Neutralität in Österreich
Grundlagen: StV Wien und Neutralitätserklärung vom 26.10.1955 sind Teil des europäischen Entspannungsprozesses; neben militärischer Abschreckung war politisch-ideologische Abgrenzung für Sicherheit Europas wichtig; UdSSR wollte Neutralität für ihre Politik der friedlichen Koexistenz verwenden, heute erwartet die EU daß sich Neutralität mit Pflichten eines Mitglieds vereinbaren lassen=> gewandeltes Neutralitätsverständnis, besonders nach Zerfall des Ostblocks - welchen VR-Status hat die Neutralität?
NEUTRALITÄTSBEGRIFF
Neutralität - 2 Arten:
gewöhnliche/temporäre (ad-hoc-)Neutralität = Nichtteilnahme an einem bestimmten Krieg und Summe der VR-Regeln, die das Verhältnis neutraler Staaten zu den Kontrahenten determinieren;
immerwährende/dauernde/permanente Neutralität = Status von Staaten, die a priori ohne Bezug auf bestimmten Konflikt erklären, in Hinkunft neutral bleiben zu wollen; => Pflichten entstehen daraus auch in Friedenszeiten (=Vorwirkungen der Neutralität);
Neutralitätsre cht: Rechtsgrundlage der gewöhnlichen Neutralität = V.Haager Abkommen betreffend Neutralität im Landkrieg, und XIII.Haager Abkommen (Seekrieg) vom 18.10.1907; Staatsgebiet und Luftraum des Neutralen genießen gesteigerten VR-Schutz vor den Kontrahenten; neutraler Staat (nicht seine Bürger - bei verstaatlichten Betrieben ist Organisationsform relevant; wenn wie Privater, dann auch als solcher anzusehen) unterliegt Verpflichtungen: Enthaltungspflicht = keine Unterstützung durch Streitkräfte, Material, Nachrichtenübermittlung, Kredite oder Zurverfügungstellung von Staatsgebiet; Verhinderungspflicht = Abwehr neutralitätswidriger Handlungen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln = auch Waffengewalt; Unparteilichkeitspflicht = Maßnahmen in Bezug auf Kontrahenten müssen unparteilich sein, nicht z.B. einseitige Ein/Ausfuhrverbote, sondern für beide oder keinen anzuwenden; z.B. Schweiz - courant normal = Warenverkehr mit Kontrahenten wird auf Level vor Kriegsbeginn eingefroren;
Pflichten für dauernd Neutralen in Friedenszeiten: Verbot des Beitritts zu Militärbündnissen oder der Zulassung fremder Stützpunkte auf eigenem Territorium; Gebot durch Landesverteidigung (inklusive militärischer) Vorsorge zu treffen; Verbot des Beitritts zu wirtschaftlichen Vereinigungen, die an Erfüllung der Neutralitätspflicht im Krieg hindern könnten; daraus entstehen potentiell Probleme mit Mitgliedschaft in OVN und EG/EU;
Neutralitätspolitik:
= Summe der Maßnahmen, durch die neutraler Staat seinen Neutralitätsstatus näher bestimmt (=genauere inhaltliche Ausformung der Neutralität); NP iwS = Maßnahmen die vom Staat über seine Neutralitätspflichten hinaus zur Wahrung der Neutralität gesetzt werden;
Historische Entstehung der Neutralität: auffälliger zeitlicher Zusammenhang zum NATO- Beitritt der BRD und zum Entstehen des Warschauer Pakts läßt Regieführung und Interesse der Sowietunion am VR-Sonderstatus ,immerwährende Neutralität' vermuten;
Vorgehensweise erlaubte es der UdSSR, im Falle einer nicht erfolgten freiwilligen Neutralitätserklärung Österreichs, den StV Wien nicht zu ratifizieren; Freiwilligkeit der Erklärung war Bedingung der Weststaaten;
1. Schritt = 15.04.1955: Moskauer Memorandum: österreichische Delegation gibt Verwendungszusage Ö werde in Zukunft Neutralität nach Vorbild der Schweiz ausüben' ab; durch Verweis auf Schweiz = Chance, seine Position am Westen zu orientieren;
2. 2.Schritt = 07.06.1955: Verkündigung der immerwährenden Neutralität (wurde nahezu wörtlich ins BVG-Neutralität übernommen) anläßlich der Ratifikation des Staatsvertrags durch den Nationalrat; erst jetzt ratifizierte die UdSSR den StV Wien;
3. 3. Schritt = 26.10.195 5: Kodifizierung der Neutralität durch das BVG Neutralität;
NEUTRALITÄT - ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG
Phasen des Neutralitätsdiskurses:
1.Frage: Wurde durch Neutralitätserklärung vom 26.10.1955 nur eine jederzeit widerrufbare Maxime der Außenpolitik festgelegt oder ein besonderer VR-Status begründet? Antwort nach Vorbild der Schweiz = VR-Sonderstatus;
2.Frage: Ist Neutralität mit Mitgliedschaft bei OVN vereinbar? Ja, da Sicherheitsrat der OVN im Wissen über die Neutralität die Aufnahme Österreichs empfohlen hat, wird er Österreich nicht nach Kapitel VII der OVN-Satzungen zu neutralitätswidrigen Maßnahmen verpflichten, neuere Interpretation (seit Irak) nach Widerlegung dieser Version als österreichische Konstruktion statt geschichtlicher Wahrheit: militärische Maßnahmen nach Kapitel VII sind keine Kriegs- und somit auch keine für Neutralität relevanten Handlungen;
3.Frage: Inwieweit ist Annäherung an EWG Anfang der 60er durch Neutralität beschränkt? 1972 geschlossenes Freihandelsabkommen mit EWG und EGKS ist jedenfalls mit Neutralität vereinbar;
4.Frage: Vereinbarkeit Neutralität und EU-Beitritt; im Streit über Gründe für und Vorgangsweise bei Beendigung der Neutralität ist ihr Anfang wieder wichtig, wenn sie nicht in desuetudine (=in Entwöhnung=> langsam schleichend) sondern durch einen contrarius actus beendet werden soll-, Weiterer Konfliktpunkt aus der Geschichte: Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres - durch Aufnahme der umfassenden Landesverteidigung ins B-VG (Art. 9a B-VG) wurde Neutralität auch als bewaffnete Neutralität bestätigt; Noch ein Konfliktpunkt: sowjetische Neutralitätsdoktrin zielte weniger auf bewaffnete Neutralität, sondern wollte Österreich zu aktiver Außenpolitik und positiver Friedenspolitik verpflichten - im Dienste der Sowjet-Friedenspolitik natürlich;
Entwicklung der Neutralität: Februar 1954 - Außenministerkonferenz in Berlin: UdSSR schlägt Neutralitätsklausel im Staatsvertrag vor; Westmächte lehnen ab, da nur bei Freiwilligkeit sinnvoll (Hintergrund Neutralisierung von Österreich im Staatsvertrag würde gleiche Sowietforderung bei Deutschland verursachen); Figl erklärt, Österreich werde sich freiwillig neutral erklären oder auf einen Staatsvertrag als ganzes verzichten; Moskauer Verhandlungen April 1955: Österreich wollte nur Nichtzulassung von Militärstützpunkten zusagen, Außenminister Molotow bestand auf Wort Neutralität, Österreich akzeptierte mit wie in der Schweiz'-Zusatz--> Moskauer Memorandum; Vortrag von Alfred Verdross noch am 26.10.1955 über Neutralität unterscheidet zwischen Neutralitätsrecht (Vorwirkungen und Verhaltensweise im Konfliktfall) und neutralitätsfreier Außenpolitik nach Gutdünken des neutralen Staats andererseits; Konsequenz: Österreich mußte sich zur Neutralitätsverteidigung bewaffnen (Problem z.B. Luftraumüberwachung), hatte dafür bei seiner OVN-Mitwirkung größere Handlungsspielräume;
Neutralitätskonzept der Schweiz:
gibt 3 Arten staatlicher Macht: militärische, wirtschaftliche und ideologische=> diese 3 Typen von Neutralität sind möglich, Schweiz entschied sich für militärische Neutralität und begrenzte ("courant normal") wirtschaftliche Neutralität; ideologisch = westlich; Neutralitätsträger ist nur Staat, nicht Individuum; bewaffnete Neutralität soll Aggressor einen hohen Preis für Verletzung zahlen lassen und so als Mittel der Friedenssicherung dienen; daher wird Abschaffung des Heeres als mit bewaffneter Neutralität (der Schweiz) unvereinbar gesehen;
Sowjetische Doktrin der friedlichen Koexistenz:
basiert auf marxistisch-leninistischem Friedensbegriff - politisches Gewicht der Neutralität ist Frieden(spolitik) statt militärische Aspekte; Hintergedanke: durch Nichtteilnahme des neutralen Staats an Militärblöcken schwächt er die Feinde der Friedenskräfte und trägt so zum Frieden bei; dieser passive Beitrag Blockfreiheit reicht aber nicht, zusätzlich = soll durch positive Neutralität dem positiven Frieden dienen: dieser positive' Friede herrscht erst wenn die kapitalistische Klassengesellschaft (als Ursache der Friedlosigkeit) durch Herrschaft des Proletariats abgelöst wurde und somit soziale Gerechtigkeit realisierbar ist;
somit ist neutralem Staat die Hauptverpflichtung (aktive Friedenspolitik) bereits in
Friedenszeiten auferlegt; Endeffekt = Neutralität ist gleichbedeutend mit Parteinahme für UdSSR;
NEUTRALITÄT IM INNERSTAATLICHEN RECHT
durch nationales Recht wird Einzelner, der von Neutralität ja nicht erfaßt ist (nur der Staat), gebunden;
Kriegsmaterialgesetz: vom 18.10.1977; ist lex specialis zum Außenhandelsgesetz und sieht BewiIIigungspflicht für Ein/Aus/Durchfuhr von Kriegsmaterial vor; verbietet weiters Lieferung von Kriegsmaterial in Länder die Menschenrechte schwer und wiederholt verletzen und ermöglicht Berücksichtigung von Embargos des SR (Sicherheitsrates);
Probleme: sind durch § 3 (1) KMG Waffenexporte generell unmöglich? was ist mit Waffenlieferungen an Befreiungsbewegungen die ein menschenrechtsverletzendes Regime bekämpfen? Inwieweit kann Österreich sich von SR-Sanktionen absentieren?
Beispiel Irak -erheblicher Solidaritätsdruck veränderte Sichtweise der Position in bezug auf Sanktionen nach Kapitel VII OVN-Satzung: statt Berufung auf Sonderstatus seit Aufnahme in OVN und daher Ablehnung einer Bindung an SR-Sanktionsbeschlüsse in Kombination mit "autonomer Nachvollziehung unter Berücksichtigung der Neutralitätspflichten" (wie bei Rhodesien & Südafrika) erfolgte Schwenk auf Argumentationslinie Militärmaßnahmen nach Kapitel VII seien nicht Krieg im VR-Sinn und daher werde die Neutralität nicht berührt;
Neutralitätsgefährdung - § 320 StGB: VR verpflichtet Neutrale zur Unterbindung von Kriegshilfe von seinem Territorium aus; Anwendung z.B. bei Spendensammlung des Kommunistischen Bundes Österreichs für Volkskrieg in Zimbabwe - damit wurden 2 Landrover dem bewaffneten Arm der ZANU (Zentral African National Union) zur Verfügung gestellt; diesbezügliche Anzeige nach § 320 StGB wegen Rechtsirrtums des Veranstalters (Schuldausschließungsgrund des § 9 (1) StGB, Rechtsirrtum), wurde zurückgelegt;
Wissenswertes zur Neutralität aus Öhlinger (Verfassungsrecht)
Neutralität ist nur eine Staatszielbestimmung, aber kein Grundrecht: niemand hat ein subjektives (einklagbares) Recht darauf, nur Gesetzgebung und Vollziehung sind daran gebunden; Neutralität ist auch kein Baugesetz der Verfassung, dessen Änderung obligatorisch einer Volksabstimmung zu unterziehen wäre (logisch - B-VG entstand 1929, BVGNeutralität 1955), ist also wie ein normales Verfassungsgesetz aufhebbar; Rechtsgrundlage der Neutralität ist ausschließlich das diesbezügliche BVG vom 26.10.1955 das Moskauer Memorandum vom 15.04.1955 stellt nur eine Verwendungszusage dar; Inhalt der Neutralität wird durch VR determiniert: im Kriegsfall Nichtteilnahme an bewaffneten Konflikten und unparteiisches Verhalten, in Friedenszeiten keine Teilnahme an politischen/wirtschaftlichen/militärischen Bündnissen und anderen Verbindungen, die im Kriegsfall die Einhaltung der Neutralitätspflichten behindern;
Häufig gestellte Fragen zu Neutralität in Österreich
Was ist der Unterschied zwischen gewöhnlicher und immerwährender Neutralität?
Gewöhnliche Neutralität bezieht sich auf die Nichtteilnahme an einem bestimmten Krieg, während immerwährende Neutralität eine a priori erklärte Absicht ist, in Zukunft neutral zu bleiben, auch in Friedenszeiten.
Welche Pflichten hat ein dauernd neutraler Staat in Friedenszeiten?
Zu den Pflichten gehören das Verbot des Beitritts zu Militärbündnissen oder der Zulassung fremder Stützpunkte, die Verpflichtung zur Landesverteidigung und das Verbot des Beitritts zu Wirtschaftlichen Vereinigungen, die die Neutralitätspflicht im Krieg beeinträchtigen könnten.
Wie entstand die Neutralität Österreichs historisch?
Die Neutralität Österreichs entstand im Zusammenhang mit dem NATO-Beitritt der BRD und dem Entstehen des Warschauer Pakts. Sie wurde in drei Schritten kodifiziert: das Moskauer Memorandum, die Verkündigung der immerwährenden Neutralität anlässlich der Ratifikation des Staatsvertrags und die Kodifizierung durch das BVG Neutralität.
Ist die Neutralität mit der Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen (OVN) vereinbar?
Ja, da der Sicherheitsrat der OVN im Wissen um die Neutralität die Aufnahme Österreichs empfohlen hat. Es wird davon ausgegangen, dass Österreich nicht zu neutralitätswidrigen Maßnahmen nach Kapitel VII der OVN-Satzung verpflichtet wird. Eine neuere Interpretation besagt, dass militärische Maßnahmen nach Kapitel VII keine Kriegs- und somit auch keine für Neutralität relevanten Handlungen seien.
Inwieweit ist eine Annäherung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch die Neutralität beschränkt?
Das 1972 geschlossene Freihandelsabkommen mit der EWG und der EGKS ist jedenfalls mit der Neutralität vereinbar.
Wie unterscheidet sich das Neutralitätskonzept der Schweiz von der sowjetischen Doktrin der friedlichen Koexistenz?
Die Schweiz setzt auf militärische Neutralität und begrenzte wirtschaftliche Neutralität, während die sowjetische Doktrin der friedlichen Koexistenz auf marxistisch-leninistischem Friedensbegriff basiert, der die politische Bedeutung der Neutralität (Friedenspolitik) über militärische Aspekte stellt.
Was regelt das Kriegsmaterialgesetz in Bezug auf die Neutralität?
Das Kriegsmaterialgesetz regelt die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial und verbietet die Lieferung von Kriegsmaterial in Länder, die Menschenrechte schwer verletzen. Es ermöglicht auch die Berücksichtigung von Embargos des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Wie wird die Neutralität im innerstaatlichen Recht behandelt?
Die Neutralität ist eine Staatszielbestimmung, aber kein Grundrecht. Nur Gesetzgebung und Vollziehung sind daran gebunden. Rechtsgrundlage ist das BVG vom 26.10.1955.
Wie hat der EU-Beitritt die Neutralität Österreichs verändert?
Durch den EU-Beitritt ist die Neutralität nicht mehr umfassend, sondern differentiell. Art 23f B-VG erlaubt die Mitwirkung an der GASP inklusive der Petersbergen-Missionen.
- Arbeit zitieren
- Klaus Pirker (Autor:in), 2001, Neutralitaet in Oesterreich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101727