Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins von delinquenten Jugendlichen am Beispiel des Trainingscamps Diemelstadt und dem Trägerverein Durchboxen im Leben e.V. Da viele Kinder und Jugendliche aus dem Trainingscamp aus prekären Familienverhältnissen stammen und dort negative Erziehungserfahrungen durch ihre Eltern erlebt haben, überträgt sich dieses auf das Selbstbewusstsein. Durch diese traumatischen, von Ohnmachtsgefühlen begleiteten Familienzustände flüchten sich die Kinder und Jugendlichen oft in Gewalt und Drogen, was langfristig eine seelische Behinderung zur Folge hat. An dieser Stelle möchte die Erlebnispädagogik mit den Respekttrainern und der Einrichtung Trainingscamp Diemelstadt e.V. der seelischen Behinderung ressourcenorientiert entgegenwirken, um eine Selbstbewusstseinssteigerung der delinquenten Jugendlichen zu erlangen und gleichzeitig einen Legitimationserfolg gegenüber dem Auftraggeber Staat und der Gesellschaft aufzuzeigen.
Bislang arbeitete das Trainingscamp hauptsächlich mit einem defizitorientierten-konfrontativen Ansatz. Eine Weiterentwicklung in der Verhaltensänderung der delinquenten Jugendlichen soll durch einen ergänzenden stärkeorientierten erlebnispädagogischen Ansatz wie beispielsweise durch das Biwakieren oder den OCR-Sport erreicht werden.
Dabei soll durch eine qualitative Erhebung untersucht werden, wie die Einrichtung den delinquenten Jugendlichen helfen kann, das Selbstbewusstsein zu steigern, um mit ihrem schwierigen und oft von Gewalt und Drogen geprägten Lebenssituationen umzugehen.
Das Ziel der im Trainingscamp angewandten erlebnispädagogischen Maßnahmen ist es, einen Beitrag zur Verhaltensänderung zu leisten und die erworbenen Erlebnisse in den Alltag zu transferieren, um dort einen sicheren Stand und ein straffreies Leben zu führen. Die qualitative Praxisforschung beschäftigt sich konkret mit der Forschungsfrage: Welche Faktoren und Gründe sind bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins bei delinquenten Jugendlichen im Trainingscamp Diemelstadt bedeutend und kann durch erlebnispädagogische Maßnahmen eine Steigerung des Selbstbewusstseins generiert werden? In Kapitel 2 wird der Begriff des Selbstbewusstseins definiert und begrifflich abgegrenzt. Dabei werden im Sprachgebrauch Synonyme wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Selbstkonzept genutzt.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Selbstbewusstsein als individueller Einflussfaktor
2.1 Definition und Begriffsabgrenzung
2.2 Faktoren und Gründe als Bedrohung des Selbstbewusstseins
2.3 Selbstbewusstsein und Erlebnispädagogik – aktuelle Forschungslage
3 Jugenddelinquenz in Deutschland
3.1 Definition und Statistiken in der Jugendkriminalität
3.2 Die Intensiv- und Mehrfachstraftäter als besonders anspruchsvolle Zielgruppe in der Sozialen Arbeit
4 Die Erlebnispädagogik allgemein und im Trainingscamp Diemelstadt
4.1 Der Begriff Erlebnispädagogik und dessen Ursprung
4.2 Erlebnispädagogik im Trainingscamp Diemelstadt
4.3 OCR-Sport und Biwakieren als Maßnahmen der Erlebnispädagogik allgemein und im Trainingscamp Diemelstadt
4.3.1 Der OCR-Sport als neuer Trend
4.3.2 Das Biwakieren als einzigartiges Erlebnis in der Natur
4.4 Kritik an der Erlebnispädagogik
5 Forschungsmethodisches Vorgehen und Auswertungstechnik
5.1 Begründung des Vorhabens
5.2 Forschungsdesign
5.2.1 Beschreibung der Stichprobe
5.2.2 Konzeptspezifikation
5.2.3 Das Interview
5.2.4 Durchführung der Interviews
6 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
6.1 Ergebnisdarstellung
6.1.1 Interpersonelle Einflussfaktoren
6.1.2 Intrapersonelle Einflussfaktoren
6.1.3 Negative intrapersonelle Einflussfaktoren
6.1.4 Einflussfaktor durch Hobbys/Aktivitäten
6.1.5 Positive Wirkung Delinquenz
6.1.6 Negative Wirkung Delinquenz
6.1.7 Eigenschaften und Wirkung OCR-Sport
6.1.8 Eigenschaften und Wirkung Biwakieren
6.1.9 Weitere Maßnahmen mit positiver Wirkung
6.2 Ergebnisinterpretation
6.2.1 Interpersonelle Einflussfaktoren
6.2.2 Intrapersonelle Einflussfaktoren
6.2.3 Delinquenzverhalten
6.2.4 Maßnahmen
7 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abb. 1: Johari Fenster
Abb. 2: Tatverdächtige Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bei ausgewählten Gewaltverbrechen in Deutschland im Jahr
Abb. 3: Die E-Kette
Abb. 4: Verteilung Interpersonelle Einflussfaktoren
Abb. 5: Verteilung Eigenschaften und Wirkung OCR-Sport
Tab. 1: Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität von 2017 bis
Tab. 2: Eckdaten der interviewten Personen des vorliegenden Forschungsvorhabens
Tab. 3: Konzeptspezifikation
Tab. 4 : Allgemeines inhaltsanalytisches Ablaufmodell
1 Einleitung
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins von delinquenten Jugendlichen am Beispiel des Trainingscamps Diemelstadt und dem Trägerverein Durchboxen im Leben e.V. Da viele Kinder und Jugendliche aus dem Trainingscamp aus prekären Familienverhältnissen stammen und dort negative Erziehungserfahrungen durch ihre Eltern erlebt haben, überträgt sich dieses auf das Selbstbewusstsein. Durch diese traumatischen, von Ohnmachtsgefühlen begleiteten Familienzustände flüchten sich die Kinder und Jugendlichen oft in Gewalt und Drogen, was langfristig eine seelische Behinderung zur Folge hat (vgl. Sutterlüty, 2004, S. 266ff.). An dieser Stelle möchte die Erlebnispädagogik mit den Respekttrainern und der Einrichtung Trainingscamp Diemelstadt e.V. der seelischen Behinderung ressourcenorientiert entgegenwirken, um eine Selbstbewusstseinssteigerung der delinquenten Jugendlichen zu erlangen und gleichzeitig einen Legitimationserfolg gegenüber dem Auftraggeber Staat und der Gesellschaft aufzuzeigen. Bislang arbeitete das Trainingscamp hauptsächlich mit einem defizitorientierten-konfrontativen Ansatz. Eine Weiterentwicklung in der Verhaltensänderung der delinquenten Jugendlichen soll durch einen ergänzenden stärkeorientierten erlebnispädagogischen Ansatz wie beispielsweise durch das Biwakieren oder den OCR-Sport erreicht werden.
Dabei soll durch eine qualitative Erhebung untersucht werden, wie die Einrichtung den delinquenten Jugendlichen helfen kann, das Selbstbewusstsein zu steigern, um mit ihrem schwierigen und oft von Gewalt und Drogen geprägten Lebenssituationen umzugehen. Das Ziel der im Trainingscamp angewandten erlebnispädagogischen Maßnahmen ist es, einen Beitrag zur Verhaltensänderung zu leisten und die erworbenen Erlebnisse in den Alltag zu transferieren, um dort einen sicheren Stand und ein straffreies Leben zu führen. Die qualitative Praxisforschung beschäftigt sich konkret mit der Forschungsfrage: Welche Faktoren und Gründe sind bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins bei delinquenten Jugendlichen im Trainingscamp Diemelstadt bedeutend und kann durch erlebnispädagogische Maßnahmen eine Steigerung des Selbstbewusstseins generiert werden?
In Kapitel 2 wird der Begriff des Selbstbewusstseins definiert und begrifflich abgegrenzt. Dabei werden im Sprachgebrauch Synonyme wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und Selbstkonzept genutzt. In diesem Abschnitt werden die vorhandenen Begriffsunterschiede und begriffsrelevanten Theorien aufgezeigt und Gründe und Faktoren genannt, welche das Selbstbewusstsein beeinflussen. Zum Schluss des Kapitels gibt es einen Überblick über die aktuelle Forschungslage von Selbstbewusstsein im Kontext zur Erlebnispädagogik.
Das dritte Kapitel handelt von der Herausforderung, die delinquente Jugendliche für die Gesellschaft darstellen. Der Begriffe Delinquenz wird zunächst definiert. Anschließend folgt eine Darstellung von Statistiken zur Jugendkriminalität. Damit soll verdeutlicht werden, welche Bedeutung das Thema für die Gesellschaft hat. Der zweite Teil des Kapitels behandelt die Intensiv- und Mehrfachstraftäter, die eine besonders anspruchsvolle Zielgruppe für die Soziale Arbeit darstellen.
Im vierten Kapitel wird der Begriff der Erlebnispädagogik und dessen Ursprung beleuchtet. Im weiteren Verlauf wird aufgezeigt, wie die Erlebnispädagogik im Trainingscamp durchgeführt wird und es werden konkret der OCR-Sport und das Biwakieren als erlebnispädagogische Maßnahmen dargestellt. Im letzten Teil des Kapitels wird die Erlebnispädagogik kritisch gewürdigt.
Das fünfte Kapitel behandelt die Besonderheiten der Praxisforschung und geht auf die Forschungsfrage und das Forschungsziel ein. Quantitative und qualitative Forschung unterziehen sich einer Gegenüberstellung, sodass die in der Bachelorarbeit durchgeführte qualitative Forschungsmethode begründet werden kann. Durch das Forschungsdesign wird das Forschungsobjekt und das ausgewählte Erhebungsinstrument mit Hilfe der Konzeptspezifikation begründet. Am Ende des Kapitels werden die einzelnen Schritte der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) auswertungstechnisch aufgezeigt und begründet.
Im darauffolgenden Kapitel werden die Ergebnisse der einzelnen Kategorien dargestellt und hinsichtlich der Fragestellung interpretiert.
Im Fazit werden die wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit zusammengefasst. Des Weiteren werden die Ergebnisse und das Forschungsvorhaben einer kritischen Würdigung unterzogen. Auch wird offengelegt, was die Erkenntnisse für das Trainingscamp Diemelstadt und die Soziale Arbeit bedeuten. Abschließend wird ein kurzer Ausblick darüber gegeben, welche zukünftigen Entwicklungen sich für das Trainingscamp Diemelstadt konkret und für die Forschung allgemein ergeben können.
2 Selbstbewusstsein als individueller Einflussfaktor
Konzepte und Definitionen über das Selbstbewusstsein lassen sich in den Fachbereichen Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichtswissenschaften finden. Dabei weisen sie bestimmte Unterschiede auf, die in diesem Kapitel näher betrachtet werden, um den Forschungsgegenstand zu präzisieren und eine Arbeitsdefinition zu generieren. Zudem werden konkrete theoretische Modelle einbezogen sowie Faktoren und Gründe genannt, die das Selbstbewusstsein beeinflussen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird das Selbstbewusstsein in Verbindung zur Erlebnispädagogik gesetzt und die aktuelle Forschungslage aufgezeigt.
2.1 Definition und Begriffsabgrenzung
Laut dem Lexikon für Psychologie und Pädagogik wird die Begrifflichkeit Selbstbewusstsein hauptsächlich als Selbstwertgefühl betrachtet, welches ein Bewusstsein von Bedeutung und Wert der eigenen Persönlichkeit beinhaltet. Diese Bewertung wiederum enthält eine emotionale Einschätzung des eigenen Wertes. Das Selbstbewusstsein ist ein zentrales Merkmal, das den Menschen auch vom Tier abgrenzt (vgl. Stangl, 2020).
Das Soziometermodell zum Selbstwertgefühl nach Leary und seinen Mitarbeitern besagt, dass das Selbstbewusstsein ein Indikator ist, mit dessen Hilfe ein Individuum einschätzen kann, in welchem Umfang eine soziale Akzeptanz und Integration vorliegt (vgl. Leary, 2005, S.101). Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und einem damit verbundenen positiven Selbstwertgefühl ist ein zentrales Merkmal des Menschen (vgl. Deci & Ryan, 2000, S. 68 ff.).
Die Begriffe Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein werden oft als gleichbedeutend angesehen, weisen jedoch einige zum Teil auf sich basierende Unterschiede auf. Das Selbstwertgefühl beschreibt die Reichweite der eigenen Wertschätzung einem selbst gegenüber. Das Selbstwertgefühl wird dabei von positiven und negativen Erfahrungen und Beurteilungen aus dem sozialen Umfeld gesteuert. Selbstvertrauen spiegelt das Vertrauen in die eigene Person wider. Vertrauen Individuen ihren eigenen Kompetenzen und Entscheidungen, so führen positive Erfahrungen zu einem starken Selbstvertrauen. Selbstbewusstsein heißt, dass Menschen sich ihres selbst bewusst werden. Dabei wissen sie, wer sie sind, was ihren Charakter ausmacht und wo die Stärken und Schwächen liegen. Das Selbstbewusstsein ist die Voraussetzung für ein funktionsfähiges Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen (vgl. Beziehungszentrum, 2020).
Zum weiteren Verständnis des Selbstbewusstseins muss eine begriffliche Abgrenzung der Bezeichnungen Selbst und Bewusstsein erfolgen.
Das Selbst und das Bewusstsein haben ebenfalls wie der Begriff Selbstbewusstsein philosophische, psychologische, soziologische, aber auch theologische Bezugspunkte. Diese Arbeit konzentriert sich auf den psychologischen und soziologischen Bereich. Das Selbst stellt kein gleichbleibendes Konstrukt dar, sondern wird von den jeweiligen Begleitumständen bestimmt und verändert. Wird ein Individuum gefragt, wer oder wie sie ist, werden Eigenschaften wie beispielsweise „hilfsbereit/egoistisch“, „intelligent/dumm“, „fleißig/faul“, aber auch Zugehörigkeitsgruppen wie beispielsweise Student, Deutscher, Katholik, Christdemokrat, FC Bayern-Fan etc. von sich preisgegeben. Hierdurch begibt sich das Individuum automatisch in eine Kontroverse. Auf der einen Seite möchte es sich von der Menge abheben, im Sinne „Ich stelle etwas Besonderes dar“. Auf der anderen Seite hat es das Verlangen nach Gruppenzugehörigkeit (vgl. Werth, 2020, S. 188).
James (1890, S. 319) kategorisierte das Selbst in einen subjektiven und einen objektiven Teil. Das „I/Ich“ ist die subjektive Komponente des Selbst, welches agiert. Das „I“ trägt zur Interpretation und Ordnung von Erlebnissen bei und gibt der Person das Gefühl der Selbstbestimmung. Das „Me/Mich“ ist die eigene Vorstellung vom Selbst. Dabei erlebt sich das „I/Ich“ als Subjekt und versorgt das „Me/Mich“, den Körper als Objekt.
Bei der Definition des Bewusstseins diskutieren Wissenschaftler verschiedener Disziplinen seit mehreren Jahrhunderten über die Bedeutung und seinen Ausgangspunkt. Eine sich wiederholende Definition von Enzyklopädien besagt: Bewusstsein ist das Wissen, das ein eigener Organismus von seiner eigenen Person und seiner Umgebung hat. Nach Damasio (2004, S. 1ff.) ist Bewusstsein eine biologische Funktion, die es uns ermöglicht, auf psychologischer Ebene Emotionen und ein bestimmtes Verhalten zu generieren. Bewusstsein ist die Aufhellung zum erkennenden Leben, die Ermächtigung, alles in Erfahrung zu bringen, was im Individuum vorgeht. Das Interesse befähigt das Individuum, Interesse am eigenen Selbst und am Selbst anderer zu entwickeln und die Fähigkeit zu ermöglichen, das Leben positiv und sinnvoll zu gestalten.
Die Definition des Selbstbewusstseins unterscheidet dabei zwischen einem kollektiven Gruppenselbstbewusstsein und einem individuellen Selbstbewusstsein. Das individuelle Selbstbewusstsein befähigt einen Menschen zum Erkennen der eigenen Person, welche durch Erfahrungen und innere Denkvorgänge geprägt ist. Hierdurch bildet sich ein eigenes Bild seiner Person (Selbstbild), welches sich durch eigene Erfahrungen, aber auch durch andere Personen (Fremdbild) herausbilden lässt. Die Theorie der Selbst- und Fremdwahrnehmung lässt sich auf das im Jahr 1955 von Luft und Ingham (1955) entwickelte Johari-Fenster zurückführen, welches in Abbildung 1 dargestellt ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Johari Fenster
(Federal Emergency Management Agency, 2020).
Wie auf der Abbildung 1 zu sehen ist, werden bewusste und unbewusste Persönlichkeitsmerkmale und -eigenschaften von einem Selbst und anderen in vier verschiedenen Feldern des Johari Fensters dargestellt, und in einem Experiment haben sie eine Selbst- und Fremdwahrnehmung ermittelt. Diese Felder werden als 1. Öffentlich, 2. Geheim, 3. Blinder Fleck und 4. Unbekannt bezeichnet und werden jeweils dem Selbst oder der anderen Person zugeordnet.
Von anderen Personen und/oder Gruppen zugesprochene Eigenschaften verändern das Selbstbild. Aber auch das eigene Handeln beeinflusst das Selbstbewusstsein. Hierbei besagt die Theorie der sozialen Identität („social identity theory“), dass Menschen bestrebt sind, ein positives Selbstbewusstsein zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Dabei orientiert sich das Selbstbewusstsein nicht nur an individuellen Eigenschaften, sondern auch am Gruppenzugehörigkeitsgefühl (sog. Soziale Identität). Die Bewertung der eigenen Gruppe knüpft dabei auch an Vergleiche zu anderen Gruppen an. Diese sozialpsychologische Theorie wurde von den Sozialpsychologen Tajfel und Turner (1986) vorgestellt (zitiert nach Werth et al., 2020, S. 188).
Bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins stellen das Selbstkonzept und der Selbstwert eine wesentliche Rolle dar (vgl. Lohaus et al. 2010, S. 164). Lohaus et al. (2010, S.165) unterscheidet die Begriffsabgrenzungen dabei wie folgt:
„Das Selbstkonzept besteht als kognitive Komponente des Selbst aus der Selbstwahrnehmung und dem Wissen um das, was die eigene Person ausmacht. Neben persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, die man besitzt, gehören zu diesem Wissen auch Neigungen, Interessen und typische Verhaltensweisen. Der Selbstwert resultiert als affektive Komponente des Selbst aus den Bewertungen der eigenen Person oder von Aspekten, die die eigene Person ausmachen. Somit können sich die Bewertungen auf Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten oder aber auch auf das eigene emotionale Erleben beziehen“.
Abschließend ist zu sagen, dass es nur bedingt möglich ist, eine konkrete Arbeitsdefinition aufgrund der unterschiedlichen Konzepte und Theorien, die der Gegenstand des Selbstbewusstseins beinhaltet, zu leisten. An dieser Stelle sollen deswegen alle vorher genannten Aspekte bei der Definition mitberücksichtigt werden. In dieser Arbeit werden das Selbstbewusstsein sowie der Selbstwert/das Selbstwertgefühl teilweise synonym verwendet, da das Selbstbewusstsein durch den Selbstwert bestimmt ist und hinsichtlich der Untersuchung keine genaue Abgrenzung der Begrifflichkeiten vorgenommen worden ist.
2.2 Faktoren und Gründe als Bedrohung des Selbstbewusstseins
Bedeutsame Lebenseinschnitte wie Heirat, Ortswechsel, Todesfall, Drogenkonsum sowie Gewalt- und Straftatenerfahrung können das Selbstbewusstsein in Frage stellen. Dies erfordert eine Neudefinition des Selbst und kann auch Erwartungsverletzungen mit sich bringen. Alltägliche Bedrohung wie z.B. die Konfrontation mit den eigenen Schwächen, soziale Zurückweisung, kognitive Dissonanz, Erwartungsverletzung, Erinnerung an die eigene Sterblichkeit bedrohen ebenfalls das Selbstkonzept.
1. Konfrontation mit eigenen Schwächen
Wenn Misserfolge nicht akzeptiert werden, kann das eigene Selbstkonzept bedroht werden. Auch wenn jemand anderes bessere Leistung erbringt. Das Ausmaß der Bedrohung ist dabei bestimmt durch die Nähe zum anderen und die persönliche Relevanz des Verhaltens.
2. Soziale Zurückweisung
Die soziale Zurückweisung erfolgt durch die Ausgrenzung innerhalb einer Gruppe. Jeder Mensch hat dabei das Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Fehlt es an sozialen Bindungen, sind physische und psychische Erkrankungen die Folgen.
3. Kognitive Dissonanz
Die kognitive Dissonanz tritt auf, wenn das Handeln nicht zur eigenen Grundüberzeugung passt. Das Verhalten sollte zur Selbstwertsteigerung im Einklang mit sich selbst sein.
4. Erwartungsverletzung
Der Mensch strebt nach der Bestätigung seiner Ansichten und Erwartungen. Ein unerwarteter Ereignisausgang bedroht das Selbstbewusstsein.
5. Erinnerung an die eigene Sterblichkeit
Es entsteht eine Bedrohung, wenn die eigene Weltanschauung von anderen anders verstanden wird. Die Weltanschauung dient als Schutz des Selbst (vgl. Werth et al., 2020, S. 215ff.).
2.3 Selbstbewusstsein und Erlebnispädagogik – aktuelle Forschungslage
Da in dieser wissenschaftlichen Arbeit der Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und Erlebnispädagogik untersucht werden soll, ist es an dieser Stelle von Bedeutung, auf den Zusammenhang beider Faktoren einzugehen.
Es gibt bereits zahlreiche empirische Studien im deutschsprachigen Raum und in den USA, welche sich mit der Frage beschäftigen, wie und ob Erlebnispädagogik eine Wirkung zeigt. Anfang der 90er Jahre hielten sich Studien zur Wirksamkeit noch zurück. Inzwischen wächst die Anzahl der Studien an Fachhochschulen und Universitäten immens an. Jagenlauf (1992, S. 72ff.) führte im Namen von „Outward Bound“ eine Wirkungsanalyse mit 2.300 Teilnehmern durch. Er kam zu dem Ergebnis, dass die erlebnispädagogischen Kursangebote von „Outward Bound Deutschland“ eine eindringliche Gruppendynamik verursachten. Des Weiteren wurde eine Steigerung des Selbstbewusstseins, Wachstum der Sorgfalt bei natursportlichen Aktionen, Steigerung des Körperbewusstseins und der sozialen Kompetenz beobachtet.
Im gleichen Jahr hat Amesberger (1992, S. 232ff.) die Wirkung von Outdoor-Aktivitäten auf Sozialbenachteiligte erforscht. Dabei kam er zu der Schlussfolgerung, dass sich das allgemeine Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und die Konfliktlösungsfähigkeiten deutlich verbessert haben. Des Weiteren konnten individuelle Ziele deutlicher formuliert werden und private und berufliche Möglichkeiten wurden im Nachhinein erkannt. Auf der anderen Seite erwähnt Amesberger (1992, S. 232ff.), dass Outdooraktivitäten nicht unterschätzt werden dürfen und bei der Hilfeleistung eine professionelle Netzwerkarbeit zwischen Sozialarbeitern und Therapeuten stattfinden sollte, da die Erlebnispädagogik nur eine Methode darstelle, in der der Weg von Erlebnis zur Erfahrung ein komplexes Vorgehen darstellt. Die Planung, Organisation und Durchführung erfordert eine Betreuung von qualifizierten und erfahrenen Betreuern, die einer ständigen Supervision unterstehen. Auch der ehemalige Geschäftsführer des Trainingscamps Diemelstadt und gleichzeitig wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Kassel Andreas Böhle erforschte zusammen mit Mark Schrödter (2014, S.46ff.), dass Bewegung und erlebnispädagogische Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen oder/ und sozialer Benachteiligung wie es bei delinquenten Jugendlichen im Trainingscamp Diemelstadt der Fall ist, eine große Wirkung auf das Selbstbewusstsein haben. Dieser Effekt lässt sich auf die jahrelangen negativen Erfahrungen der delinquenten Kinder und Jugendlichen zurückführen. In der Erlebnispädagogik erleben sie im höheren Umfang Erfolge, positive Rückmeldung und eine stärkere Unterstützung durch Sozialarbeiter und Erzieher. Auf den Begriff der Jugenddelinquenz wird im Kapitel 3 eingegangen.
Der Bewegung im sozialen Kontext wird einer Vielzahl von positiven Funktionen zugeschrieben, die das Selbstbewusstsein stärken. Gesundheitsförderung und Stressabbau sind neben der Unterstützung des sozialen Miteinanders und der Entstehung sozialer Bindungen wichtige Faktoren, die einen großen Anteil zum sozialen Lernen und zur Selbstbewusstseinsentwicklung beitragen können (vgl. Gabler, 2018, S.1678).
Die oben genannte Wirkungsweisen zum Selbstbewusstsein können in zahlreichen Theorien und Forschungszweigen belegt werden. Zu den sechs bekanntesten gehören die Attributionstheorie (Heider,1958), Forschung zur Selbstdisziplin/Selbstkontrolle (Mischel,1970, siehe „marshmallow experiment“), Forschung zur erlernten Hilflosigkeit (Seligman & Maier 1967), Resilienzforschung (Kauaia Studie, 1940), Forschungszweig Positive Psychologie (Seligman, 1998) und die Bindungs- und Beziehungsforschung (Bowlby, Ainsworth & Harlow, 1978).
3 Jugenddelinquenz in Deutschland
Jugenddelinquenz ist nicht nur in Deutschland eine wesentliche Herausforderung, sondern stellt auch global eine gesellschaftliche Schwierigkeit dar, mit der sich verschiedene Disziplinen und Bereiche auseinandersetzen müssen. Der Ursprung liegt meistens im fehlgeschlagenen Verlauf in der Kindheitsentwicklung. Daraus resultiert ein antisoziales und kriminelles Benehmen bei Kindern und Jugendlichen, welches zu einer Schädigung des eigenen Selbst, Anderer und der Gesellschaft beiträgt. Das folgende Kapitel setzt sich mit der Definition des Begriffes auseinander und gewährt einen Einblick in die aktuelle Lage. Weiterhin ist für delinquente Jugendliche der Begriff Intensiv- und Mehrfachstraftäter geläufig, welcher ebenfalls in diesem Kapitel unter die Lupe genommen wird.
3.1 Definition und Statistiken in der Jugendkriminalität
Allgemein betrachtet stellt Delinquenz eine abdriftende Verhaltensweise dar. Brunner und Zeltner (1980, S. 46) nutzen den Begriff Delinquenz für Verhaltensformen, die sich von den vorherrschenden Normen und Werten einer Gesellschaft unterscheiden. Laut Köck und Ott (1994, S. 126) handelt es sich bei Delinquenz sowohl um die Neigung zu abweichendem Verhalten als auch um das Resultat dieses Verhaltens.
An Brutalität haben die Straftaten jugendlicher Täter jedoch, entgegen der öffentlichen Empfindung, nicht zugenommen. Die Summe aller Straftaten ist insgesamt rückgängig. Die mehrfach verursachten Verbrechen sind Vandalismus, Körperverletzung und Ladendiebstahl (vgl. Heinz, 2016). Die folgende Abbildung 2 veranschaulicht die aktuelle Lage (Stand 2019):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Tatverdächtige Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bei ausgewählten Gewaltverbrechen in Deutschland im Jahr 2019
(Radamm, 2020,S.2).
Die Abbildung 2 veranschaulicht die Anzahl der Tatverdächtigen in verschiedenen Jahrgängen und bei unterschiedlichen Straftaten in Deutschland im Jahr 2019. Bei der statistischen Abbildung von Delikten ist zu beachten, dass sich diese Statistiken auf die polizeibekannten Verbrechen berufen. Führen Straftaten nicht zu einer Anzeige, tauchen diese auch in keiner Statistik auf. (vgl. Fischer et al. 2019, S. 2). Bei der Gegenüberstellung der Zahlen von 2018 und 2017 zeichnet sich eine insgesamt rückgängige Entwicklung bezogen auf Kinder (unter 14 Jahre), Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre) und Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre) ab (vgl. Fischer et al. 2019, S. 3). Bei einer genauen Beobachtung zeigt sich das folgende Bild (vgl. Tabelle 1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab.1: Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität von 2017 bis 2018
(eigene Darstellung Radamm, 2020, S.3).
Die Informationen der Tabelle 1 berufen sich auf 100.000 Einwohner. Dementsprechend haben im Jahr 2018 durchschnittlich 130,7 Kinder pro 100.000 Einwohner ein Strafdelikt begangen. Die Zahlen verdeutlichen, dass es bei den unter 14-Jährigen sowie bei den 14- bis 18-Jährigen einen leichten Wachstumsanstieg bei den Rechtsangelegenheiten gab. Bei den beiden älteren Altersgruppen zeichnet sich hingegen eine Reduzierung ab, der die Zunahme übersteigt. Aus diesem Grund die Zahl insgesamt rückgängig.
3.2 Die Intensiv- und Mehrfachstraftäter als besonders anspruchsvolle Zielgruppe in der Sozialen Arbeit
Der Begriff Intensivtäter stellt keinen wissenschaftlichen Fachausdruck dar. Seine Verwendung findet sich in der polizeilichen Praxis wieder. Größtenteils wird damit eine Person tituliert, die in einem gewissen Zeitraum eine bestimmte Anzahl an Straftdelikten verübt (vgl. Walsh, 2016). Das Fehlen eines juristischen Fundaments, führt dazu, dass auch strafunmündige Kinder in polizeilichen Listen als Intensivstraftäter auftauchen. (vgl. Walsh, 2018, S. 7). Laut Best (2020) unterscheiden sich Intensivtäter von sogenannten Intermittierenden darin, dass Letztere nur vereinzelt kriminell zum Vorschein kommen. Die Tätergruppe der Intensivtäter trägt die Verantwortung für einen Großteil der ausgeführten Straftaten. Das Landeskriminalamt Bayern stellte beispielsweise fest, dass unter den 14- bis 25-Jährigen nur 10% der Täter ca. 50% der von dieser Altersgruppe ausgeführten Verbrechen begangen hat (vgl. Best, 2020).
Diese Intensiv- und Mehrfachstraftäter gelten auch für die Soziale Arbeit als besonders herausfordernde Adressaten. Herausfordernd bedeutet in diesem Kontext, dass Pädagogen in der Handlungspraxis oft auf physisch und psychisch fordernde Klienten stoßen. Diese Adressaten sind zweideutig beansprucht. Sowohl durch die begangenen Straftaten als auch durch ihre Sozialprofile (vgl. Walsh, 2018, S. 6). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Jugendliche nur temporär straffällig werden und keine kriminelle Laufbahn einschlagen. Nur eine Minderheit von Intensiv- oder Mehrfachtätern begeht eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Straftaten (vgl. Walsh, 2016). Des Öfteren sind diese Täter von verschiedenen Umständen geprägt. Aufzuführen sind hier das „Geschlecht, Herkunft, Risikosuche, Anzahl delinquenter Freunde, Alkoholkonsum, elterliche Gewalt, Gewalt zwischen den Eltern und Gewaltopferschaft“ (Beller, 2014, S. 96). Diese biografischen Erlebnisse beeinflussen die soziale Umgebung der Jugendlichen und erfordern eine besondere Aufmerksamkeit von Seiten der Pädagogen. Bei den erforderlichen Gegenmaßnahmen verlangt dies eine enorme Berücksichtigung.
4 Die Erlebnispädagogik allgemein und im Trainingscamp Diemelstadt
Viele Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen wie das Trainingscamp Diemelstadt und auch andere Organisationen nutzen erlebnispädagogische Maßnahmen zur Entwicklung des Selbst auf individueller und auf gruppenbezogener Ebene.
Im folgenden Kapitel wird erläutert, wo der Ursprung der Erlebnispädagogik liegt und wie diese definiert wird. Daraufhin wird auf die konkrete Gestaltung der Erlebnispädagogik im Trainingscamp Diemelstadt sowie auf die dort stattfindenden erlebnispädagogischen Maßnahmen verwiesen. Besonders liegt der Fokus auf dem Biwakieren und dem OCR-Hindernislauf und dessen positiven Wirkfaktoren. Das Kapitel schließt mit einer kritischen Betrachtung der Erlebnispädagogik im Allgemeinen und im Praxisbetrieb ab.
4.1 Der Begriff Erlebnispädagogik und dessen Ursprung
Die Theoriediskussion zum Begriff Erlebnispädagogik beginnt bereits im Jahr 1990. Damals hätte allgemein behauptet werden können, dass die Erlebnispädagogik durch Natursport zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstbewusstseinssteigerung beiträgt. Heutzutage kann sich diese Behauptung durch die enorme Verbreitung in allen pädagogischen Handlungsfeldern und durch die steigende Methodenvielfalt nicht nur darauf stützen. Heckmair hat zusammen mit Michl (2008, S. 115) zur Erlebnispädagogik folgende Definition formuliert:
„Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese jungen Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“
Schad und Michl (2004, S. 23) haben auf eine Definition verzichtet und versucht, die Erlebnispädagogik mit acht Merkmalen zu umschreiben:
1) Sie findet größtenteils im Freien statt.
2) Sie benutzt oft die Natur als Lernobjekt.
3) Sie besitzt eine hohes körperliches Handlungselement.
4) Sie vertraut auf direkte Handlungsfolgerungen der verwendeten Tätigkeiten.
5) Sie arbeitet mit Schwierigkeiten und persönlichen Grenzüberschreitungen.
6) Sie verwendet als Techniken eine Mischung aus verschiedenen klassischen Natursportarten, spezielle künstliche Anlagen sowie ein Sortiment aus Vertrauensübungen und Problemlösungsaufgaben.
7) Die Gruppe ist ein wichtiger Beschleuniger der Veränderung oder Entwicklung.
8) Das Erlebnis wird reflektiert. Hier wird sich noch einmal vor Augen geführt, was gelernt worden ist und wie es sich auf den persönlichen und beruflichen Alltag auswirkt. Im Anschluss folgt die Übertragung in den persönlichen und/ oder schulischen und / oder beruflichen Alltag.
Zum besseren Verständnis werden die Begriffe Pädagogik und Erlebnis kurz beleuchtet. Der Begriff Pädagogik stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Wörtern „pais“ (= „der Knabe, das Kind“) und „agogos“ (= der „Begleiter, der Führer“) zusammen. Damals fungierten im antiken Athen Sklaven als Schulbegleiter. Im Abendland hat sich dieses Begleiten bzw. diese Erziehungsmethode in der Wegbegleitung anstatt des Wortes Schule durchgesetzt. Daraus lässt sich eine Besonderheit über die Pädagogik schlussfolgern: Sie beinhaltet das gemeinsame Gehen, das Unterwegssein, die Begleitung, die Kommunikation in verbaler und nonverbaler Form, die Führung und den gewährleisteten Schutz. Dementsprechend Merkmale, die die Erlebnispädagogik auszeichnen (vgl. Fischer & Ziegenspeck, 2000, S.33ff.).
Der zweite Begriff in der Erlebnispädagogik ist das Erlebnis. Felten (1998, S. 35) beschreibt Erlebnis als „ein nicht alltägliches, besonderes Ereignis, das uns innerlich bewegt, nachhaltig prägt und dessen Bedeutung letztendlich höchst individuell ist“.
Die heutige Gesellschaft ist nicht mehr nur die Wissensgesellschaft, die nach mehr Wissen strebt, sondern sie zeichnet sich auch durch die Suche oder sogar die Sucht nach Erlebnissen aus. Auch der Konsum in den Fußgängerzonen der Städte stellt bereits ein „Erlebnisshopping“ dar. Die Wiederholbarkeit dieser Situation führt jedoch zum Sättigungsgefühl und wird nicht mehr als Erlebnis empfunden. Aus diesem Grund ist die Erlebnisgesellschaft bestrebt, den Konsumenten immer wieder neue Reize in Form von kommerzialisierbaren Erlebnissen zu bieten (vgl. Schulze, 1992, S. 37).
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob die Erlebnispädagogik diesem Beispiel folgen sollte. Zur Beantwortung dieser Frage müssen die zwei Vordenker Rousseau und Thoreau einbezogen werden. Rousseau philosophierte im 18. Jahrhundert über die Natur und das Leben in Einfachheit und Einsamkeit. Er erforschte die Lebensphase der Kindheit. Dabei fiel ihm auf, dass Erlebnisse und Abenteuer in der Natur und die Aufarbeitung mit ihr eine Anregung zu einer effizienten Erziehung bilden. Das direkte und lebhafte Lernen fördert in idealer Art und Weise die Entwicklung des Kindes. Mit dieser Erkenntnis hat Rousseau die Grundsteine zum erlebnis- und handlungsbezogenen Lernen gestellt. Thoreau setzte Rousseaus theoretisches Denken auch in die Realität um. Er wirkte durch seine Erlebnisse und Erkenntnisse, die er in seinen Tagebüchern niederlegte, und letztendlich zog er sich an den Walden-See in der Nähe von Massachusetts/USA komplett in die Natur zurück. Damit prägte er die amerikanische „Adventure education“. Eine weitere prägende Person der Erlebnispädagogik im 20. Jahrhundert ist Kurt Hahn. Er wollte mit der Erlebnistherapie den Untergang der Gesellschaft durch die pädagogische Handlungspraxis stoppen. Die von ihm erwähnten „Verfallserscheinungen der Gesellschaft“ besitzen bis heute eine erwähnenswerte Aktualität genauso wie seine vier Therapien körperliches Training, Expedition, Projekt und Dienst am Nächsten. Diese Therapien dienen zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen wie Übergewicht und Adipositas, Passivität durch überhäufte Mediennutzung sowie Mangelerscheinungen bei sozialen Kompetenzen, was sich auch bekannterweise auf das Selbstbewusstsein auswirkt (vgl. Michl, 2011, S. 20ff.).
Durch die Neurowissenschaften und ihren bildgebenden Verfahren wurde im 21. Jahrhundert generalisierend nachgewiesen, dass Lernen mit positiven Gefühlen und praktischen Tätigkeiten in Form von „Learning by doing“ eine bessere Funktion und Wirkung zeigten (vgl. Spitzer, 2007, S. 59ff.).
4.2 Erlebnispädagogik im Trainingscamp Diemelstadt
Das Trainingscamp Diemelstadt stellt eine Einrichtung dar, in dem die Jugendlichen über einen Zeitraum von ca. sechs Monaten zusammen mit Trainern an ihrem Verhalten arbeiten können. Es handelt sich um ein spezifisches Erziehungsprogramm, durch das an bestimmten destruktiven Verhaltensweisen der Jugendlichen gearbeitet werden soll. Die Einrichtung liegt im nordhessischen Landkreis Waldeck Frankenberg in einem abgelegenen Waldstück.
Durch die Entfernung von größeren Städten sollen sich die Jugendlichen ganz auf die Arbeit an ihrem Verhalten konzentrieren können. Die Einrichtung verfügt über 20 Plätze für männliche Jugendliche. Das Erziehungsprogramm setzt sich aus sportlichen und pädagogischen Elementen zusammen, die auf ein eigenverantwortliches und soziales Verhalten wie auch deren Förderung abzielen. Zur Verwirklichung dieses Ziels wird eine Symbiose aus Sport, Gemeinschaft und Pädagogik verfolgt (vgl. Durchboxen im Leben e.V., 2017, S.6).
Der Träger des Trainingsverbandes ist der eingetragene Verein Durchboxen im Leben e.V. Der Dachverband ist der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. Die Leistungen beziehen sich auf die Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform nach §34 SGB VIII, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§35a SGB VIII), Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung (§41 SGB VIII), die vorläufige Anordnungen über die Erziehung (§71 Abs. 2, JGG) wie auch die Untersuchungshaftvermeidung (§72 Abs. 4, JGG) und die weiterführende Betreuung Jugendwohngruppe (§34 SGB VIII) (Durchboxen im Leben e.V., 2017, S. 8). Durch Sportprogramme, tägliche Rituale und spezifische Projekte sollen die Jugendlichen in einen geregelten und selbstregulierten Tagesablauf überführt werden, der auf das Leben außerhalb der Einrichtung übertragen werden kann.
Der (Natur-)Sport wird im Trainingscamp auch zu erlebnispädagogischen Maßnahmen umgewandelt, da versucht wird, die Erlebnisse durch Reflexion und Übermittlung in den Alltag pädagogisch nutzbar zu machen. Biwakieren, OCR-Hindernisläufe, Bergsteigen, Fahrradfahren sind alles Sport- und Freizeitbeschäftigungen im Trainingscamp, die Freude bereiten, eine Sinnhaftigkeit darstellen und die verschiedenen Eindrücke auf eine Vielzahl andersartiger Persönlichkeiten projizieren. Finden diese Maßnahmen jedoch zum Eigeninteresse einzelner Personen statt, gehören sie nicht zur Erlebnispädagogik. In Abbildung 3 ist die E-Kette nach Michl dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.3: Die E-Kette (Michl, 2011, S.11).
Diese ist wie folgt zu verstehen: Ereignisse, die durch die Natur, den Natursport, durch das soziale Gefüge und besondere Grenzüberschreitungen verursacht worden sind, führen zu individuell be- und verarbeiteten Erlebnissen. Aus Erlebnissen entstehen Erfahrungen, die mitgeteilt, reflektiert und diskutiert werden. Durch Erfahrungen zieht die jeweilige Person Erkenntnisse. Dabei stützt sich das Wissen auf die Erfahrungen (Konstruktion) und wird durch Erlebnispädagogen ergänzt bzw. ausgebaut (Instruktion) (vgl. Michl, 2011, S. 8ff.).
4.3 OCR-Sport und Biwakieren als Maßnahmen der Erlebnispädagogik allgemein und im Trainingscamp Diemelstadt
Diese Bachelorarbeit beschäftigt sich konkret mit den OCR-Hindernisläufen und dem Biwakieren in der Natur als erlebnispädagogische Maßnahme im Trainingscamp Diemelstadt, welche in den folgenden Kapiteln ausführlicher vorgestellt werden.
4.3.1 Der OCR-Sport als neuer Trend
Die Abkürzung OCR steht für „Obstacle Course Racing“. In der deutschen Übersetzung ist es eine Laufveranstaltung mit Hindernissen. Ihr militärischer Ursprung reicht bis in die Zeit des Römischen Reiches und der Hindernislauf wird bis heute in unterschiedlichen Armeen der Welt praktiziert. Bei diesen (Extrem-)Hindernisläufen werden Bewegungsabläufe gefordert, welche das Laufen, Klettern, Schwimmen, Tauchen, Springen, Ziehen, Tragen usw. umfassen. Die Teilnehmer können Einzeln und im Team starten. Dabei bewegen sie sich auf einer natürlich oder auch künstlich angelegten Laufstrecke. In diesem Sport benötigen die Teilnehmer verschiedene Fähigkeiten und Kompetenzen. Neben Ausdauer und Kraft sollten auch Schnelligkeit, Koordination, Beweglichkeit und vor allem mentale Stärke eingebracht werden. Zu den klassischen Hindernissen gehören Eskalierwände, Wassergräben sowie Hangel- und Kriechhindernisse. Der Schwierigkeitsgrad der Hindernisse stellt die Teilnehmer dabei vor unterschiedliche Beanspruchung und die Laufstrecke unterscheidet sich im Aufbau und Zustand sowie auch in der Anzahl der Hindernisse, von Veranstaltung zu Veranstaltung. Es gibt dort keine festen Vorgaben und Regeln. Nach Mullins (2012, S.101ff.) können Kinder und Jugendliche durch die Ausübung des OCR-Sports neben einer körperlichen Leistungssteigerung auch soziale Kompetenzen, gerade in der Teamarbeit, erlangen. Des Weiteren verbessern sich ihrer Ansicht nach die persönlichen Kompetenzen wie Mut, Durchhaltevermögen und das Selbstbewusstsein.
Magida und Rodriguez stellen fest (2018, S. 8ff.), dass diese Sportart Menschen mit unterschiedlichsten körperlichen Verfassungen und Sozialprofilen anzieht. Auf den mittlerweile stetig steigenden Laufveranstaltungen sind alle Personenkreise zu beobachten. In der Allgemeinheit sind Personen, die OCR-Sport betreiben, zufrieden. Dies liegt meistens daran, dass OCR eine Erfahrung fürs Leben darstellt und sich neben dem Spaßfaktor eine befreiende Wirkung entfaltet. Der Sport ist der Richtige, um einmal wieder Kind sein zu dürfen, seinen Abenteuersinn neu zu entdecken und die tierischen Instinkte in sich zu wecken. Jeder Mensch möchte beim OCR herausfinden, wo seine körperlichen und psychischen Grenzen liegen. Die Beliebtheit und der Trend drücken sich auch in den Teilnehmerzahlen aus. Im Jahr 2010 fanden in Deutschland die ersten Wettkämpfe statt. In den folgenden Jahren wurde bis 2014 ein Teilnehmeranstieg auf 200.000 Personen erwartet, insgesamt waren es doch vier Millionen Läufer. Inzwischen gibt es in Deutschland jedes Jahr einen Anstieg der Eventzahl zu verzeichnen. Die bekanntesten Läufe sind der Spartan Race, Tough Mudder, StrongmanRun, Xletix und der Lake Run. Magida und Rodriguez (2018, S. 9) schreiben der Ausübung vom OCR- Sport positive Wirkungen im Bereich Wohlbefinden, Gesundheit und sozialem und mentalen Nutzen zu. Neben einer Steigerung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens wird auch noch die mentale und emotionale Ebene gefördert. Stress, Nervosität und Anspannungen werden abgebaut. Nicht nur das Training, auch der Wettkampf wirken sich positiv auf das Wohlbefinden aus. Dadurch, dass diese Sportart die Teilnehmer an die körperlichen und mentalen Grenzen führt und ein hohes Durchhaltevermögen abverlangt, erlangen OCR-Sportler zunehmend mehr Anerkennung und Respekt.
Als erlebnispädagogische Maßnahme führt das Trainingscamp Diemelstadt in der Verantwortung des Autoren zwei Mal monatlich Trainingseinheiten im Trendelburger Fitnessparcours im Freien durch und nimmt drei Mal im Jahr an Laufveranstaltungen der Lake Run-Serie in Winterberg, Möhnesee und Trendelburg teil. Durch eine positive Resonanz der Jugendlichen des Trainingscamps Diemelstadt und den daraus resultierenden positiven Wirkungseffekten hat sich der Vorstand des Trainingscamps Diemelstadt entschieden, im Januar 2021 einen hausinternen OCR-Parcours auf dem Campgelände zu errichten. Die sechs bis sieben neuen Hindernisse werden vom Gerätehersteller PlayParc aus Bad Driburg produziert und geliefert. Auch die gute Kooperationsarbeit vom Trainingscamp Diemelstadt zu den Trailwoodrunners aus Trendelburg und dem Lake Run Veranstalter steigern das Zusammengehörigkeitsgefühl und geben ein gutes Bild in der Öffentlichkeit ab.
4.3.2 Das Biwakieren als einzigartiges Erlebnis in der Natur
Der Begriff Biwak leitet sich vom flämmischen Wort „bijwacht“ ab und bedeutet „Bewachung“. Im Französischen wird das Wort „bivouac“ verwendet, was ins Deutsche übersetzt, „Feldlager“ oder „Nacht- und Feldwache“ bedeutet. Später fand sich der Begriff auch beim Militär wieder und setzte sich auch zuletzt im Bereich des Abenteuer- und Bergsteigens durch. Die Abgrenzung zum Zelten besteht in dem Sachverhalt, dass beim Biwakieren kein Zelt verwendet wird. Dort wird zwar auch im Freien übernachtet, es stehen jedoch nur bewusst oder unbewusst limitierte Ressourcen zur Auswahl und es wird im Regelfall nur ein Schlafsack mit Isomatte und Biwacksack als Schlafunterlage und Witterungsschutz genutzt (Bushcraftmagazin, 2020).
Biwakieren stellt in der Erlebnispädagogik eine interessante Variante dar, um ein einzigartiges Naturerlebnis in der Gruppe zu ermöglichen. Abhängig von der Zielfestlegung kann das Biwak eine oder mehrere Nächte dauern. Die Natur aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, die Sorgen und Probleme des Alltags verdrängen und eine Beziehung zu seinem Selbst herzustellen, sind die wesentlichen Ziele dieser Aktivität. Ein weiterer Aspekt, den das Biwakieren an einem Biwakplatz bietet, ist das Zusammenwachsen der Gemeinschaft, die nur durch verantwortliche Aufgaben- und Rollenverteilung existieren kann (vgl. Merazzi, 2010, S. 20ff.).
In einer vom bayerischen Staatsministerium angelegten Studie wurde die Naturverbundenheit von Drittklässlern erforscht. Hier wurde das Ergebnis des letzten Jahrzehnts bestätigt und offengelegt, dass sich die Beziehung und die Kenntnisse zur und über die Natur mit den nachfolgenden Generationen weiter verschlechtert. So wussten beispielsweise auf die Frage, welche Funktion und Aufgabe der Wald hat, 26 Prozent der Kinder keine Antwort. Sogar 16 Prozent der Erwachsenen konnten darauf keine Antwort geben (vgl. Brämer, 2006, S. 4ff.).
Zur Vermeidung einer „lebenswandlerischen Entfremdung“ von Natur und Wald plädierten Forscher für einen Zuwachs erlebnis- und naturpädagogischer Aktivitäten. Auch Teilnehmer, die mit derartigen Maßnahmen in Kontakt traten, schnitten in der o.g. Studie besser ab. Im Fazit der Studie wird davon ausgegangen, dass das Erleben der Natur im Wald eine emotional-sensibilisierende Wirkung erzeuge (vgl. Dachs et al.,2009, S.14).
Für Steiner (1982, S. 52ff.) haben erlebnispädagogische Maßnahmen in Verbindung mit der Natur einen Präventionscharakter. Hinterfragt das Kind in einem geschlechtsreifen Lebensalter nicht die Funktionen, Aufgaben und Sinn seiner Umwelt und seines Selbst, und wird es auch nicht an es herangetragen, so besteht die Gefahr, dass das jugendliche Verhalten sich zu etwas Instinktartigem verwandelt.
Durch den Ausbruch der Covid-19 Pandemie im Frühjahr 2020 war das Trainingscamp Diemelstadt in der Durchführung einiger erlebnispädagogischer Maßnahmen eingeschränkt. Als Alternative wurde die Idee umgesetzt, Biwaks im Weserbergland im Raum Amelunxen durchzuführen. Diese Maßnahme zeigte eine positive Resonanz seitens der Jugendlichen, sodass in Zukunft beabsichtigt wird, diese Events in Führung des Autors und im 6-wöchigen Rhythmus zu wiederholen. Das Biwak setzt sich aus folgenden Lerninhalten zusammen:
1) Selbstorganisation: Packen der persönlichen Ausrüstung, Empfang der Biwakverpflegung, körperliche und mentale Verfassung und Einstellung an die geforderten Gegebenheiten anpassen, Verinnerlichung des Ablaufs
2) Einweisung ins Gelände und Geländeorientierung nach Karte und Kompass
3) Durchführung eines Geländemarsches mit einer täglichen Marschleistung von 10-15 Kilometern
4) Einrichten des Biwakplatzes: Schlafplätze, Feuerstelle, Verpflegungsstelle und Notdurftstelle einrichten.
5) Durchführung der Wache und Streife bei Nacht
6) Behelfsmäßiges Bauen von Unterkünften
7) Seil- und Knotenkunde
8) Wald- und Tierkunde
9) Gewässerüberquerung mit und ohne Hilfsmittel
10) Feuer mit Magnesiumstäben entfachen und Funkenbildung und Wasseraufbereitung
4.4 Kritik an der Erlebnispädagogik
Die Erlebnispädagogik stellt für die meisten Pädagogen und Psychologen die oberste Disziplin des Lernens dar, in der Politik und Presse wird sie dagegen als kostenintensive und überbewertete Methode dargestellt (vgl. Michl, 2011, S. 7). An dieser Stelle stellt sich die Pädagogik dem Legitimationsdruck, um die tatsächliche Wirkung nachzuweisen, ob also die Übertragung der Erlebnisse in den Alltag funktioniert. Diese Methode wirkt von außen betrachtet als Aktivität, die ihren Fokus „nur“ auf Spaß, Spiel und Sport lenkt. Aus diesem Grund wird die Wirksamkeit besonders in Frage gestellt und die gemeinsame Reflexion zwischen allen Beteiligten oder auch die Selbstreflexion des Teilnehmers scheint in den Hintergrund zu rücken.
Um eine gewünschte Wirksamkeit zu erlangen, erfordert es vom Professionellen ein hohes Maß an Verantwortungsübernahme und Vorbild- und Führungsfunktion. In den Neunzigerjahren war sie „[…] primär eine Angelegenheit für Praktiker und Pioniere“ (Birnthaler, 2010, S.10). Das Trainingscamp Diemelstadt ist Ende September mit sieben Jugendlichen, einem Erlebnispädagogen und dem Autor ins Elbsandsteingebirge gefahren, um dort auf ca. 500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel eine Klettertour zu veranstalten und zwei Tage in der Natur unter Felsüberhängen zu biwakieren. In diesem Event haben die Pädagogen die Verantwortung für jugendliche Menschenleben übernommen, da das Klettern in den Bergen, bei mangelnden Fachkenntnissen und praktischer Handlungsunfähigkeit, eine Lebensgefahr darstellen kann. Des Weiteren erforderte der zweitägige 32,5 Kilometer lange Marsch zum Ziel, eine Vorbild- und Führungsfunktion von beiden Pädagogen ab, da sie im pädagogischen, physischen und mentalen Bereich als Vorbild galten und die Jugendlichen sicher und gekonnt zum Ziel führen mussten.
Die Frage nach der Wirkung ist dabei schwer zu beantworten. Wie bereits in der E-Kette nach Michl (vgl. Kap. 4.2) erwähnt, ist die Wahrnehmung des Ereignisses in dem daraus resultierendem Erlebnis sehr unterschiedlich und letztendlich eine persönliche Erfahrung und Reflexionsangelegenheit.
Absolviert das Trainingscamp Diemelstadt ein Biwak oder einen OCR-Hindernislauf mit 20 Jugendlichen, wird es zumindest anteilig 20 verschiedene Erlebnisse hinterlassen. Franz Kafka (1995, S. 48) schrieb einst in einem Brief an seinen Vater: „[…] was mich packt, muss dich noch kaum berühren und umgekehrt, was bei dir Unschuld ist, kann bei mir Schuld sein, und umgekehrt, was bei dir folgenlos bleibt, kann mein Sargdeckel sein.“ Weitere Passagen in Kafkas Brief sind Folgende: „Einmal brach ich mir das Bein. Das war mein schönstes Erlebnis.“ Beide Aussagen verdeutlichen, dass Erleben eine individuelle Komponente darstellt.
Einen weiteren Kritikpunkt stellt das Thema Sicherheit und der Umgang mit der Natur dar. Die Forderung der Erlebnispädagogik an seine physischen, seelischen und mentalen Grenzen zu gehen, ist gleichzeitig mit einem hohen Maß an Risikobereitschaft verbunden und stellt auch gleichzeitig die Sicherheit in verschiedenen Bereichen in Gefahr. So wäre der Imageschaden, den eine soziale Einrichtung bei tödlichen Unfällen mit mehreren Jugendlichen und Betreuern in einer erlebnispädagogischen Maßnahmen erleiden würde, nurschwer zu kompensieren. Diese Fälle ereigneten sich jedoch in verschiedenen erlebnispädagogischen Settings, wie beispielsweise dem Bergsteigen oder Kanufahren in der Wildnis. In solchen Fällen wird der Gesetzesgeber von einer den Medien unter Zugzwang gestellt, geltende Gesetze und Verordnungen zu erweitern und zu ändern. Demzufolge können soziale Träger dann nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren. Es muss von der Erlebnispädagogik vorausgesetzt werden, dass sie mit den anvertrauten Menschen und sich selbst verantwortungsvoll umgeht. Auch die Natur muss verantwortungsvoll behandelt werden. Müllhinterlassenschaften in der Natur nach einem Biwak, das mutwillige Zerstören von Pflanzen, Lärmverbreitung im Wald oder das Verletzen oder Vertreiben von Wildtieren sind immer wiederholt Gründe, die Anlass zur Kritik bieten (vgl. Bundesverband Erlebnispädagogik e.V., 2020).
5 Forschungsmethodisches Vorgehen und Auswertungstechnik
In diesem Kapitel werden neben den Spezifika der Praxisforschung, die Forschungsfrage und das Forschungsziel aufgezeigt. Die Auswahl der qualitativen Forschung wird begründet, indem die quantitative und die qualitative Forschung gegenübergestellt werden. Im Unterkapitel Forschungsdesign wird eine Stichprobenbeschreibung vorgenommen und die Auswahl des Interviews als Forschungsinstrument anhand einer Konzeptspezifikation begründet. Die Durchführung und die Bedingungen des Interviews werden ebenfalls aufgeführt. Außerdem wird eine Abgrenzung gegenüber anderen Forschungsinstrumenten der qualitativen Forschung vorgenommen. Mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) werden die einzelnen Schritte der Auswertungstechnik transparent aufgezeigt und begründet.
5.1 Begründung des Vorhabens
Diese Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Durchführung einer Praxisforschung. An dieser Stelle umfasst der Begriff Praxisforschung die Forschung an Praxiseinrichtungen. Praxisforschung setzt sich wie die Professionalität aus den beiden Elemente Wissenschaftswissen und Praxiswissen zusammen. Gemäß dem Institut für Praxisforschung (2020) stellt
„[…] die Praxisforschung eine Forschungsrichtung dar, bei der Praktiker durch das Erforschen ihrer eigenen Praxis neue Theorie generieren, von deren Anwendung wiederum ein direkter Einfluss auf die Praxis ausgeht. Praxisforschung kann somit als zyklischer Prozess verstanden werden, wodurch ein Austausch zwischen Theorie und Praxis entsteht.“
Praxisforschung kommt zu dem Fazit, dass sie als Erstes die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis überwinden muss. Der Forschungsgegenstand wird dabei im Kontext von existierenden wissenschaftlichen Theorien und Methoden untersucht, um das geeignete Praxispotenzial zu erreichen. Trotz wissenschaftlicher Prinzipien erfüllt sich nicht die Auffassung, dass der Forschende sein Forschungsbereich in eine bestimmte Richtung leiten möchte. Die in der Wissenschaft weit verbreitete Ansicht der Distanz zum Forschungsgegenstand entschwindet, der Forschende verkörpert zugleich Subjekt und Objekt im Forschungsprozess (vgl. Lambach, 2009, S. 21ff.).
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, befasst sich diese Arbeit mit der Forschungsfrage, welche Faktoren und Gründe bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins bei delinquenten Jugendlichen im Trainingscamp Diemelstadt e.V. und allgemein entscheidend sind und ob die Erlebnispädagogik eine Steigerung des Selbstbewusstseins bewirkt.
Aus der Forschungsfrage ergeben sich die Forschungsziele. Ziele der Praxisforschung lassen sich je nach Auftrag, Rolle, Interessen und Motiven der am Forschungsprozess Beteiligten unterscheiden. Infolgedessen sollten Ziele von Anfang an definiert werden. Der Schwerpunkt der Praxisforschung sollte darauf gerichtet sein, allen Beteiligten in der Mikro-, Meso- und Makroebene der Sozialen Arbeit einen Nutzen zu ermöglichen. Das bedeutet genau, dass der direkt beteiligte Adressat/-in, Professionelle und ihre sozialen Einrichtungen, indirekt die Profession der Sozialen Arbeit und gesamtheitlich die Gesellschaft einen Vorteil aus der Praxisforschung schöpfen. Am Anfang des Forschungsprozesses steht der Forschende vor der Frage, welche Methode(n) zur Erreichung des Forschungszieles gewählt werden sollen. In der Forschung wird zwischen der quantitativen und qualitativen Forschung sowie deren unterschiedlichen Verfahren und Instrumenten differenziert. Die Auswahl der Methode ist davon abhängig, wie der methodische Zugang zu dem Forschungsgegenstand hergestellt werden soll (vgl. König, 2016, S. 30ff.).
Die quantitative Forschung erfolgt objektiv aus der Sicht des außenstehenden Forschenden. Dabei werden am Anfang der Forschung von vornherein bestehende Theorien und Modelle über den Forschungsgegenstand verwendet. Deduktiv, d.h. aus der Theorie können Hypothesen über empirische Daten oder Erkenntnisse gewonnen und anschließend überprüft werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 247ff.). Der Forschungsprozess verläuft unter Verwendung replizierbarer Daten statisch, es erfolgt also eine Operationalisierung mit messbaren Indikatoren. Das Erkenntnisinteresse besteht darin, kausale Zusammenhänge zu erklären, in denen sich einzelne Stichproben auf die gesamte Population übertragen lassen (vgl. König, 2016, S. 21ff., S. 43.).
In der qualitativen Forschung steht die Sicht des Erforschenden im Mittelpunkt des Interesses, in dem der Forschungskontext realitätsnahe Daten zur Verfügung stellt. Das Erkenntnisinteresse besteht darin, einzelne Lebenswelten und Interaktionen unter bestimmten Kriterien anhand von Interviews, Gruppendiskussionen und Beobachtungen zu erforschen (vgl. König, 2016, S.21ff., S. 43). Es handelt sich dabei um einen dynamischen Forschungsprozess, in dem sich zunächst Hypothesen und Theorien aus der Forschung heraus entwickeln und entdecken lassen. Eine induktive Vorgehensweise, welche zu einer Schlussfolgerung von beobachteten Phänomenen zu einer allgemeinen Erkenntnis oder Theorie führt und ein Sinnverstehen erfordert, ist ein charakteristisches Merkmal für die qualitative Forschung (vgl. Lamnek, 2005, S.247ff.).
In dieser Bachelorarbeit wird die qualitative Forschungsmethode verwendet. In der hier genannten Praxiseinrichtung lassen sich Interviews zu den verschiedenen Stationen der Jugendlichen in deren Leben durchführen. Hier werden subjektive Sichtweisen der Adressaten gewonnen, indem biografisch geprägte Lebensbereiche wie beispielsweise Lebenssituation, Familie, Schule, Jugendhilfeerfahrung, Delinquenzverlauf, erster Eindruck über jetzige Jugendhilfeeinrichtung und Gefühlslage als Inhalt eines Interviews gewählt werden. Gerade Faktoren und Gründe, die für die Entwicklung des Selbstbewusstseins und die Steigerung des Selbstbewusstseins entscheidend sind, sind durch persönliche Erlebnisse und Erfahrungen geprägte Lebenskonzepte, welche am besten in einem Interview erfragt werden (vgl. Galuske & Böhle, 2009, S. 117).
5.2 Forschungsdesign
Im folgenden Kapitel wird das Forschungsdesign dargestellt. Darunter fällt im ersten Kapitel die Beschreibung der Stichprobe, daraufhin die Begründung des Erhebungsinstruments sowie die Durchführung dieses und schlussendlich die Auswertungstechnik in Form der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010).
[...]
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.