Auschwitz 2000 - Gegen das Vergessen
Tränen laufen über mein Gesicht.
Ich kann die Konturen der Schaukästen nur schemenhaft erkennen.
Was geschah hier?
Ich glaube niemand von uns kann diese Frage wirklich beantworten. Niemand kann das ganze grausame Ausmaß dieser unmenschlichen, menschenverachtenden, perversen Taten wirklich fassen. Wir laufen umher wie Maschinen, getrieben von der Stimme unserer eigenen Neugier, unserem Verlangen alles zu sehen, was unsere Vorfahren
in ihrem unstillbaren Fanatismus verbrochen haben.
Leid, Tod und Trauer verfolgt unsere Gruppe auf dieser makaberen Entdeckungsreise durch das dunkelste Kapitel der deutschen - unserer eigenen - Geschichte.
Haare, unglaubliche Massen an Haaren. Von der Mutter geflochtenes, mit einer roten Schleife zusammengehaltenes Haar, weich und glänzend. Frisch geputzte Schuhe, jetzt nur noch ein Paar unter tausenden, millionen
Was mag der Mensch gedacht haben, als er von hämisch grinsenden, laut schreiendenß-Leuten nackt und hilflos in die Gaskammer getrieben wurde?
Die Halle des Todes.
Hat er wirklich noch an das Märchen der Duschen geglaubt, aus denen klares, sauberes, erfrischendes Wasser fließen sollte?
Er behielt die Hoffnung bis zum Schluss... Doch es kam kein Wasser...
Wir stehen an dem Ort, in dem Raum, welcher für unzählig viele Menschen zur Endstation ihres Lebens wurde.
Unbegreiflich, wie viele es wirklich waren.
Nebenan die Öfen.
Wenn ich ganz still bin, kann ich das Knistern und die Wärme des Feuers spüren.
Fast romantisch
Doch dies ist kein Kaminfeuer.
Ich höre das Bersten der Knochen. Menschenknochen.
Grinsende Japaner stehen vor dem Krematorium, winken Freunde und Bekannte herbei für ein Foto fürs Familienalbum. Sie strahlen in die Kamera.
Dreijährige laufen lachend über den Appellplatz.
Es blühen Blumen, Schmetterlinge fliegen umher, es riecht nach Kamille.
Ich kann das nicht verstehen.
Wie kann die Natur so schnell vergessen?
Es wächst Gras über die Vergangenheit... es wächst gut und schnell, denn die Lagererde ist gedüngt mit Asche. Menschenasche.
Doch wir dürfen das Gras nicht ungehindert und wild wuchern lassen.
Ganze Busse mit Touristen werden angekarrt. Für die meisten nur ein weiterer Haken auf ihrer Besichtigungsliste.
Wer aus der Vergangenheit nicht lernen will, ist verdammt, sie wieder zu erleben ...
Wir sitzen am Mahnmal, um uns herum Pflastersteine. Jeder Stein ein Leben, ein wertvolles Menschenleben.
Gedenksteine in der Sprache einer jeden Nation.
Vor dem der Juden wird gebetet. Ein Gebet für all die Väter, Mütter, Kinder, die verdammt waren, hier zu sterben.
Der hebräische Gesang schallt durch das leere Lager.
Doch es ist nicht wirklich leer.
Die Seelen der Toten schweben über uns. Anderthalb Millionen Seelen starren auf uns herab.
Ihr stummes Wehklagen erfüllt die Luft mit einer Spannung, einer unglaublichen Spannung...
Die Juden singen noch immer.
Jeder von uns ist tief berührt. Viele geben sich die Schuld, verspüren Scham.
Doch wie können wir für die Taten unserer Urgroßväter verantwortlich gemacht werden?
Wir sind nicht Schuld, nur weil wir Deutsche sind.
Unsere Aufgabe ist es, mit den Erfahrungen, die wir aus dem Lager mit nach Deutschland nehmen, unserer Generation und die folgenden Generationen daran zu hindern, die gleichen grausamen Fehler wieder zu begehen.
Es ist schwer und es scheint unmöglich, doch wenn wir nicht gemeinsam versuchen, den Menschen die Auge zu öffnen, wird das Gras weiter wachsen und die grausame Realität unter einem duftenden Blumenmeer
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Anne Abendroth
- Arbeit zitieren
- Anne Abendroth (Autor:in), 2001, Auschwitz 2000, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101284