Lese- und Rechtschreibschwäche
1. Von der Legasthenie zur Lese- und Rechtschreibschwäche
2.1. Die Geschichte der Legasthenie
Der Begriff ,,Legasthenie" wurde in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Ranschburg geprägt. Für ihn war Legasthenie eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes. In Folge dessen wurden Kinder mit Legasthenie bis in die siebziger Jahre hinein zu Schülern abgestempelt, die nur auf einer Hilfsschule gefördert werden können. Die mangelnde Lesefertigkeit war ein besonderes Kriterium. Diese Thesen Ranschburgs sind bis heute noch das Verhängnis vieler Schüler. Denn noch immer herrscht die Meinung vor, daß Kinder, die nicht Lesen und Schreiben können, nicht aufs Gymnasium gehören.
Durch die kriegsbedingte Isolierung gelangen neuere Untersuchungen nicht bis nach Deutschland vor. So dauerte es bis 1951, ehe die Schweizer Psychologin M. Linder, die Diskussionen neu entfachte, indem sie Kinder mit Legasthenie auf deren Intelligenz untersuchte und zu dem Ergebnis kam, daß diese durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent sind. Dank dieser Erkenntnisse gelang es die Legastheniker aus ihrer Isolierung hervorzuholen.
Nun stellte sich die Frage, wie erkennt man einen Legastheniker? Laut Linder galt:
,,Legastheniker ist, wer Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen hat und zugleich mindestens durchschnittlich intelligent ist."1 [1 ]
Während sich fast alle Bundesländer auf Linders Definition stützten, formulierte Nordrhein- Westfalen folgenden Erlaß: ,,Isolierte Lese-/Rechtschreibschwäche, unterdurchschnittliche Rechtschreibleistungen bei durchschnittlichen sonstigen Schulleistungen."2 [2 ] Es wird nicht die Intelligenz gemessen, sondern die Schulleistungen. Daß sich diese Definition nicht durchsetzen konnte, lag daran, daß Lehrer nach den Prinzipien von M. Linder ausgebildet wurden. So wurden in den Siebzigern Legasthenie-Tests (nach der Formel IQ>85 und Rechtschreibleistung >PR 15) durchgeführt, die die Schule in zwei Klassen unterteilte, ,,die Anerkannten und die anderen". Die Anerkannten waren die, die beim Intelligenztest gut abschnitten.
1. 2. Ursachenforschung
Wie gesagt galt am Anfang des 19. Jahrhunderts die These Ranschburgs, daß Legastheniker dumm sind. M. Linder nun stellte eine durchschnittliche Intelligenz bei Legasthenikern fest, die die Frage mit sich brachte, warum die Kinder dann nicht Lesen und Schreiben können. Valtin`s3 [3 ] Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, daß
- die Schulbildung der Eltern
- die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialgruppe
- die Zahl der Bücher im Hause
- das geschätzte Einkommen der Eltern
- die Zahl der Zimmer im Hause
- und die Möglichkeit des Kindes, über ein eigenes Zimmer zu verfügen, Ursachen für Legasthenie sein könnten.
Jedoch stehen einige dieser Vermutungen im Gegensatz zum Auftrag der Grundschule, der es ist, allen Kindern das Lesen und Schreiben zu lehren.
Auch die Schulen selbst, sprich Lehrer und Lehrerinnen wurden für die Probleme verantwortlich gemacht. Gehen sie davon aus, daß die Eltern versagt haben, fragen sich diese wiederum, warum die Lehrer/innen ihren Kindern das Lesen und das Schreiben nicht beibringen können. So werden die Schuldzuweisungen gegenseitig hin- und hergeschoben. Dabei ist die Frage nach den Ursachen müßig, denn heutzutage erscheint es nach Meinung der Forscher und Pädagogen wichtiger, Mittel zu finden die Legasthenie zu bekämpfen. Denn Ursachen für Legasthenie sind bis heute noch nicht eindeutig geklärt. Helen Irle brachte 1989 einen ganz neuen Aspekt in die Diskussionen, der Legasthenie als eine spezielle Sehstörung definierte, die sie bei 74% der Legastheniker festgestellte.
Wie gesagt ist man mittlerweile davon abgekommen nur nach den Ursachen zu suchen, es werden vielmehr Wege gesucht, wie man den Kindern Lesen und Schreiben beibringen kann. Der Begriff der Legasthenie wurde in den 80er Jahren durch LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche) ersetzt, da keine eindeutige Definition der Legasthenie gefunden werden konnte. Klar war nur, daß eine Lese- und Rechtschreibschwäche vorliegt, aber nicht in welchem Ausmaß. So könnte eine Lese- und Rechtschreibstörung genauso wie eine Lese- und Rechtschreibschwäche vorliegen, die gravierend oder nur leicht auftritt. Der Begriff umfaßt also ein weites Feld, während LRS wesentlich aussagekräftiger ist.
Dem entsprechend lautet der LRS-Erlaß des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 1991:
,,Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens (LRS)"4 [4 ]
Breuer und Weuffen entwickelten 1986 ein Differenzierungsprobe, die gut geeignet scheint, schon frühzeitig Kinder, die eventuell ,,anfällig" sein könnten für LRS ausfindig zu machen. Dabei wird die optische, phonematische, kinästhetische, melodische und rhythmische Differenzierungsfähigkeit des Kindes überprüft.
An der Universität Bielefeld sucht man derzeit nach Möglichkeiten der Früherkennung und Prävention von LRS. Ausgegangen wird von einer Störung des ,,phonematischen Bewußtseins"5 [5 ], d.h. den Kindern fällt es schwer die Sprache analytisch zu durchschauen. Den Kindern werden Tests vorgelegt, in denen sie z. B. sich reimende Wortpaare finden, oder die Stellung eines Buchstabens im Wort analysieren sollen.
Diese Ansätze stellen einen Wendepunkt in der Legasthenieforschung dar, denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach den Voraussetzungen, die ein Kind braucht um Lesen und Schreiben zu lernen.
Trotz dieser umfang- und facettenreichen Forschung und Suche nach Ursachen und Lösungen, ist es bis heute nicht gelungen eine allgemeingültige Theorie aufzustellen. Aufgrund der zahlreichen Ansätze wird deutlich, wie komplex das Problem LRS ist, und vorerst bleiben wird.
Was festzuhalten bleibt ist, daß6 [6 ]
1. Es gibt keine organische, psychische oder soziale Bedingung, die in jedem Falle zu einer LRS führt.
2. Es gibt keine Bedingung, die als einzige zu Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten führt.
3. Es gibt mehr Jungen als Mädchen, die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln.
4. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln Kinder in allen Kulturen mit Schriftsprache.
Mehr als diese doch recht allgemein gehaltenen Aussagen können momentan nicht gemacht werden.
2.3. Die Bedeutung der Rechtschreibung und des Lesens
Ich habe anhand meiner Unterrichtsplanung zum Thema Zeitung bereits dargestellt, das die visuellen, digitalen Medien in den meisten Haushalten primär genutzt werden, die Zeitung und insbesondere Bücher für viele Kinder keinen hohen Stellenwert besitzen. War es früher eine Freude ein Buch geschenkt zu bekommen, erwarten viele Kinder heutzutage ein Computerspiel zu Weihnachten. Anstatt einen langen Brief zu schreiben, benutzt man lieber das Telefon.
,,Der Wille Schreiben zu lernen, ist heute bei Erstkläßlern deutlich geringer als früher."7 [7 ]
Das diese Tatsachen auf die Medienüberflutung zurückzuführen sind, ist unabstreitbar, dem wird (und muß) in den meisten Schulen mittlerweile Rechnung getragen, im Sinne von Computerunterricht. Aber, das ,,Rechtschreiben (darf) nicht vernachlässigt werden. Es darf aber auch kein Übergewicht im Lernbereich Sprache erhalten."8 [8 ]
Dadurch daß die Rechtschreibung nicht im absoluten Mittelpunkt steht, wird den Schülern mit LRS der Druck genommen, ihnen wird mehr Zeit gegeben, sich weiterzuentwickeln. Das Lesen steht in einem anderen Zusammenhang zu den dominierenden Medien. Denn ein Computer kann ohne Lesen auch nicht bedient werden, außer zum Spielen von ,,Ballerspielen". Im späteren Berufsleben ist es um so wichtiger lesen zu können. Ein Mechaniker, der die komplizierte Gebrauchsanweisung nicht lesen kann, wird Probleme bekommen.
Durch die veränderte Medienlandschaft kommen die Kinder mit den unterschiedlichsten Vorerfahrungen in die Schule, ,,hinsichtlich der Lesefähigkeit, der Lesemotivation, der Lernstile, (...) der Ausformung ihrer Lautsprache (...) und der Sprachbeherrschung. Deswegen muß der Leselernprozeß konsequent differenziert werden."9 [9 ]
3. Voraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen
Grundbedingungen für den Lese- Schreiblernprozeß
- Seh- und Hörfähigkeit
- Gleichgewicht und motorische Koordination
- Entwicklung einer homogenen Lateralitätsstruktur
- integrative Verarbeitung der sensorischen Informationen
- Koordination der Sinne und der Motorik
- Sprache, Sprachverarbeitung und kognitive Sprachanalyse.
Diese Grundfunktionen werden schon im Kindergarten gefördert. Kinder, die in den Funktionen Störungen aufweisen, lernen Schreiben und Lesen auch, nur anders.
4. Analyse der Lernschwierigkeiten unter Betrachtung einiger Fallbeispiele der Klasse 4c
Ich habe mich bei meinen Beobachtungen im wesentlichen auf zwei Schüler konzentriert, die ich hier unter falschem Namen Peter und Sabine nennen möchte.
Norbert Sommer-Stumpenhorst hat folgende Bereiche für die Analyse der Lernschwierigkeiten herausgestellt:
1. Lese-und Schreiblernvoraussetzungen
2. Schulische Bedingungen
3. Lern- und Arbeitsverhalten
4. Selbstkonzept und Lernmotivation
5. soziale Kompensationen
6. Reaktionen der Umwelt
7. Leistungsdefizite
zu 1.: Die Lese- und Schreiblernvoraussetzungen und deren Analyse stehen besonders in den ersten beiden Schuljahren im Vordergrund. Treten hier bei der motorischen Koordination, der sensorischen Integration, der visuellen Differenzierungsfähigkeit, der sprachlichen Mehrfähigkeit oder in der Seh- und Hörfähigkeit Probleme auf, wird es zu Schwierigkeiten im Lese- und Schreiblernprozeß kommen.
Im Bezug auf die Schüler/innen der 4c lassen sich also noch keine Aussagen machen, da ich nicht beurteilen kann, wie sie die ersten beiden Schulstufen erlebt haben. Auf motorische Störungen werde ich im weiteren noch hinweisen.
zu 2.: Zu den schulischen Bedingungen, die sich auf den Lernprozeß auswirken, gehört das Profil der Klasse. In der 4c befindet sich ein großer Anteil von ausländischen Schülern/innen, die große Sprachprobleme aufweisen und dem Unterrichtsgeschehen nur schwer folgen können. Inwieweit das Auswirkungen auf Peters und Sabines Lernverhalten hat, läßt sich nur schwer beurteilen, aber es ist nicht zu leugnen, daß in dieser Klasse bis auf drei Ausnahmen alle Schüler/innen Schwierigkeiten vor allem mit der Rechtschreibung haben. Die Folgen dieser Konstellation im Bezug auf LRS sind in den Schuljahren 1 und 2 schwieriger zum Tragen gekommen, da die Sprachprobleme der Ausländer hier wahrscheinlich zu Verzögerungen im Lernprozeß geführt haben.
Dem Lehrer kommt natürlich eine wichtige Rolle zu. Seit der dritten Klasse leitet Herr Meier den Unterricht, und mir scheint als habe er Peter und Sabine bereits ,,aufgegeben" im Hinblick auf ihre Probleme.
Gerade in den Anfangsjahren ist es von Bedeutung, wie der Lehrer Sprache vermittelt und wie qualifiziert er auf dem Gebiet der LRS-Problematik ist.
zu 3.: Unter Lern- und Arbeitsverhalten sind nicht unbedingt die Anstrengungen der Schüler/innen in dem Problembereich gemeint, sondern vielmehr auch das Verhalten in anderen Bereichen, wie Kunst, Musik oder Mathematik.
Sabine konnte sich im Kunst- und Textilunterricht beispielsweise sehr gut auf Basteloder Malarbeiten konzentrieren (und hatte sichtlich Freude daran), zeigte beim Schreiben jedoch eine übermäßige Unkonzentriertheit. Hier wäre es nicht sinngemäß Konzentrationsübungen durchzuführen, vielmehr sollte die Motivation im Problembereich gesteigert werden, denn es zeigt sich, daß die Konzentration bei Sabine durch Motivation gefördert wird.
zu 4.: Ab der vierten Klasse spielen das Selbstwertgefühl und das Selbstbewußtsein eine große Rolle. Hat ein/e Schüler/in bis zu diesem Zeitpunkt viele Mißerfolge aufgrund der LRS erfahren, wird sich dies negativ auf Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl auswirken. Wichtig ist nun, dieses zu stärken, zu sehen was sich die Schüler zutrauen, und inwieweit sie ihre Schwierigkeiten erkennen, und bereit sind diese zu bekämpfen.
Baut der/die Schüler/in lernhemmende Erklärungen, wie ,,mein Bruder und mein Vater haben die gleichen Schwierigkeiten, das hab ich geerbt"10 [10 ] auf, wird es schwierig dem/der Schüler/in das Gegenteil zu beweisen, wie ich am Beispiel Peters merkte, der mich darauf verwies, daß sein Bruder in Diktaten auch immer Sechsen schreibe. Diese Erklärung schien Peter eine gewisse Sicherheit zu geben, daß er nicht der einzige ist, der nicht ,,richtig" schreiben kann, und das es zudem in der Familie liegt und nichts mit ,,Dummheit", wie die anderen Schüler/innen denken, zu tun hat. Typisch für seinen Umgang mit der Rechtschreibschwierigkeit scheint mir auch, daß Peter sich regelgerecht auf seinem Platz verbarrikadiert, damit bloß niemand seine Fehler sieht, und daß er in sein Diktat- oder Aufsatzheft nur einen flüchtigen Blick riskiert, und er es leid ist den Mitschülern/innen seine Note zu nennen. Einige scheinen beinahe absichtlich danach zu fragen.
Ein weiteres Beispiel für seine Unsicherheit zeigt sich beim Übertragen eines Lückentextes vom Buch ins Heft. Es gelingt ihm nicht die Wörter korrekt abzuschreiben, mindestens jedes zweite Wort wird falsch geschrieben. Während meiner Hospitation bat er mich immer wieder zu sich, um zu fragen, ob ,,das richtig" ist. Selbstsicherheit ist absolut nicht vorhanden, erschwert wird ihm die Situation zusätzlich durch die ,,Schnelligkeit" der Mitschüler/innen, die im Vergleich relativ schnell Texte abschreiben und sich höchstens an den fehlenden Wörtern aufhalten, mit denen sich Peter im Grunde kaum beschäftigen kann, da er sich so auf die Rechtschreibung konzentrieren muß. Zeitgleich bekommt er nun mit, daß viele die Aufgabe schon erledigt haben, während er noch am Anfang steht.
Sabine hingegen arbeitet relativ schnell, macht zwar viele Fehler, wirkt aber insgesamt selbstbewußter.
zu 5.: Bekommt ein/e Schüler/in wenig Anerkennung von den Mitschülern/innen oder den Eltern aufgrund seiner LRS, versucht es sich die Anerkennung in einem anderen Bereich zu holen. Für die Analyse ist entscheidend zu wissen, inwiefern dies durch Erfolg gekennzeichnet ist.
Dieses Phänomen läßt sich erneut am Beispiel Peters darstellen. Peter gehört zu den Prügelknaben der Klasse, er muß sich immer wieder beweisen. Wie ich eingangs schon erwähnte kommt es auf dem Schulhof häufig zu Prügeleien. So schlug Christoph Peter ein blaues Auge, was vom Klassenlehrer hinterher mit Strafarbeit für beide geahndet wurde. Am nächsten Tag erzählte Peter, daß er Christoph auf dem Heimweg ,,erstmal richtig eine verpaßt hat".
zu 6.: Ein wichtiger Aspekt zur gezielten Förderung, stellt das Verhalten der Eltern dar. Gehen die Eltern ohne großen Druck auf ihr Kind auszuüben mit dem Problem um, können sie vom Lehrer miteinbezogen werden.
Sind die Eltern übereifrig, kann es zu einer Verschärfung des Problems führen. Im Bezug auf Peter und Sabine kann ich hier nur bedingt Angaben machen. Sabines Eltern sind Herrn Meier kaum bekannt. Peters Eltern hingegen würde ich nach seinen Aussagen mit Vorbehalt als übereifrig einstufen. Sie haben aufgrund der schlechten Noten einen Intelligenztest durchführen lassen, der überdurchschnittlich gut ausgefallen sein soll, was zum Bild von LRS, nach den vorangegangenen Erläuterungen, passen würde. Aufgrund dieses Tests meinen sie ihr Kind gehöre auf ein Gymnasium. Herr Meier hat nicht den Eindruck gehabt, daß sie sich wirklich mit Peters Schwierigkeiten auseinandersetzen, sondern der Gedanke, daß ihr Kind aufs Gymnasium soll, absolute Priorität besitzt. Welchen Druck sie Peter damit aussetzen würden, oder welche Schwierigkeiten er bekommen würde ohne gezielte Förderung, daran scheinen sie nicht zu denken.
Bei Sabine ist klar, daß sie zur Hauptschule geht, und sie freut sich sehr darauf.
zu 7.: Der Feststellung des Leistungsdefizites wird keine primäre Rolle zugewiesen, sie dient der objektiven Beurteilung des Lernverlaufs und Lernerfolges, sowie als Erfolgsrückmeldung für die Schüler/innen.
5. Gezielte Beobachtung und Analyse
,, Das wichtigste pädagogische Instrument der Diagnose von Lernschwierigkeiten ist die kontinuierliche Beobachtung der Schüler/innen im Unterricht (Erfahrung, Intuition)"11 [11 ]
5. 1. Beobachtungsergebnisse Peters und Sabines
Da ich die Lernschwierigkeiten von Peter und Sabine im vorangegangenen Kapitel bereits angeschnitten habe, möchte ich nun versuchen konkrete schriftliche Beispiele anhand von Klassenarbeiten und Übungen zu analysieren.
Daran wie einzelne Wörter geschrieben werden, lassen sich die Schwierigkeiten bereits erkennen.
Auf Probleme in der sprachlichen Durchgliederung deutet das Auslassen von Buchstaben. Bei Peter tritt diese Schwierigkeit verstärkt auf.
- drükt statt drückt
- wolen statt wollen
- schnel statt schnell
- gewonen statt gewonnen
- Fraun statt Frauen (typischer Fehler bei Sabine)
Die richtige Reihenfolge der Buchstaben wird nicht eingehalten. Zu diesem Punkt konnte ich weder bei Sabine noch bei Peter Fehler ausfindig machen, oder zumindest sehr selten. Motorische Schwierigkeiten lassen sich nur schwer erkennen, da die Schüler/innen im allgemeinen früh gelernt haben diese geschickt zu kompensieren.
Das Schriftbild liefert jedoch den besten Aufschluß. Schüler/innen mit motorischen Schwierigkeiten schreiben den gleichen Buchstaben immer anders.
Nach genauer Analyse der Diktate Peters und Sabines kann ich keine großen Unterschiede feststellen. Peters Schriftbild ist insgesamt sehr verworren, während Sabine bemüht ist ordentlich zu schreiben. Auffallend ist aber, daß Sabines Schriftbild bei Hausaufgaben wesentlich besser ist als bei Diktaten. Fehler werden unübersichtlich korrigiert. Diese Tatsachen sind auf Stress und Angst in Prüfungssituationen zurückzuführen. Bei Peter hingegen sieht das Schriftbild grundsätzlich schlecht aus, die Fehler werden sehr unordentlich verbessert.
Der auffälligste Fehler Peters ist die Benutzung des Buchstaben ,,J". Dieser existiert nämlich gar nicht, er schreibt stattdessen immer die Buchstabenfolge ,,CH". Das läßt auf eine gestörte Hörfähigkeit, Lautverarbeitung schließen, denn ,,J" und ,,CH" haben ansonsten keine Ähnlichkeiten, außer der akustischen.
Das Wort ,,blau" schreibt er mit einem D ,,dlau", visuell ähnliche Buchstaben werden hier verwechselt.
Beim Lesen macht er auffallend viele Fehler, die er oft erst verbessert, nachdem er von seinem Tischnachbarn darauf hingewiesen wird. Insgesamt ist sein Lesen durch wortweises Lesen von Sätzen und Texten gekennzeichnet. Ähnlich verhält es sich bei Sabine, die viele Fehler in Wörtern des Grundwortschatzes macht (Muter, esen, entlich).
5. 2. Förderung
Faustregeln für die schrittweise Förderung12 [12 ]
1. Macht der Schüler noch Fehler bei der schriftsprachlichen Durchgliederung, steht am Anfang das Einüben und Automatisieren von Schreibstrategien (z. B. konsequentes Mitsprechen beim Schreiben)
2. Werden bei einfachen Wörtern noch Fehler gemacht, müssen die Übungen im Grundwortschatz eindeutig sein, konsequent durchgeführt und langfristig angelegt werden (Übungen mit der Lernkartei).
3. Kommen keine Fehler aufgrund falscher schriftsprachlicher Durchgliederung und keine Fehler im Grundwortschatz vor, wird der Fehlerschwerpunkt nach folgenden Kategorien analysiert:
a) Dehnung
b) Schärfung
c) Groß-/Kleinschreibung
d) Ableitungen.
Die ersten beiden Fehlerkategorien können am besten durch die Förderung des Schriftsprachgespürs, die beiden letzten durch die Vermittlung von Rechtschreibregeln sowie von Schreib- und Korrekturstrategien bearbeitet werden.
4. Ergeben sich bei der Analyse der Fehler keine spezifischen Kategorien, konzentriert sich die Förderung auf die Erstellung einer individuellen Lernkartei und die Einübung von Schreib- und Kontrollstrategien.
5. 3. Übungsformen
Es gibt viele verschiedene Übungsformen, von denen sich viele aber auch negativ auswirken können. Dazu gehören z. B.:
1. Gegenüberstellen von ähnlich oder gleich klingenden Lauten und ähnlich aussehenden Buchstaben ( tt-t, g-k, d-t, z-tz)
2. Darbietung von Falschschreibungen, in denen die Schüler/innen Fehler suchen sollen (Gans, Appel, Broht)
3. Darbietung nicht richtig gegliederter Wörter:
Rückwärtsschriften
Schachtelwörter (HausgehenKohleApfel)
4. Buchstabenauslassungen und -ergänzungen:
Buchstaben im Wort (W-gen, f-ren)
Buchstaben im Satz (Wir g-en, h-te)
5. 3. 1. Übungen im Grundwortschatz
Die Sicherung der Wörter im Grundwortschatz bildet das Fundament aller Rechtschreibübungen. Um die richtige Schreibung zu lernen gibt es erstens die Möglichkeit der Automatisierung, und zweitens die der Einsicht. Ein minimaler Wortschatz sollte soweit eingeübt werden, daß der Schüler nicht mehr über die Schreibung der Wörter nachzudenken braucht. Es ist dabei sinnvoller, sich auf einige effektive Übungsformen zu beschränken, statt den Schüler durch viele verschiedene Formen zusätzlich zu verunsichern. Ein Wechsel der Übungsform sollte erst dann vollzogen werden, wenn der Schüler die vorherige Übung selbständig durchführen kann.
Es gilt der Leitsatz: ,,Schreiben lernt man nur durch Schreiben"13 [13 ]
Dabei ist zu beachten, daß immer das ganze Wort geschrieben, und daß es mehrmals wiederholt werden muß, bis es sicher beherrscht wird.
Die richtige Schreibweise der Wörter im Grundwortschatz muß zunächst auch bei Peter und Sabine gesichert werden, bevor andere Probleme, wie die Lautverarbeitung bei Peter behoben werden können.
Inwiefern daran in Zukunft gearbeitet werden kann, kann ich nicht beurteilen, aber ich fürchte, daß bei Sabine nur wenig Anstrengungen unternommen werden, sei es seitens der Eltern oder der Lehrer. Peters Eltern scheinen wesentlich motivierter, wahrscheinlich übermotiviert. Beide wechseln im nächsten Schuljahr auf die Hauptschule. Ob sie da gefördert werden ist zu bezweifeln. Den Leistungen in den anderen Fächern nach zu urteilen, denke ich, daß sie dort ihren Weg machen werden. Auf einer anderen Schule wären sie meines Erachtens jedenfalls überfordert, was zu einer noch größeren Frustration führen würde.
1 1 N. Sommer-Stumpenhorst, ,,Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und überwinden", Cornelsen-Scriptor, S.12
2 2 s.o., S. 13
3 3 s.o., S. 18
4 4 N. Sommer-Stumpenhorst, ,,Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten: vorbeugen und überwinden, Cornelsen Scriptor, S. 29
5 5 s.o., S. 23
6 6 s.o., S. 24
7 7 s.o., S. 31
8 8 s.o., S. 31
9 9 s.o., S. 32
10 10 s.o., S. 54
11 11 s.o., S. 57
12 12 s.o., S. 110
Häufig gestellte Fragen
Was ist Legasthenie laut Ranschburg?
Ranschburg definierte Legasthenie im 19. Jahrhundert als eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes. Dies führte dazu, dass Kinder mit Legasthenie lange Zeit als förderbedürftig in Hilfsschulen galten, insbesondere aufgrund mangelnder Lesefertigkeit.
Wie definierte M. Linder Legasthenie und welche Bedeutung hatte ihre Forschung?
M. Linder definierte Legasthenie als Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz. Ihre Forschung, die die Intelligenz von Legasthenikern bestätigte, trug maßgeblich dazu bei, Legastheniker aus ihrer Isolation zu befreien.
Welche Ursachen für Legasthenie wurden untersucht und wie hat sich der Fokus der Forschung verändert?
Frühere Untersuchungen suchten nach Ursachen in der Schulbildung der Eltern, der sozialen Gruppe, der Anzahl der Bücher im Haushalt und anderen sozioökonomischen Faktoren. Der Fokus hat sich jedoch auf die Bekämpfung der Legasthenie verlagert, da die Ursachen bis heute nicht eindeutig geklärt sind. Es werden eher Wege gesucht, wie man Kindern das Lesen und Schreiben beibringen kann.
Was bedeutet der Begriff LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche) und warum wurde er eingeführt?
Der Begriff Legasthenie wurde in den 80er Jahren durch LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche) ersetzt, da keine eindeutige Definition der Legasthenie gefunden werden konnte. LRS umfasst ein breiteres Spektrum von Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, während Legasthenie spezifischer und schwieriger zu definieren war.
Welche Grundvoraussetzungen sind für das Lesen- und Schreibenlernen wichtig?
Grundbedingungen für den Lese- Schreiblernprozeß sind:
- Seh- und Hörfähigkeit
- Gleichgewicht und motorische Koordination
- Entwicklung einer homogenen Lateralitätsstruktur
- integrative Verarbeitung der sensorischen Informationen
- Koordination der Sinne und der Motorik
- Sprache, Sprachverarbeitung und kognitive Sprachanalyse.
Welche Bereiche werden bei der Analyse von Lernschwierigkeiten berücksichtigt (nach Norbert Sommer-Stumpenhorst)?
Norbert Sommer-Stumpenhorst hat folgende Bereiche für die Analyse der Lernschwierigkeiten herausgestellt:
- Lese- und Schreiblernvoraussetzungen
- Schulische Bedingungen
- Lern- und Arbeitsverhalten
- Selbstkonzept und Lernmotivation
- soziale Kompensationen
- Reaktionen der Umwelt
- Leistungsdefizite
Welche Beobachtungen wurden bei den Schülern Peter und Sabine gemacht?
Peter zeigte Schwierigkeiten in der sprachlichen Durchgliederung (Auslassen von Buchstaben) und ein verworrenes Schriftbild. Er verwechselte Buchstaben und benutzte anstelle des Buchstaben J die Buchstabenfolge CH. Sabine hatte Schwierigkeiten mit Wörtern des Grundwortschatzes, und ihr Schriftbild verschlechterte sich in Prüfungssituationen.
Welche Faustregeln gibt es für die schrittweise Förderung bei LRS?
Faustregeln für die schrittweise Förderung:
- Einüben und Automatisieren von Schreibstrategien bei Fehlern in der schriftsprachlichen Durchgliederung.
- Übungen im Grundwortschatz bei Fehlern in einfachen Wörtern.
- Analyse des Fehlerschwerpunkts (Dehnung, Schärfung, Groß-/Kleinschreibung, Ableitungen) bei fortgeschrittenen Schülern.
- Erstellung einer individuellen Lernkartei und Einübung von Schreib- und Kontrollstrategien, wenn keine spezifischen Kategorien erkennbar sind.
Welche Übungsformen sind bei LRS eher kontraproduktiv?
Einige Übungsformen, die sich negativ auswirken können sind:
- Gegenüberstellen von ähnlich oder gleich klingenden Lauten und ähnlich aussehenden Buchstaben
- Darbietung von Falschschreibungen, in denen die Schüler/innen Fehler suchen sollen
- Darbietung nicht richtig gegliederter Wörter
- Buchstabenauslassungen und -ergänzungen
- Quote paper
- Anonym (Author), 2001, Lese- und Rechtschreibschwäche, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100503