Was bedeutet es, am Rande des Tages zu stehen, wenn die Welt in Dämmerung getaucht ist? Rainer Maria Rilkes Gedicht "Abend" fängt diesen flüchtigen Moment ein, in dem sich Himmel und Erde scheiden und das lyrische Ich in einem Zwischenraum der Ungewissheit verweilt. Die Verse evozieren eine melancholische Stimmung, während der Abend langsam seine "Gewänder wechselt" und eine Landschaft der Gegensätze enthüllt. Der Leser wird in eine Welt gezogen, in der die Grenzen zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen verschwimmen, in der das Leben selbst zu einer unsäglichen Verflechtung von Angst, Größe und Reife wird. Rilke, ein Meister der impressionistischen Lyrik, verwendet eine getragene Sprache und eindringliche Bilder, um die Vergänglichkeit des Daseins und die ewige Suche nach Sinn zu erkunden. Anaphern und Enjambements verstärken den meditativen Charakter des Gedichts, während Alliterationen und Personifikationen die Natur lebendig werden lassen. "Abend" ist mehr als nur eine Beschreibung eines Naturschauspiels; es ist eine introspektive Reise in die Tiefen der menschlichen Existenz, ein Spiegelbild der eigenen Lebensreise des Autors und seiner Auseinandersetzung mit Themen wie Vergänglichkeit, Tod und der Sehnsucht nach dem Ewigen. Die formale Strenge des Gedichts, mit seinem kompakten Aufbau, dem Jambus und den kunstvollen Reimschemata, steht im Kontrast zur fließenden, fast beschwörenden Sprache, die den Leser in ihren Bann zieht. Entdecken Sie die subtilen Nuancen von Rilkes Poesie, seine Fähigkeit, in einfachen Bildern komplexe Emotionen und philosophische Fragen zu verweben, und lassen Sie sich von der zeitlosen Schönheit und der tiefgründigen Bedeutung von "Abend" berühren. Tauchen Sie ein in eine Welt der Impressionen, der Gefühle und der existenziellen Fragen, die Rilke so meisterhaft in Worte fasst, und finden Sie neue Perspektiven auf das Leben, den Tod und die ewige Suche nach dem Sinn.
ABEND
RAINER MARIA RILKE
Zum Autor:
- am 04.12.1875 in Prag
- am 29.12.1926 in Valmont
Bedeutende Werke und ihre Hintergründe:
- "Das Buch der Bilder" (1902) und "Neue Gedichte" (1907): Seit der Zeit in Worpswede (Künstlerkolonie, die er in Bremen besuchte) und in Paris widmet er sich dem plastischsachlichen und malerisch-intensiven Stil der Lyrik.
- "Stundenbuch" (1905): poetische Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen
- Anziehungskraft und Breitenwirkung der Prosadichtung "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" (1906) und "Die Aufzeichnungen des Malers Malte Laurids Brigge"(1910): Er beschäftigt sich auch hier mit dem Problem menschlichen Daseins, es ist Spiegel eigener Existenzproblematik (Angst und Verzweiflung).
- Die "Duiser Elegien" (vollendet 1923) beinhalten den antiken Elegienvers, der Inhalt jedoch ist antiidyllisch: Verzweiflung des Menschen und dessen Situation in der Welt (Ungenügen und Gebrochenheit).
Gedicht:
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Interpretation:
Aufbau und Form:
- kompakter Aufbau (Gedicht = ein Satz). Dieser wirkt durch Kommata, Strichpunkte unregelmäßig, der Doppelpunkt (V 3) erregt jedoch Aufmerksamkeit und bewirkt Betonungen und Hervorhebungen bestimmter Wörter.
- 3 Strophen zu je 4 Versen
- 5- hebiger Jambus, aber: Schwebung im letzten Vers. (Der Sprechrhythmus verhält sich hier gegen das Metrum/ Abweichung vom natürlichen Ton)
- Strophe 1 und 2: Kreuzreim (abab, cdcd), 3. Strophe: umarmender Reim (effe), der lange Satz wird so zusammenzuhalten.
- wechselnder Versschluss (w-m-w-m, w-m-w-m, m-w-w-m), Analogie zum Reimschema
Sprache:
- langsam getragen, fast beschwert und melancholisch
- Anaphern: nicht ganz- nicht ganz (V6 + V7)
- Enjambement ( V7 - V8)
- Polysyndeton: V 10, um Eindrücke aneinanderzureihen wird das Verbindungswort "und" verwendet.
- Alliteration: ganz gehörend (V5), bald begrenzt- bald begreifend (V11)
- Personifikation des Abends: Er wechselt langsam die Gewänder
" " des Hauses: Es schweigt
- gegensätzliche Paare: Himmel - Erde, Stein - Gestirn
Inhalt:
- keine konkrete Handlung
- 1 Strophe: das lyrische Ich beschreibt die Vorgänge in der Natur.
Im V3 spricht er (sie) jmd. direkt an. Unklar wer es ist. Entweder der Leser, oder er selbst (Monolog).
"Der Abend wechselt die Gewänder" (V1): Beobachtung des Naturschauspiels, bei dem der Abend von der Dämmerung in die Nacht übergeht. (Oder auch: Wandel im alltäglichen Leben der Menschen: Arbeitstag mündet in Ruhe).
"ein himmelfahrendes (Land) und eins, das fällt": erster Gegensatz zwischen Himmel und Erde (zentrales Thema).
Gegensatz zwischen irdischem und himmlischen Dasein.
- 2. Strophe: Entfernung von der Beschreibung der Natur.Gedanken über diesen Gegensatz.
Bedeutung des Abends wird klar: nicht nur Tageszeit, sondern auch die Lebenszeit (des Autors). Der Autor befindet sich im Lebensabend, kein akutes Sterben, aber er sagt er
"gehört weder zum himmelfahrenden Land noch zum Land das fällt"(Erde)
Der Gegensatz Himmel (Gottes Reich ➔ Frömmigkeit Rilkes) und Erde ➔ Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens und das Leben nach dem Tod. Keine Sicherheit über Leben nach dem Tod. Aber:"nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt" und "nicht ganz sosicher Ewiges beschwörend" (ewig wie die Nacht)
- 3.Strophe: Einblick in das Leben nach dem Tod unmöglich("unsäglich zu entwirrn"), Leben ist gereift und erscheint"bang und riesenhaft" ➔"begrenzt". Erkennt Vergänglichkeit des Lebens auf der Erde. Unsichere Weltordnung, es gibt etwas nach dem Tod, wo die Gegensätze Himmel ("Gestirn") und Erde ("Stein") zentrales Thema sind.
Rilke und Impressionismus:
"Abend": charakteristisch für Impressionismus, Eindrücke und Gefühle aneinander gereiht. Erleben des Abends und die Gedanken über Vergänglichkeit und Tod vertreten das im Impressionismus häufige Bild von Vergehen und Entstehen.
Häufig gestellte Fragen
Wer war Rainer Maria Rilke?
Rainer Maria Rilke war ein bedeutender deutschsprachiger Dichter. Er wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren und starb am 29. Dezember 1926 in Valmont.
Welche sind einige seiner bedeutendsten Werke?
Zu seinen bedeutendsten Werken gehören "Das Buch der Bilder" (1902), "Neue Gedichte" (1907), "Stundenbuch" (1905), "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" (1906), "Die Aufzeichnungen des Malers Malte Laurids Brigge" (1910) und die "Duineser Elegien" (vollendet 1923).
Was ist das Thema des Gedichts "Abend"?
Das Gedicht "Abend" thematisiert den Übergang vom Tag zur Nacht, die Vergänglichkeit des Lebens und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen wie Leben, Tod, Himmel und Erde.
Wie ist das Gedicht "Abend" aufgebaut?
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit je vier Versen. Es hat einen kompakten Aufbau und ist im Jambus (fünfhebig) geschrieben, mit einer Schwebung im letzten Vers. Das Reimschema ist in den ersten beiden Strophen ein Kreuzreim (abab, cdcd) und in der dritten Strophe ein umarmender Reim (effe).
Welche sprachlichen Mittel werden im Gedicht "Abend" verwendet?
Im Gedicht werden verschiedene sprachliche Mittel eingesetzt, darunter Anaphern ("nicht ganz - nicht ganz"), Enjambement, Polysyndeton, Alliteration, Personifikation und gegensätzliche Paare (Himmel - Erde, Stein - Gestirn).
Was bedeutet die Personifikation im Gedicht?
Die Personifikation des Abends ("Der Abend wechselt langsam die Gewänder") und des Hauses ("das Haus, das schweigt") verleihen der Natur und den Dingen menschliche Eigenschaften und verstärken die poetische Wirkung.
Welche Rolle spielt der Gegensatz zwischen Himmel und Erde im Gedicht?
Der Gegensatz zwischen Himmel und Erde ist ein zentrales Thema im Gedicht. Er symbolisiert den Gegensatz zwischen irdischem und himmlischem Dasein, zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit.
Inwiefern ist "Abend" ein Beispiel für den Impressionismus?
"Abend" ist charakteristisch für den Impressionismus, weil es Eindrücke und Gefühle aneinanderreiht. Das Erleben des Abends und die Gedanken über Vergänglichkeit und Tod repräsentieren das im Impressionismus häufige Bild von Vergehen und Entstehen.
Welche Bedeutung hat der Titel "Abend" im Kontext des Gedichts?
Der Titel "Abend" bezieht sich nicht nur auf die Tageszeit, sondern auch auf den Lebensabend des lyrischen Ichs. Er symbolisiert den Übergang vom Leben zum Tod und die Reflexion über die eigene Existenz.
Wie wird das lyrische Ich im Gedicht dargestellt?
Das lyrische Ich beschreibt die Vorgänge in der Natur und reflektiert über die Bedeutung des Abends als Lebensabschnitt. Es befindet sich in einer Zwischenposition, weder ganz dem Irdischen noch ganz dem Himmlischen zugehörig, und ringt mit der Vergänglichkeit des Lebens.
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- Katharina Friedl (Author), 2001, Rilke, Rainer Maria - Abend, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100861