziale Unterstützung, sozioökonomischer Status und ganz besonders der Konfrontationsgrad genauer beachtet werden. Auch soziale Institutionen, wie Schulen, sind für die Entwicklung eines kriegstraumatisierten Kindes meines Erachtens äusserst wichtig. Schulen können in Kriegssituationen zwar einerseits Kontrollinstanzen sein, meist ist ihr Einfluss jedoch befreiend. Schulschliessungen haben oftmals eine schädliche Wirkung, da sie den Kindern die Möglichkeit nehmen ihr geregeltes Leben weiterzuverfolgen, mit Freunden zusammenzusein, aber auch zusätzliche moralische Ansichten und Werte zu erfahren.
Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Faktoren und Moderatorvariablen sind hoch komplex. Um sein emotionales und psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist das Kind auf verschiedene kognitive Anpassungsleistungen angewiesen. Pauschal lässt sich zusammenfassen, dass je häufiger Kinder einem Gewaltklima ausgesetzt sind, desto aggressiver reagieren sie im sozialen Bereich und desto verzerrter ist ihr Moralverständnis. Das emotionale Befinden der Kinder oft sogar ‚stabiler’, je stärker sie ‚dissoziales’ Verhalten zeigen (Kizilhan, 2000, S. 248).
Wir wissen nun, welche unmittelbaren Auswirkungen Kriege auf Kinder haben.
Systematische Untersuchungen über die Spätfolgen existieren jedoch bisher kaum (Kocijan- Hercigonja, 1997). Es wäre interessant zu wissen, wie sich Kinder, die Zeugen von systematischer Zerstörungswut, Folter und Mord wurden, die von ihrer Umgebung verletzt worden sind, eines Tages verhalten werden. Auch die Folgen für die zweite Generation sind bisher nur ansatzweise erkennbar. Wie wirkt es sich auf Nachkommen aus, wenn einer oder beide Elternteile kriegstraumatisiert bzw. seelisch gestört sind?
Kriegstraumatisierte Kinder haben dringend unsere Unterstützung und Zuwendung nötig, damit sie wieder Vertrauen in die Menschheit entwickeln können und in ihnen wieder der Wunsch entsteht, in einer Gemeinschaft zu leben und ganz einfach wieder Kind zu sein.
,Beenden Sie den Krieg im Namen der Kinder ’
‚ Ich habe keine Botschaft, weil die Welt uns nicht versteht ’
Dies sind die Antworten zweier Kinder mit Kriegserfahrungen, auf die Frage, ob sie eine Botschaft für die Welt hätten (Schäffer, 1994).
5 Literaturverzeichnis
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Akute und chronische psychotraumatische Syndrome.
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- Kerstin Albrecht (Author), 2001, Folgen von Kriegserfahrungen für Kinder und Jugendliche, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101793
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