Die Entwicklung des sozialen Verstehens und das Konzept der Perspektivenübernahme
I.Einleitung - Einführung in das Themengebiet
I.1. Soziale Kognition und die Einordnung von soz. Verstehen und PÜ
- übergeordneter Begriff „soziale Kognition“ (wie Personen, Dinge verstanden werden)
- wird beschrieben durch drei Teilelemente:
a) soziales Wissen
b) soziales Verstehen
c) soziales Handeln
- zur Verdeutlichung:
a) aus Mimik des Gegenüber werden Schlüsse über dessen Absichten gezogen
- Anwendung soziales Wissens, d.h., Individ. greift auf Erfahrungsschatz zurück
b) durch Anwendung und Auswertung dieses Wissens wird ein Verstehen der Absichten des anderen erreicht (= das hat er also vor...)
c) das eigene Handeln wird von dem Verständnisgewinn beeinflußt
- je nachdem, wie ich Mimik des Gegenüber verstanden habe, verhalte ich mich
- Einordnung der PÜ in das Schema:
- PÜ ist der kognitive Prozess des sozialen Verstehens
- zeigt, wie soziales Verstehen funktioniert
- einige Ansätze, sich mit sozialem Handeln auseinanderzusetzen
- ein Ansatz von Piaget: Befassung mit der sog. PÜ
I.2. Rolle des sozialen Handelns nach Dieter Geulen
- Beschäftigung mit soz. Handeln hat Ursachen in gesellschaftl. Realität
-allg.:befinden uns „handeln-müssend“ in gesellschaftl. Realität
-Ursache:verschiedene gesellschaftl. Entwicklungen:
- Handlungsmuster nach der Norm veraltet/ in Frage gestellt
- Asuweitung rechtlicher, politischer, tecchnischer Handlungsmöglichkeiten
- diese rasanten Entwicklungen führen zu „Ohnmacht“, da Anpassung in der erforderlichen Geschw. Für die meisten unmöglich
-Handeln wird zum Problem
-Geulen:- menschliches Handeln ist fast immer soz. Handeln, da wir uns in allem, was wir tun an den anderen orientieren
Bsp.:- Indiv. Schlägt Nagel in die Wand = Handeln
- Indiv. Lebt in Mietshaus ® Zeitpunkt, wann genagelt wird, richtet sich nach Hausordnung = soziales Handeln
- so oder so ähnl. Lassen sich alle menschlichen Handlungen als soz. verstehen
-allg.:Handeln bezieht sich a) auf Objekte (= allg. Handlungsorientierung) und
b) auf Subjekte (= Orientierung an anderen)
I.3. Definition PÜ
- mit diesem Vorwissen kann PÜ beschrieben werden:
- = Ansatz zur Erklärung des soz. Handelns, d.h., Beschäftigung mit sozialer Ebene des Handelns/ sozialer Handlungsorientierung
- um Handlungsorientierung eines anderen zu verstehen, ist besondere Art der Kognition nötig, da es sich hier ja, im Gegensatz zur allg. Handlungsorientierung, um etwas „Inneres“ handelt (kann nicht in den anderen reinschauen )
- diese kognitive Fähigkeit ist die Fähigkeit zur PÜ
-DefinitionPÜ:
- Subjekt (Ego) versteht psychische Zustände und Prozesse, wie etwa das Denken, Fühlen oder Wollen des anderen Subjekts (Alter), indem es dessen Perspektive erkennt und entsprechende Schlußfolgerung zieht
-Konzept der PÜ:
- Verstehen = Rekonstruieren der Perspektive (= Sichtweise)
- Fähigkeit des soz. Verstehens = Fähigkeit, sich in andere reinzuversetzen (bzw. setzt diese voraus)
-Wiefunktioniert PÜ?
- Subjekt (Ego) versetzt sich innerhalb einer gegebenen Situation, in der es sich mit einem anderen Subjekt (Alter) befindet, virtuell in die Position des anderen und rekonstruiert die dieser Position entsprechende Perspektive von der Situation sowie von ihm selbst.
I.4. Konzept der PÜ als ein Ansatz zur Erklärung soz. Handelns
- PÜ nicht einziger Ansatz; auch andere etabliert:
- meisten anderen Ansätze: Begriff des Handelns unvollständig oder soziale Ebene des Handelns ausgeblendet
-z.B. behavioristischer Ansatz:
- Handeln ist eine beobachtbare motorische Reaktion auf auf einen äußeren Reiz
- Reaktion durch positive Bekräftigung in früheren, ähnlichen Situationen etabliert
- soziales Handeln beruht nicht auf Prinzip des sich Hineinversetzens sondern auf Prinzip der Gegenreaktionen (tue etw.; werde dafür belohnt; tue es öfter)
- wenn man Definition der PÜ betrachtet ® soz. Ebene des Handelns sehr vereinfacht dargestellt
- Vorteile des Ansatzes der PÜ gegenüber anderen Ansätzen
a) Begriff des Handelns vollständig (durch 2 Arten der Handlungsorientierung)
b) volles Einbeziehen der sozialen Ebene des Handelns
c) Erkennen der Handlungsorientierung des anderen sehr einfach, da Daten durch simple Wahrnehmung der Situation entnommen werden können
II. Hauptteil – Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme
II.1. Allgemeiner Verlauf der Entwicklung nach Flavell et al.
- allg. werden 4 Entwicklungsstufen unterschieden (nach Flavell):
I. - Unterschiede in sozialer Perspektive werden als Möglichkeit erkannt
- aber: nicht fähig anzugeben, welches Denken, Fühlen, Wollen der soz. Perspektive eines anderen entspricht
II. - Bedürfnis, diese Unterschiede zu erkunden, entwickelt sich
III. - Entwicklung analytischer Fähigkeiten ® Unterschiede werden erkannt
IV. - Entwicklung der Fähigkeit, das durch PÜ gewonnene soziale Verstehen planvoll in soz. Handeln einfließen zu lassen
- bei Entwicklung von PÜ wird unterschieden ® Unterteilung in drei Bereiche der PÜ
- räumlich-visuelle Perspektivenübernahme (nach Piaget)
- emotionale Perspektivenübernahme (nach Borke)
- informationsbezogene Perspektivenübernahme (nach Mossler et al.)
II.2. räumlich-visuelle Perspektivenübernahme (nach Piaget)
II.2.1. Ziele der Untersuchung
-allg.:wie entwickelt sich die Fähigkeit zur PÜ beim Kind
- Erforschung der Konstruktion eines Gesamtsystems, das die versch. Perspektiven zueinander in Beziehung setzt
- Untersuchung der Beziehungen, die Kind zwischen eigenem Blickwinkel und dem anderer Beobachter herstellt
II.2.2. Methoden
- untersucht werden komplexe Perspektiven ® solche entstehen bei Betrachtung eines Bergmassivs, das von mehreren Standorten aus betrachtet wird
- Perspektive ist abhängig von den aufeinanderfolgenden Standorten einer Person bezüglich einer Menge von Gegenständen (= Berge)
-komplexer da:nicht mehr nur betrachtet wie sich scheinbar Form und Dimensionen eines Gegenstandes bei veränderter Perspektive ändern, sondern auch
wie sich relativen Positionen der Gegenstände zueinander sowie zu den versch. Beobachtern ändern
- Bogen zum sozialen Verstehen: Entwicklung der auf kognitiven Aufgaben beruhenden PÜ in selber Abfolge, wie Entwicklung der sozialen Sensibilität (soz. PÜ)
a) Versuchsaufbau (siehe Folie)
- Modell eines Bergmassivs (1m2 Grundfläche)
- Berge unterscheidbar anhand der Farbe und versch. Attribute
- Berg 1 grün, Häuschen drauf, Zickzack-Weg an einer Seite (von C aus)
- Berg 2 braun, Kreuz auf Gipfel, Bach (von B aus)
- Berg 3 grau, schneebedeckt
- Puppe stellvertretend für anderen Beobachter (andere Perspektive)
- Puppe ohne Gesicht, damit Blickrichtung nur von Kopf (nicht von Augen) abhängt b) Ziel
- Kind soll sich verschiedene Perspektiven unterschiedl. Beob. (repräsentiert durch Puppe an den Positionen 1-3) vorstellen und durch Überlegung rekonstruieren
c) Durchführung
- um zu untersuchen ob und inwiefern Kind Perspektivenübernahme vollzogen hat
- 3 untersch., einander ergänzende Befragungsverfahren:
1. 3 Pappstücke in Form der drei Berge zum Modellieren der jeweiligen P.
2. 10 Bilder des Bergmassivs aus unterschiedl. Perspektiven dem Kind gezeigt
- soll zur Persp. der Puppe passendes Bild herausfinden
3. 10 Bilder des Bergmassivs; eines auswählen; dazu passend Puppe platzieren
- 100 Vpn 21 (4-6,5a); 30 (6;7-8a); 33 (8-9a); 16 (9a); 6 (bis 12a)
-Klassifikation der Antworten in 6 Stadien (am Bsp. des Befragungsverfahrens Nr.1):
- 1. (< 4 ) - Kind versteht Frage gar nicht
- 2. (4-6,5) - keine bzw. mangelhafte Unterscheidung des eigenen
Blickwinkels von denen der anderen Beobachter
- 2a - bei jedem Standortwechsel der Puppe beginnt Kind mit neuer Darstellung des Massivs ® jedesmal kommt eigene Perspektive heraus
- 2b - Kind versucht zu unterscheiden, fällt aber in egozentr.
Sichtweise* zurück
- 3 (7-10) - wachsende Differenzierung und Koordinierung der
Perspektiven
- 3a - gewisse Perspektiven werden je nach Standortwechsel des Beobachters differenziert; im ganzen jedoch nicht koordiniert
- 3b - Gesamtkoordinierung mit Einschränkungen
- 4 (10-11) - Lösung von Egozentrismus ® Kind beginnt, zu verstehen, daß sich Perspektiven je nach Position der Puppe unterscheiden
- Mischung aus eigener Perspektive und der anderer
- Berücksichtigung von nur einer Beziehung auf einmal (rechts-linksodervorn-hinten)
- 5/6 (ab 12) - Erreichung der vollständigen Relativität
II.2.3. Ergebnis
- beim (puren) Egozentrismus wird davon ausgegangen, daß alles nur aufgrund der eigenen Handlung bewegt wird
- ® um aber den Raum, in dem es sich bewegt zu verstehen, muß Kind begreifen, daß sich Objekte auch ohne eigenes Zutun (Handlung) bewegen
= Erweiterung der egozentr. Perspektive ® diese schon sehr früh entwickelt
- es steht aber nur ein Subjekt (Ich) in Beziehung zu den Objekten
- um andere Subjekte mit einzubeziehen, d.h., andere Perspektiven zu verstehen, muß eine gewisse Notwendigkeit bestehen
- diese entwickelt sich in dem Moment, da Kind versucht sich Dinge unabhängig von der unmittelbaren Handlung vorzustellen
- Grund dafür:
- um mit jemandem kommunizieren zu können bzw. um von jemand anderem Information über den Raum zu bekommen
- wenn sich das Kind den Raum vorstellen will, muß es mehrere Perspektiven in Betracht ziehen
- um sich Raum vorstellen zu können, müssen alle möglichen Perspektiven in einer einzigen Handlung vereint werden (da es ja nicht überall gleichzeitig sein kann!)
- wenn man sich selbst an versch. Stellen vorstellen kann, stellt man sich in Wirklichkeit die Perspektive eines anderen vor ® man übernimmt des Perspektive = Perspektivenübernahme
II.3. emotionale Perspektivenübernahme (nach Helene Borke)
II.3.1. Ziele der Untersuchung
- Entwicklung der Fähigkeit zur PÜ
- Unterscheidung von a) Empathie und b) Egozentrismus
a) Mitfühlen, d.h., Sichtweise eines anderen wird erkannt (= primärer Prozess menschlicher Interaktion u. Kommunikation)
b) auf sich selbst zentriert; unfähig Sichtweise eines anderen einzunehmen
- bezieht sich auf Piaget: Egozentrismus erst im Alter von 7 Jahren überwunden und bis zum
12. Lebensjahr perfektioniert
- Zustimmung bei Abhängigkeitsverhältnis von zunehmendem Alter und Entwicklung der Fähigkeit zur PÜ
aber:
- Vergleich von Beobachtungen im Feld und system. Untersuchungen im Labor (Piaget)
- Widerspruch (Kind streckt Spielzeug weinendem Kind hin)
- Borke will zeigen, daß sich Fähigkeit zur PÜ schon viel früher entwickelt
- These, daß dies Untersuchungen im Labor (s. Piaget) nicht zeigen konnten, weil zu hohe Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder
- ® Bestätigung der These durch Wahl einer Aufgabe, die kogn. Entw.stand von 3jährigen entspricht (bei Piaget: Stufe 1; versteht Frage nicht)
II.3.2. Methoden
a) Ziel
- Messung der interpersonellen Sensibilität/ emotionalen PÜ b) Probanden
- Kinder aus Mittelschicht
- Anzahl: 200
- Alter: 3-8 Jahre
Häufig gestellte Fragen
Was ist soziale Kognition und wie hängt sie mit sozialem Verstehen und Perspektivenübernahme zusammen?
Soziale Kognition ist ein übergeordneter Begriff, der beschreibt, wie Personen und Dinge verstanden werden. Sie besteht aus drei Teilen: soziales Wissen, soziales Verstehen und soziales Handeln. Perspektivenübernahme (PÜ) ist ein kognitiver Prozess des sozialen Verstehens und zeigt, wie soziales Verstehen funktioniert.
Welche Rolle spielt soziales Handeln nach Dieter Geulen?
Dieter Geulen argumentiert, dass menschliches Handeln fast immer soziales Handeln ist, da wir uns in allem, was wir tun, an anderen orientieren. Handeln bezieht sich sowohl auf Objekte (allgemeine Handlungsorientierung) als auch auf Subjekte (Orientierung an anderen).
Wie wird Perspektivenübernahme (PÜ) definiert?
PÜ ist der Ansatz zur Erklärung sozialen Handelns. Es ist die Fähigkeit eines Subjekts (Ego), psychische Zustände und Prozesse wie Denken, Fühlen oder Wollen eines anderen Subjekts (Alter) zu verstehen, indem es dessen Perspektive erkennt und entsprechende Schlussfolgerungen zieht. Verstehen beinhaltet die Rekonstruktion der Perspektive des anderen.
Was sind die Vorteile des Ansatzes der PÜ gegenüber anderen Ansätzen zur Erklärung sozialen Handelns?
Der Ansatz der PÜ bietet einen vollständigen Begriff des Handelns durch die Einbeziehung von zwei Arten der Handlungsorientierung und integriert die soziale Ebene des Handelns vollständig. Darüber hinaus ermöglicht er das einfache Erkennen der Handlungsorientierung anderer durch Wahrnehmung der Situation.
Welche Entwicklungsstufen der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme gibt es laut Flavell et al.?
Flavell et al. unterscheiden vier Entwicklungsstufen: I. Erkennen von Unterschieden in der sozialen Perspektive. II. Entwicklung des Bedürfnisses, diese Unterschiede zu erkunden. III. Entwicklung analytischer Fähigkeiten zur Erkennung von Unterschieden. IV. Fähigkeit, das durch PÜ gewonnene soziale Verstehen planvoll in soziales Handeln einfließen zu lassen.
Welche Bereiche der Perspektivenübernahme werden unterschieden?
Es werden drei Bereiche der PÜ unterschieden: räumlich-visuelle Perspektivenübernahme (nach Piaget), emotionale Perspektivenübernahme (nach Borke) und informationsbezogene Perspektivenübernahme (nach Mossler et al.).
Was waren die Ziele von Piagets Untersuchung zur räumlich-visuellen Perspektivenübernahme?
Piaget untersuchte, wie sich die Fähigkeit zur räumlichen PÜ beim Kind entwickelt. Er erforschte die Konstruktion eines Gesamtsystems, das die verschiedenen Perspektiven zueinander in Beziehung setzt und untersuchte die Beziehungen, die das Kind zwischen seinem eigenen Blickwinkel und dem anderer Beobachter herstellt.
Wie war Piagets Methode zur Untersuchung der räumlich-visuellen Perspektivenübernahme aufgebaut?
Piaget verwendete ein Modell eines Bergmassivs mit unterschiedlichen Bergen, die anhand von Farbe und Attributen unterscheidbar waren. Eine Puppe repräsentierte einen anderen Beobachter mit einer anderen Perspektive. Das Kind sollte sich verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Beobachter vorstellen und rekonstruieren.
Was waren die Ziele von Borkes Untersuchung zur emotionalen Perspektivenübernahme?
Borke untersuchte die Entwicklung der Fähigkeit zur emotionalen PÜ und wollte zwischen Empathie (Mitfühlen) und Egozentrismus (auf sich selbst zentriert sein) unterscheiden. Sie kritisierte Piagets Annahme, dass Egozentrismus erst im Alter von 7 Jahren überwunden wird, und wollte zeigen, dass sich die Fähigkeit zur PÜ schon viel früher entwickelt.
Wie ging Borke bei ihrer Untersuchung zur emotionalen Perspektivenübernahme vor?
Borke maß die interpersonelle Sensibilität/emotionale PÜ bei Kindern im Alter von 3-8 Jahren. Sie wählte Aufgaben, die dem kognitiven Entwicklungsstand von 3-Jährigen entsprachen, um die kognitiven Anforderungen gering zu halten und so die tatsächliche Fähigkeit zur emotionalen PÜ besser erfassen zu können.
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- Jens Nachtwei (Author), 2001, Die Entwicklung des sozialen Verstehens und das Konzept der Perspektivenübernahme, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101171