Thema der vorliegenden Arbeit ist die Übergangsbegleitung von Kindern und Jugendlichen aus der geschlossenen Unterbringung in Folgeangebote der Kinder und Jugendhilfe nach dem SGB VIII. In der Jugendphase haben Kinder und Jugendliche eine Vielzahl an Herausforderungen zu meistern, für die sie sich Bewältigungsstrategien im Laufe ihres Lebens aneignen mussten. Übergänge sind Bestandteil des Lebens, jedoch im Kontext der geschlossenen Unterbringung von besonderer Bedeutung. Kinder und Jugendliche, die geschlossen untergebracht sind, weisen eine hohe psychische Belastung auf, sodass der Übergang aus dem geschützten Kontext der geschlossenen Unterbringung als nicht zu bewältigende Belastung empfunden wird und vorherige mühsam aufgebaute Verhaltensänderungen verworfen werden.
Neben einer Literaturanalyse zur geschlossenen Heimerziehung und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft an die Kinder und Jugendlichen, bildet die Frage, wie ein gelingender Übergang aus der geschlossenen Unterbringung konzeptionell gestaltet sein muss und welche Kompetenzen die Jugendlichen benötigen, um diesen Prozess der Ablösung und Integration in die Zeit nach der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bewältigen, den Ausgangspunkt der Arbeit. Aufschluss hierüber geben qualitative Experteninterviews mit Einrichtungsleitern von Jugendhilfeeinrichtungen mit geschlossener Unterbringung. In den Interviews wird die aktuelle Übergangssituation aus der geschlossenen Unterbringung beschrieben, sowie die Wirkung und die Grenzen der intensiven Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen dargestellt.
Darauf aufbauend werden strukturelle und konzeptionelle Anforderungen an die Folgeeinrichtung dargestellt und die wichtigsten Kompetenzen, die die Jugendlichen für den erfolgreichen Übergang in eine neue Gruppe benötigen. Als letzter Punkt wird die momentane sozialpolitische Lage diskutiert und die Repressalien, die es zu Gunsten der Jugendlichen zu ändern gilt. Auf den Untersuchungsergebnissen aufbauend werden Empfehlungen für die konzeptionelle Gestaltung des Übergangs seitens der geschlossenen Unterbringung und der Folgeeinrichtung formuliert, die in einem Schlusswort münden.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe
2.1 Was ist eine geschlossene Unterbringung?
2.2 Geschlossene Unterbringung in Zahlen
2.3 Öffentliche Debatte
2.3.1 Geschichte der (geschlossenen) Heimerziehung
2.3.2 Ablehnende Haltung
2.3.3 Befürwortende Haltung
2.4 Zusammenfassende Darstellung
3. Jugend in einer modernen Gesellschaft
3.1 Übergangsbewältigung als zentraler Bestandteil des Lebens
3.2 Entwicklungsaufgaben in der Jugendphase
3.3 Psychische Gesundheit bei Personen in Übergangsphasen - Das Modell der Salutogenese
3.4 Zusammenfassende Darstellung
4. Schwer belastete Jugendliche in freiheitsentziehenden Maßnahmen
4.1. Jugendliche die Systeme sprengen
4.2. Verhalten von traumatisierten Kindern und Jugendlichen
4.3. Wie können Jugendliche erreicht werden?
4.4 Zusammenfassende Darstellung
5. Forschungsdesign und -konzept
5.1 Forschungsfrage und aktueller Forschungsstand
5.2 Methodisches Vorgehen
5.3 Interviewleitfaden und Durchführung der Interviews
5.4 Auswertungsmethode
6 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
6.1 Übergangssituation in geschlossener Unterbringung
6.2 Wirkung der geschlossenen Unterbringung
6.3 Struktur der Folgeeinrichtung
6.4 Schlüsselkompetenzen
6.5 Anforderungen für eine gelingende Übergangsgestaltung
7. Konzeptionelle Konsequenzen für die Praxis
7.1 Übergangsplanung und -begleitung der geschlossenen Unterbringung
7.2 Kompetenzstärkung der Kinder und Jugendlichen aus geschlossener Unterbringung
7.3 Anforderungen an die Folgeeinrichtung
7.4 Steuerungsverantwortung der Jugendämter
8. Schlusswort
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Übersicht über die einfachen und erweiterten Transkriptionsregeln nach Dresing/Pehl
2 Standards des GU14+ e.V
3 Kategoriensystem der Forschungsarbeit
4 Interview Frau M
5 Interview Herr W
Abstract
Thema der vorliegenden Arbeit ist die Übergangsbegleitung von Kindern und Jugendlichen aus der geschlossenen Unterbringung in Folgeangebote der Kinder und Jugendhilfe nach dem SGB VIII. In der Jugendphase haben Kinder und Jugendliche eine Vielzahl an Herausforderungen zu meistern, für die sie sich Bewältigungsstrategien im Laufe ihres Lebens aneignen mussten. Übergänge sind Bestandteil des Lebens, jedoch im Kontext der geschlossenen Unterbringung von besonderer Bedeutung. Kinder und Jugendliche, die geschlossen untergebracht sind, weisen eine hohe psychische Belastung auf, sodass der Übergang aus dem geschützten Kontext der geschlossenen Unterbringung als nicht zu bewältigende Belastung empfunden wird und vorherige mühsam aufgebaute Verhaltensänderungen verworfen werden. Neben einer Literaturanalyse zur geschlossenen Heimerziehung und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft an die Kinder und Jugendlichen, bildet die Frage, wie ein gelingender Übergang aus der geschlossenen Unterbringung konzeptionell gestaltet sein muss und welche Kompetenzen die Jugendlichen benötigen, um diesen Prozess der Ablösung und Integration in die Zeit nach der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bewältigen, den Ausgangspunkt der Arbeit. Aufschluss hierüber geben qualitative Experteninterviews mit Einrichtungsleitern von Jugendhilfeeinrichtungen mit geschlossener Unterbringung. In den Interviews wird die aktuelle Übergangssituation aus der geschlossenen Unterbringung beschrieben, sowie die Wirkung und die Grenzen der intensiven Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen dargestellt. Darauf aufbauend werden strukturelle und konzeptionelle Anforderungen an die Folgeeinrichtung dargestellt und die wichtigsten Kompetenzen, die die Jugendlichen für den erfolgreichen Übergang in eine neue Gruppe benötigen. Als letzter Punkt wird die momentane sozialpolitische Lage diskutiert und die Repressalien, die es zu Gunsten der Jugendlichen zu ändern gilt. Auf den Untersuchungsergebnissen aufbauend werden Empfehlungen für die konzeptionelle Gestaltung des Übergangs seitens der geschlossenen Unterbringung und der Folgeeinrichtung formuliert, die in einem Schlusswort münden.
Schlüsselwörter: geschlossene Unterbringung, Übergangsmanagement, Konzeption, psychische Belastung, Kompetenzen
Abstract
The topic of the piece of work in hand is the transitional support of children and adolescents out of the closed accommodation in follow-up offers of the child and youth welfare according to SGB VII. Children and adolescents have to master many challanges in the juvenile phases, for which they had to acquire coping strategies in theire entire life. Transitions are part of life, but in context of the closed accommodation they have a special significance. Children and adolesents in closed accommodation exhibit high psychological stress, and the transition out of the protected setting of the closed accommodation lead to a feeling of a impossible burden, and previous laborious constructed behavioural changes will be dropped. Along with a literature analysis on the topic of closed accommodation and the requirements of a modern society to children and adolenscents, the question even focus how a successfull transition out of the closed accommodation has to be concepted and which competences the adolenscents require to solve the process of letting go and integration in the period following the closed accommodation. Such informations can be found by qualitative expert interviews with heads of institutions of closed accommodation. The interviews give an overview of the current transitional support out oft the closed accommodation and the effects and limits of the intensive work with the children and adolescents. On this basis the structural und conceptional requirements for the following instituition will be represent and the most important competences for a successfull transition to a new group for the children and adolescents. As a last resort the actual sociopolitical situation will be discussed and the reprisals which need to be changed in favour of the young people. Building on the examination results, recommanda- tions for the conceptional design of the transition for the closed accommodation an the following institutions are given, that lead to the final word.
Key words: closed accommodation, transitional management, conception, psychological stress, competences
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Heimerziehung Statistik
Tabelle 2: Leitfaden Experteninterview
Abbildung 1: Geschlossene Unterbringung Plätze
Abbildung 2: Entwicklungsaufgaben
Abbildung 3: Kriminalität im Altersverlauf
Abbildung 4: Salutogenetisches Modell
Abbildung 5: Psychische Belastung von Heimkindern
Abbildung 6: Reaktionskette in der „Eskalation der Hilfen"
Abbildung 7: Erfahrungen von Missbrauch und Vernachlässigung
Abbildung 8: Window of Tolerance
Abbildung 9: Verläufe psychischer Belastung
Abbildung 10: Beendigung der geschlossenen Unterbringung
1. Einleitung
Freiheitsentziehende Maßnahmen stellen im Gesamtspektrum des Angebotes der Kinder- und Jugendhilfe eher eine marginale Rolle dar, da diese eher im Sonderfall mit beispielsweise 59 Plätzen in Baden-Württemberg (vgl. Hoops, 2018, S. 12) vertreten sind. Nichtsdestotrotz führt das Thema Geschlossene Unterbringung wie kein anderes zu heftigen Polarisierungen in der Jugendhilfe. Der in den letzten Jahren zu verzeichnende weitere Ausbau der geschlossenen Einrichtungen führt zu immer wiederkehrenden Diskussionen, die jedoch aufgrund eingefahrener Grundsatzdiskussionen eine sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik nicht ermöglichen (vgl. Sülzle-Temme, 2007, S. 2). „Was unter GU zu verstehen ist, was sie möglicherweise zu leisten vermag und wo sie ihre Grenzen hat" (Baur et al., 1998, S. 29) bleibt dabei unbeachtet.
In den Medien wird sie als schnelle Lösung für gewalttätige, kriminelle und besonders schwierige Jugendliche deklariert (vgl. Lutz/Wiedemann, 2010). Denn in unserer modernen Gesellschaft besteht die Problematik, „dass eine zwar geringe, aber doch die gesellschaftlichen Hilfesysteme sehr beschäftigende Anzahl junger Menschen zwischen den unterschiedlichen Systemen der Sozialen Arbeit, der Justiz, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Straße hin- und herpendelt, ohne dabei irgendwelchen Interventionen zugänglich zu sein" (Baumann, 2014, S.162). Diese jungen Menschen schädigen sich und andere massiv und nehmen daraus entstehende Nachteile für ihre Person bewusst oder unbewusst in Kauf (vgl. Discher/Schimke, 2015, S. 264). Geschlossene Unterbringung soll hier das geeignete und letzte Mittel zur Erreichung von Erziehungszielen darstellen. Diese orientiert sich allerdings nicht ausschließlich an den oberflächlichen Symptomen (kriminell, gewalttätig, verhaltensgestört), sondern knüpft viel mehr an der Subjektivität und der persönlichen Lebensbiografie der Kinder und Jugendlichen an, um Hilfs- und Unterstützungsangebote zu initiieren, die mit viel Geduld und Verständnis auf die Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen eingehen (vgl. ebd.). Dabei stellt sich die Frage, an welchen Aufgaben und Anforderungen diese als besonders schwierig und kriminell bezeichneten Jugendlichen scheitern. In der Jugendphase haben Kinder und Jugendliche eine Vielzahl an Herausforderungen zu meistern, für die sie sich Bewältigungsstrategien im Laufe ihres Lebens aneignen mussten. Übergänge sind Bestandteil des Lebens, jedoch im Kontext der geschlossenen Unterbringung von besonderer Bedeutung. Kinder und Jugendliche, die geschlossen untergebracht sind, weisen eine hohe psychische Belastung auf, sodass der Übergang aus dem geschützten Kontext der geschlossenen Unterbringung als nicht zu bewältigende Belastung empfunden werden kann und vorherige, mühsam aufgebaute Verhaltensänderungen, verworfen werden. Insofern die geschlossene Unterbringung diesen besonders belasteten Kindern und Jugendlichen Unterstützung, Halt und Vertrauen entgegenbringen und sie auf ihrem Lebensweg stabilisieren konnte, ist fraglich, wie diese beim Übergang unterstützt werden können, sodass der positive Erfolg weiter getragen werden kann. Übergänge zwischen den Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe erfahren in der momentanen Hilfelandschaft wenig Beachtung sowohl konzeptionell als auch seitens des pädagogischen Personals, obwohl diese eine erhebliche Belastung für Kinder und Jugendliche darstellen. Daher ist die forschungsleitende Fragestellung: Wie muss ein gelingender Übergang aus einer geschlossenen Unterbringung konzeptionell gestaltet sein und welche Kompetenzen benötigen die Jugendlichen, um diesen Prozess der Ablösung und Integration in die Zeit nach der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bewältigen?
In einem ersten Schritt (Kapitel 2) wird hierfür die Geschlossene Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe definiert und inklusive der aktuellen Rechtsnormen und Fallzahlen beschrieben. Darauf aufbauend wird die Fachdebatte zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Kinder und Jugendhilfe skizziert, welche mit der geschichtlichen Entstehung freiheitsentziehender Maßnahmen beginnt und die ablehnende und befürwortende Haltung darstellt. Hierbei wird anlehnend an Baur et al. (1998) herausgearbeitet, was unter geschlossener Unterbringung zu verstehen ist und was sie zu leisten vermag.
Anknüpfend hieran werden im dritten Kapitel dieser Forschungsarbeit theoretische Vorüberlegungen getroffen, die die psychische Belastung von Jugendlichen und die Anforderungen im Kontext einer modernisierten Gesellschaft betreffen, um ein Verständnis für die Lebenslagen und die daraus entstehenden Lebensmuster zu erhalten. Dabei wird die Übergangsbewältigung von Kindergarten in Schule oder von Schule in den Beruf als zentraler Bestandteil des Lebens herausgestellt, der im Kern zu den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen gehört. Der Wechsel von einem zum nächsten Zustand verlangt von den Individuen enorme Bewältigungsfähigkeiten und Problemlösestrategien. Die Fähigkeit eines Menschen, Übergänge positiv zu gestalten und diese als verstehbare, handhabbare und sinnhafte Prozesse anzusehen, wird im Modell der Salutogenese näher beleuchtet.
Nachdem im Kapitel 3 die Anforderungen an die Jugend und die Fähigkeiten, die sie benötigen, dargestellt wird, beschäftigt sich das Kapitel 4 mit den Kindern und Jugendlichen, die in Freiheitsentziehenden Maßnahmen untergebracht sind. Es wird dabei dargestellt, wie hoch die psychische Belastung dieser Kinder und Jugendlichen ist, sodass Übergänge aufgrund fehlender Ressourcen als große Herausforderungen anzusehen sind. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob es sich bei diesem schwierigen Klientel tatsächlich um Systemsprenger handelt oder um verhaltensoriginelle Menschen und wie diese in einer geschlossenen Unterbringung erreicht werden können. Hierbei wird die Notwendigkeit einer konzeptionellen Verankerung für die Übergangsbegleitung herausgestellt, welche im Empirieteil dieser Arbeit herausgearbeitet wird.
Der Empirieteil (Kapitel 5) startet mit der Entwicklung der Fragestellung und der aktuellen Forschungslage zum Thema Übergangsmanagement in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Daraufhin wird das methodische Vorgehen mit Darstellung des Interviewleitfadens und der Durchführung der Interviews, sowie der Auswertungsmethode konzipiert. Daran anknüpfend werden im Kapitel 6 die Ergebnisse der Auswertung dargestellt, die sich in fünf Unterkategorien gliedern, welche in die konzeptionellen Konsequenzen für die Praxis im Kapitel 7 münden. Hierbei werden die Ergebnisse der Interviews mit dem vorherigen theoretischen Ausführungen verknüpft und zu einem konzeptionellen Gesamtkonzept für das Übergangsmanagement aus freiheitsentziehenden Maßnahmen zusammengeführt.
2. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe
2.1 Was ist eine geschlossene Unterbringung?
Die geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe ist keine klar definierte Maßnahme, da die Ausgestaltung der geschlossenen Heimerziehung von den Konzeptionen und dem pädagogisch-therapeutischem Verständnis der einzelnen Institutionen abhängt (vgl. Wolffersdorff et al., 1996, S.58). Grundsätzlich ist eine geschlossene Unterbringung unter der gleichen Rechtsnorm (34 SGB VIII) angesiedelt, wie auch andere Formen der stationären Heimerziehung. Das Charakteristikum der heutigen Heimerziehung ist eine große Vielfalt an Unterbringungsund Betreuungsformen (umfassende Ausführungen hierzu bei Freigang und Wolf 2001), sodass der Begriff der Heimerziehung für einige Autoren1 nur 1 noch ein „pauschaler Sammelbegriff" (Bürger, 1999, S. 60) ist.
Die geschlossene Unterbringung unterscheidet sich von anderen Formen der Heimerziehung durch ihren freiheitsentziehenden Charakter. Sie ist das äußerste Mittel zur Erreichung von Erziehungszielen (,ultima ratio‘) und sollte daher erst erfolgen, wenn andere weniger belastende Maßnahmen ausgeschöpft sind (Ger- ken, 1982, S. 123). So folgt die Geschlossene Unterbringung, als ,ultima ratio‘, einer Kette von gescheiterten Hilfen im ambulanten, teilstationären und stationären Setting. Nicht selten haben die Kinder- und Jugendlichen (in dieser Arbeit wird von Kindern und Jugendlichen nach §7 SGB VIII gesprochen), die in einer freiheitsentziehenden Maßnahme untergebracht werden, eine lange Jugendhilfekarriere mit vielfach gescheiterten erzieherischen Hilfeangeboten, sowie ambulanter psychologischer und psychiatrischer Behandlung/Therapie sowie stationärer Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich. In Studien von Baur et al. (1998, S. 304 ff.) und Blandow et al. (1989, S.179) wird von einer Jugendhilfekarriere ausgegangen, sobald drei oder mehr Hilfen vor der geschlossenen Heimunterbringung stattfanden. Auch Jenkel und Schmid (2018a, S. 356) bestätigen, dass 87% der Kinder und Jugendlichen in der durchgeführten Studie mindestens eine offene stationäre Maßnahme durchlaufen haben. 42% der Stichprobe haben sogar drei oder mehr Platzierungen hinter sich. 73% wurden zudem stationär in der Psychiatrie aufgenommen und 78% hatten vor der Aufnahme in die geschlossene Unterbringung eine ambulante therapeutische Behandlung.
Ein weiteres bedeutsames und kontrovers diskutiertes Merkmal der Geschlossenen Unterbringung ist der Freiheitsentzug. Dieser ist nach Lindenberg (2010) immer dann gegeben, wenn
1. „Eine Person gegen ihren Willen in der persönlichen Freiheit eingeschränkt wird;
2. Dauer und Stärke der Geschlossenheit das Ausmaß altersgemäßer Beschränkung überschreitet;
3. Kinder/Jugendliche auf einen bestimmten Raum festgehalten werden;
4. Der Aufenthalt (ständig) überwacht und der Kontakt mit Personen außerhalb des Raumes verhindert wird" (S.557).
Freiheitsentzug in diesem Sinne ist somit gegeben, wenn Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren gegen ihren Willen in einer freiheitsentziehenden Maßnahme untergebracht werden. Diese beschränkt die Kinder und Jugendlichen für einen längeren Zeitraum, der über das Maß altersentsprechender Begrenzungen hinaus geht, mit Hilfe spezifischer Eingrenzungsvorrichtungen in ihrer persönlichen Freiheit und verhindert hierdurch Kontakte in die Außenwelt.
Geplant und veranlasst wird die geschlossene Unterbringung durch das zuständige Jugendamt auf Antrag der Personensorgeberechtigten im Kontext der individuellen Hilfeplanung nach §36 SGB VIII. Da das SGB VIII jedoch kein Strafgesetzbuch ist und die Jugendhilfe ausdrücklich nicht darauf hinführt Straffälligkeit zu verhindern, gibt es keine Rechtsnorm für den Freiheitsentzug. Hingegen wird bestimmt, dass der junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat, sowie dazu beigetragen werden soll, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu schaffen (§1 SGB VIII). Lediglich im §42 SGB VIII, der Inobhutnahme, ist aufgrund der drohenden Kindeswohlgefährdung, also einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder Dritter, ein solcher Freiheitsentzug legitimiert. Seit 2008 wird daher das Familiengericht hinzugezogen, das auf Grundlage des §1631 b BGB entscheidet, ob die geschlossene Unterbringung „zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann": Die Kommission des Elften Kinder- und Jugendberichtes unterstützt dies und besagt, dass „allein akute Selbst- und Fremdgefährdung ausschlaggebende Gründe [für die Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßnahme d. Verf.] sei[e]n. Voraussetzung ist also, dass Gefahr für Leib und Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen oder dritter Personen vorlieg[e]. Die Gefährdung anderer Rechtgüter (Eigentum, öffentliche Ordnung etc.) reich[e] nicht als Einweisungsgrund aus" (BMFSFJ, 2002, S. 240). Zudem muss die Unterbringung geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das bedeutet konkret, dass das Erziehungsziel nur durch eine geschlossene Unterbringung erreicht werden kann und es kein milderes Mittel zur Abwendung der Selbst- und Fremdgefährdung gibt (vgl. Oelkers et al., 2013, S. 164).
Kinder sind Inhaber von Grundrechten, die durch das Grundgesetz und die UNKinderrechtskonvention geschützt werden. Freiheitsentzug ist Zwang, der dieses Grundrecht tangiert, sodass die Anordnung zur Freiheitsentziehung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes verhängt werden darf. Voraussetzungen hierfür sind zum einen
- der Antrag auf Hilfen zur Erziehung nach §§27, 34 SGB VIII durch die Personensorgeberechtigten
- die Bestellung eines Verfahrenspflegers zur Vertretung der Interessen des Kindes, da die geschlossene Unterbringung einen weitreichenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Kindes/Jugendlichen darstellt nach §158 FamFG
- die Anhörung des Jugendamtes, der Eltern und des Kindes (ab 14 Jahren) nach §§159, 160, 162 FamFG
- sowie die Bestellung eines jugendpsychiatrischen Sachverständigengutachtens nach §163 FamFG.
Die Unterbringungsgenehmigung des anhörenden Richters darf nach Abhandlung aller benannter Verfahrensrichtlinien in der Regel ein Jahr nicht überschreiten. Die Geschlossene Unterbringung muss demnach auch beendet werden, wenn das Wohl des Kindes nicht mehr gefährdet ist (vgl. Lindenberg, 2018a, S. 747). In der Praxis, so stellten Hoops und Permien in ihrer Studie „"Mildere Maßnahmen sind nicht möglich!" Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie“ im Jahr 2006 fest, werden diese Verfahrensrichtlinien jedoch selten, wenn gar nicht beachtet. So wurde für 40% der untergebrachten Jugendlichen kein Verfahrenspfleger bestellt und auch das gesetzlich vorgeschriebene jugendpsychiatrische Gutachten lag nur bei 50% der Fälle vor. Um diese Missstände adäquat anzugehen und diese abzuschaffen, hat sich der Arbeitskreis GU14+im Jahr 2007 aus vierzehn Leitungskräften von Jugendhilfeeinrichtungen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen zusammengeschlossen und Standards (siehe Anhang) entwickelt, in denen neben pädagogisch-therapeutischen, diagnostischen, schulischen und personellen Richtlinien eben auch diese rechtlichen Verfahrensrichtlinien konkret aufgeführt werden und erfüllt werden müssen, bevor ein Kind/Jugendlicher aufgenommen wird. Der Ar- beitskreis2 verspricht sich hiervon eine qualitative Sicherung und Stabilisierung von geschlossener Unterbringung als gelingender Jugendhilfepraxis, wodurch Machtmissbrauch bereits konzeptionell entgegengewirkt werden kann.2
Da es nicht „die“ geschlossene Unterbringung gibt, genauso wenig wie es „die“ Heimerziehung gibt (vgl. Thiersch, 1994, S. 272), hängt das Ausmaß an Freiheitsentzug, Kontrolle und Überwachung stark von der Konzeption der jeweiligen Einrichtung ab. Die geschlossene Heimerziehung stellt sich „in der Praxis [somit d. Verf.] keineswegs als klar umrissene Maßnahme mit eindeutigen Definitionskriterien dar“ (Wolffersdorff et al., 1996, S.58). Grundsätzlich ist Geschlossenheit kein pädagogisches Konzept, sondern wie Pankofer (1994, S. 53) treffend beschreibt, erst einmal eine bauliche Gegebenheit. Sie ist dadurch gekennzeichnet, „dass besondere Eingrenzungs- und Abschließvorrichtungen oder andere Sicherungsmaßnahmen vorhanden sind, um ein Entweichen, also ein unerlaubtes Verlassen des abgeschlossenen oder gesicherten Bereiches zu erschweren oder zu verhindern und die Anwesenheit des Jugendlichen für die notwendige pädagogisch therapeutische Arbeit mit ihm sicherzustellen.“ (Anlage zur Niederschrift der Sitzung der gemeinsamen Kommission vom 16./17.2.1982 zit. n. Wolffersdorff et al., 1996, S. 21). Die Bandbreite vom Verständnis der Geschlossenheit reicht dabei von einem bewusst minimal gehaltenen Aufwand an baulichen Sicherungen bis hin zu vielfältigen Sicherheitstechnologien wie zum Beispiel Kameras, Bewegungsmeldern; Zäune, Schließvorrichtungen u.v.m.. Jedoch benötigt es nach Katrin Weiss nicht zwangsläufig Mauern und Zäune, um Jugendlichen die Freiheit zu entziehen, denn „eine Einrichtung [ist] auch dann [geschlossen], wenn sie durch weite Entfernung die Kontaktaufnahme mit anderen unmöglich macht“ (1999, S. 890). Einrichtungen, die ländlich gelegen sind und die aufgrund fehlender Busverbindungen das Verlassen des Ortes und der Einrichtung verhindern, entsprechen damit dem Verständnis von geschlossener Unterbringung.
In der Regel baut die geschlossene Unterbringung auf einem Stufenkonzept auf, welches sich an dem in den siebziger Jahren entstandenen Konzept der „individuellen Geschlossenheit“ orientiert. Hierbei gibt es im Rahmen eines Stufenmodells eine schrittweise Lockerung der Geschlossenheit, abhängig von den Fortschritten der Jugendlichen. „Der Grad der Einschließung und der vom Personal definierte Erfolg ihrer pädagogisch-therapeutischen Tätigkeit werden damit in einen aufeinander bezogenen Zusammenhang gebracht“ (Lindenberg, 2018b, S. 163). Dabei sind bei Fehlverhalten auch Rückstufungen möglich. Aufgrund der sukzessiven Lockerung des Freiheitsentzuges sprechen Hoops und Permien (2006) in ihrer Studie konsequent von teilgeschlossener Unterbringung. Der Begriff der Geschlossenen Unterbringung wird auch in der fachlichen Diskussion als unzureichende Bezeichnung für die bestehenden Konzepte erachtet, sodass der Terminus durch freiheitsentziehende Maßnahmen ersetzt werden soll. Dieser wird „den verschiedenen Graden der Geschlossenheit im Rahmen von Stufenmodellen besser gerecht [.] als der Begriff geschlossene Unterbringung‘, der einen Dauereinschluss suggeriert, den es in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie nicht gibt“ (Hoops/Permien, 2006, S. 11). In dieser Arbeit werden die Begriffe geschlossene Unterbringung‘ und /freiheitsentziehende Maßnahme‘ synonym verwendet, da auch in der heutigen Jugendhilfelandschaft, sowie in den einzelnen Einrichtungen beide Termini verwendet werden.
2.2 Geschlossene Unterbringung in Zahlen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die geschlossene Unterbringung ist als eigen- Außerhalb des Elternhauses1 ständige Hilfeform im SGB VIII nicht vorgesehen, Art der Hilfen, nach Jahren sodass keine regelmäßigen und bundesweit übergreifenden Statistiken des Bundesamtes für Statistik für diese Praxis existieren. Die vorliegenden Zahlen beruhen daher auf gesonderten Abfragen des DJI, die fehlerbehaftet sein können.
Die geschlossene Unterbringung ist eine Form der „Heimerziehung oder sonstigen betreuten Wohnform" nach dem §34 SGB VIII. Die Gesamtfallzahlen der Heimerziehung sanken im Verlauf von 1995 mit ca. 70.000 bis 2007 auf ca. 53,000 Fälle ab und steigen seither kontinuierlich an. Im Jahr 2017 waren bereits ca. 96.500 junge Menschen in einer stationären Jugendhilfemaßnahme untergebracht, was unter anderem auf Tabelle 1: Heimerziehung Statistik die Flüchtlingswelle im Jahr 2015 und einer gro- (in Anlehnung an www.de^ati^e) ßen Anzahl an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zurückzuführen ist (vgl. BumF, 2016, S. 3). Die Platzzahlen für Geschlossene Unterbringung lagen 2007 bei 279 Plätzen und stiegen im Jahr 2011 auf 368 Plätze an. Das DJI erhebt und aktualisiert laufend nach der Studie EE:5 von Hoops und Permien im Jahr 2006 die Platzzahlen für Einrichtungen mit Freiheitsentziehenden Maßnahmen. Hoops und Permien (2006) erläutern, dass die steigenden Platz- und Einrichtungszahlen in den letzten Jahren dadurch zu begründen sein könnten, dass aufgrund der fließenden Übergänge zwischen offen, fakultativ geschlossen und geschlossenen Maßnahmen vereinzelt neue Institutionen entdeckt werden, die freiheitsentziehend unterbringen. Demnach sind die Platz- und Einrichtungszahlen nicht abschließend zu betrachten. Im Januar 2018 bestanden in 8 Bundesländern insgesamt 26 Einrichtungen mit der Möglichkeit zur Geschlossenen Unterbringung (Hoops, 2018, S. 12). Diese Einrichtungen bieten insgesamt 301 Plätze an, davon 154 Plätze für Jungen, 90 Plätze für Mädchen und 57 Plätze koedukativ. Dabei sind Bayern mit 124 Plätzen, Nordrhein-Westfalen mit 70 Plätzen und Baden-Württemberg mit 59 Plätzen am stärksten vertreten. Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg Vorpommern, Schleswig-Holstein und das Saarland bieten keinerlei Plätze mit Freiheitsentzug an. Das bedeutet allerdings nicht, dass die dortigen Jugendämter nicht in anliegenden Bundesländern und Einrichtungen Anfragen für geschlossene Unterbringung stellen. So konstatiert Hillmeier (2004, S. 2) keine Belegungsprobleme für 3 bayrische Einrichtungen und betont eine große Nachfrage nach geschlossener Unterbringung. Auch Kirsten Sülzle-Temme (2007, S. 11) spricht von einem Ausbau geschlossener Einrichtungen in den letzten Jahren, wobei dies nichts über die Frequentierung der Plätze aussagt. Das Statistische Bundesamt belegt zwischen den Jahren 2008 (974) und 2015 (1469) eine ansteigende Zahl an andauernden Hilfen zur Erziehung mit richterlicher Genehmigung nach § 1631 b BGB für §§34, 35 SGB VIII, wonach ein Zuwachs von ca. 50% zu verzeichnen ist (vgl. Deutscher Bundestag, 2017, S. 4). Zu beachten ist, dass diese Zahlen keine Rückschlüsse darauf geben, inwiefern von einer gerichtlich erteilten Genehmigung Gebrauch gemacht wurde, sowie eine Aufschlüsselung nach ausschließlich geschlossener Unterbringung nach §34 SGB VIII nicht möglich ist. Trotz dessen zeigt auch der Anstieg an zur Verfügung stehenden Plätzen (aktuell 301) in den vergangenen Jahren den steigenden Bedarf an geschlossener Unterbringung. Im Verhältnis zur Gesamtfallzahl an Hilfen zur Erziehung nach §34 SGB VIII handelt es sich hierbei um einen Anteil von 0,3 Prozent an Kindern und Jugendlichen, die in einer freiheitsentziehenden Maßnahme untergebracht werden. Winkler (2003, S. 232) spricht in diesem Zusammenhang von einem ,Sonderfall statistischer Irrelevanz‘. Trotz dessen ist das Thema geschlossene Unterbringung auch in der heutigen öffentlichen Fachdebatte immer noch kontrovers diskutiert und emotional aufgeladen. Hierbei wird vorrangig die Grundsatzdiskussion geführt, ob Zwang ein Teil der Erziehung sein kann und darf.
2.3 Öffentliche Debatte
2.3.1 Geschichte der (geschlossenen) Heimerziehung
Um ein Verständnis des gegenwärtigen Fachdiskurses über freiheitsentziehende Maßnahmen zu erhalten und die dabei kontrovers geführte Diskussion verfolgen zu können, bedarf es eines Blickes auf den historischen Kontext der Heimerziehung.
In der Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges wurden vermehrt so genannte Fürsorgeheime erbaut, die in ländlicher Abgeschiedenheit lagen und die dort lebenden Kinder und Jugendlichen gewissermaßen von der Gesellschaft fernhielten (vgl. Wensierski, 2007). In diesen Fürsorgeheimen wurden Kinder und Jugendliche aus überwiegend sozial schwachen Familien von meist unausgebildeten Erziehern betreut, die als schwierig, missraten, besonders verhaltensauffällig und gefährdet galten (vgl. Brosch, 1971, S. 36). Es herrschten ausdifferenzierte Strafsysteme bei Fehlverhalten, autoritäre Erziehungskonzeptionen, die von Misshandlungen, Erniedrigungen und menschenunwürdigen Methoden geprägt waren (vgl. Bürger, 2001, S. 634). Es bestand für jeden eine tägliche Arbeitspflicht bspw. in dort angegliederten Wäschereien oder Torfstechereien. Dies geschah weit weg von jeglicher gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, und diente nicht dem Wohl des Kindes, sondern war eher am Ordnungsgedanken orientiert (vgl. Lindenberg, 2018b, S. 162).
Die in den 60iger Jahren aufkeimende Studentenbewegung lehnte sich zu Beginn vorrangig gegen alte verkrustete Strukturen im Bildungssystem auf und wollte die Gesellschaft von tradierten Autoritäten, Grundwerten und Erziehungsprinzipien „befreien" (vgl. Morsey, 1995, S. 107). Mit der Staffelberg-Kampagne im Frühjahr 1969 keimte die erste Kritik an den Fürsorgeheimen auf (vgl. Bürger, 2001, S. 636). Der Besuch von Studenten im ehemaligem Fürsorgeheim Staffelberg führte bei diesen zu einer großen Bestürzung und Erschütterung über die dortigen Zustände, sodass diese in der Nacht die Kinder aus den Heimen befreiten und in ihre Familien brachten. Aus dieser Bewegung heraus entstand die Heimkampagne, die sich dadurch begründete, dass die Fürsorgeheime durch „gefängnisähnliche Isolation und Einsperrung, miese Berufsausbildung, autoritäre Erziehungsmethoden, Entzug von Grundrechten und psychische Zerstörung der Insassen [geprägt waren d.Verf.]" (Brosch, 1971. S. 7). Die Situation der Fürsorgeheime wurde so erstmals in das mediale und öffentliche Bewusstsein transportiert, welche die Träger und Einrichtungen zum Handeln zwangen (vgl. Brosch, 1971, S. 93ff.). Der Aufschrei der Studenten führte in der Folge zu einer fachlichen Reformdiskussion über die Entwicklung von Alternativen für einen Freiheitsentzug in Heimen. Als Ergebnis dieser Diskussion wurde schlussendlich im Jahr 1990 das SGB VIII verabschiedet, das ,Geschlossene Unterbringung‘ nicht vorsieht (vgl. Lindenberg, 2018b, S. 163). Parallel verliefen in den 80iger und 90iger Jahren fachlich begründete Schließungen der vorhandenen geschlossenen Unterbringungen, und der Ausbau von Wohngruppen und ambulanten Formen der Kinder- und Jugendhilfe wurde vorangetrieben (vgl. ebd). So äußerte das Bundesjugendkuratorium 1982, dass es „keine pädagogische Rechtfertigung für eine geschlossene Unterbringung in Heimen der öffentlichen Erziehung" (S. 82) gebe.
Nach einem historischen Tiefstand 1998 von 84 ausgewiesenen Plätzen für freiheitsentziehende Maßnahmen schien die geschlossene Unterbringung‘ ein Auslaufmodell zu sein (vgl. Peters, 2016, S. 2). In den 90iger bis 2000er Jahren fand jedoch eine verdeckte Praxis von freiheitsentziehenden Maßnahmen statt (vgl. Lindenberg, 2018b, S. 164). So gab es in verschiedenen Heimeinrichtungen immer wieder Mischformen und Grauzonen des verdeckten Freiheitsentzugs in vorbehaltlich offenen Wohngruppen (bspw. Time-Out-Räume/-Zeiten, diverse Spezialgruppen mit der Möglichkeit des fakultativen Einschlusses). „Bei denjenigen Heimen, die intensivpädagogische Angebote für stark verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bereit halten, [sind d. Verf.] die Übergänge zwischen ,geschlos- sen‘, fakultativ geschlossen und ,offen‘ zunehmende fließend" (BMJ, 2006, S. 42). Diese neuen Formen des Freiheitsentzugs stellen, so Peters, nichts anderes dar, als „geschlossene Unterbringung in (s)einer modernisierten Form" (2016, S. 2).
Mit der offiziellen Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung im Jahr 2002 in Hamburg zeichnete sich eine erneute Diskussion um freiheitsentziehende Maßnahmen ab, die sich jedoch im Gegensatz zum heftigen Schlagabtausch in den 70iger und 80iger Jahren eher auf pragmatischer Ebene abspielte (vgl. Bange, 2003, S. 294). Dies lässt sich auch auf den 11. Kinder- und Jugendbericht zurückführen, der im Gegensatz zu vorherigen Ausführungen (8. und 9.
Kinder- und Jugendbericht) in seltenen Konstellationen die Betreuung in einer geschlossenen Unterbringung als angemessen betrachtet (vgl. BMFSFJ, 2002, S. 240). Nichtsdestotrotz spaltet dieses Thema wie kein anderes die Fachöffentlichkeit.
2.3.2 Ablehnende Haltung
Schwierig ist die Entscheidung für oder gegen eine solche Maßnahme aufgrund des doppelseitigen Charakters. So ist eine geschlossene Unterbringung nicht nur Hilfe, sondern besitzt auch inhärent immer einen Strafcharakter (vgl. Pankofer, 2006, S. 86). Grundlegend wird in der Auseinandersetzung vor allem über die Möglichkeiten und Grenzen der Hilfeleistungen für sehr heterogene und schwer erreichbare Gruppen wie die der Jugendlichen diskutiert. Gegner der geschlossenen Unterbringung bezweifeln, dass unter den Bedingungen des Zwangs und des Freiheitsentzuges Therapie und Erziehung möglich seien. So verhindern die Gefühle von Ohnmacht, Unterwerfung, Ausgrenzung und Entmündigung die Kinder und Jugendlichen daran, eine tragfähige Beziehung zu den Pädagogen aufzubauen. Die geschlossene Unterbringung komme einer totalen Institution nach Goffman (1973) gleich, bei der die „Einsperrung (...) regelmäßig nicht zur Helferin, sondern zu Herrin der Pädagogik [wird], weil sich sowohl die Pädagogen als auch die Kinder und Jugendlichen der Struktur der Institution und dem Mittel der Einsperrung unterwerden müssen" (Lindenberg, 2010, S. 567). Zwang ist ein konstitutives Merkmal geschlossener Unterbringung, welches gegen die Grundrechte von Kindern und die Grundsätze der Kinder- und Jugendhilfe (Recht auf Freiheit, Mitbestimmung, Lebensweltnähe, Freiwilligkeit, Flexibilität, Wahlbeziehungen) verstoße (vgl. Lindenberg, 2010, S. 566). Davon abgesehen kritisieren die Gegner geschlossener Unterbringung, dass die kurze Verweildauer der Kinder und Jugendlichen in einer solchen Maßnahme es nicht erlaube, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. „Drei Monate eingesperrt zu sein, ist zwar drei Monate zu lang, aber viel zu kurz, um in dieser Zeit eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können" (IGfH, 2013). Erziehung sei nur in Freiheit möglich, die auf einem freiwilligen Interaktionsprozess basiert.
Seit dem Haasenburg-Skandal 2013, bei dem in einer geschlossenen Unterbringung massive Grenzverletzungen seitens der Pädagogen und gewaltförmige Handlungen unter einem stark autoritärem Erziehungsstil stattgefunden haben, erfahren Formen von Zwang und Gewalthandlungen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe stärkere Aufmerksamkeit, sodass auch die geschlossene Unterbringung neuen Reformideen unterlag3. Hamburg zeige jedoch, dass der Freiheitsentzug den Erziehungsprozess erheblich behindere, daher könne man totale Institutionen nicht reformieren, sondern müsse sie abschaffen (vgl. Kunstreich, 1998, S. 259). Lutz kritisiert die Enttabuisierung und Institutionalisierung von Zwang in Form der geschlossenen Unterbringung, da hierbei der Zwang eine mit Erziehungserfordernissen begründete Absolution erhalte (2011). Es sei zwar richtig, Zwang in der Praxis und gewaltförmige Situationen genauer zu betrachten, jedoch nicht, um diese zu standardisieren und in einem legitimen Handlungsrepertoire der Sozialarbeit aufzunehmen. „Die Anwendung von Zwang, Gewalt und Freiheitsentzug [ist] als Problemanzeiger für die Soziale Arbeit bzw. Erziehung zu deuten [...] nicht als Zeichen für Probleme der Adressat_innen, sondern für Probleme der Situationen und Strukturen von Einrichtungen und Hilfesystemen“ (Urban-Stahl, 2009, S. 82).
Weiterhin sei Sozialisation zunächst ein im jeweiligen Sozialraum gebundener Prozess. Die Herausnahme der Kinder und Jugendlichen aus ihrem sozialen Umfeld hinein in einen künstlich geschaffenen Lebensraum bringe keinerlei Nutzen für ein Leben in Freiheit und Selbstverantwortung. So würden die Kinder und Jugendlichen eine „‘Insassen und Knastmentalität‘ [entwickeln], die zur Ablehnung der Betreuer als ,Einschließer‘ führt und alle Energie auf den Ausbruch konzentriert“ (Trauernicht, 1991, S. 522). Folglich passen sich die Kinder und Jugendlichen lediglich an die Zwangsbedingungen an und die Pädagogen stehen im ambivalenten Doppelmandat von Helfer und Einschließer. So belegen von Wolffersdorff und Sprau-Kuhlen in einer Studie aus dem Jahr 1990 über einen Untersuchungszeitraum von einem Jahr und 741 Jugendlichen, dass Jugendliche im gleichen Ausmaß abgängig sind, wie in offenen Settings auch. So fällt die Hauptindikation „ständige Abgängigkeit“ für eine Aufnahme in eine geschlossene Unterbringung weg. Timm Kunstreich und Tillmann Lutz (2015, S. 25) beschreiben den Stufenvollzug daher als Dressur zur Mündigkeit. Die erzielten Verhaltensänderungen basieren demnach auf einer Art „Zuckerbrot und Peitsche“-Prin- zip, ein sich Hocharbeiten bis zur belohnten Scheinanpassung. Zudem sei fraglich, ob die Beeinflussung durch andere Jugendliche in der Einrichtung, die ebenfalls durch dissoziales Verhalten und Delinquenz auffallen, nicht zur Aneignung von nicht förderlichen Verhaltensweisen führen und somit zu einer Verstärkung problematischer Einstellungen des Jugendlichen (vgl. IGfH, 2013). Freiheitsentzug löse somit keine Probleme der Kinder und Jugendlichen, sondern verschärfe diese lediglich. „Zwang provoziert Widerstand, Unfreiheit zerstört Vertrauen. Doch ohne Vertrauen können diese Jugendlichen ihr Verhalten nicht ändern. Und warum sollten sie denen vertrauen, die sie einsperren?“ (Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung, 2018).
Der Ausbau und Bedarf an geschlossener Unterbringung sei auf ein Versagen des Kinder- und Jugendhilfesystems zurückzuführen, denn dieses verstehe kaum den Eigen-Sinn der Überlebensstrategien junger Menschen und sei daher vielmehr auf einfache Lösungen fixiert (vgl. Peters, 2016, S. 15). Denn die so bezeichneten schwierigen und dissozialen Jugendlichen seien lediglich Opfer ihrer schwierigen Lebensumstände.
„Die Problematik bestehe in der „enge[n] Fokussierung auf bestimmte Ausschnitte des Verhaltens der Kinder und Jugendlichen. Einzelne Verhaltensweisen werden weitgehend unabhängig vom Kontext, von der Lebenslage und der Lebensgeschichte der Kinder und Jugendlichen problematisiert [...]. Dieser Fokus bringt mit sich, dass die subjektiven Bedürfnisse, Anliegen, Deutungen und Interessen der Kinder und Jugendlichen, sowie ihre damit verbundene konkrete Lebenssituation und ihre biografischen Erfahrungen wenig(er) in die Arbeit einbezogen und berücksichtigt werden oder auch ganz ausgeblendet bleibt.“ (Koch/Wittfeld, 2015, S. 72)
Die Differenzierung und Spezialisierung der Jugendhilfe schaffe ein hoch selektives System, sodass immer mehr Kinder durch die ,Maschen‘ fallen. „Ohnmacht, Hilflosigkeit und chronisches Scheitern im Helfersystem sind hierfür die Anzeiger [...] [das] Hilfesysteme [trägt] maßgeblich zur Verschärfung von Lebens- und Hilfegeschichten bei“ (Schrapper, 2013, S. 11). Reale und positive Chancen für Entwicklung und Erziehung fehlen. Geschlossene Unterbringung ist der Ausweg, um zumindest Selbst- und Fremdgefährdung zu verhindern, auch wenn selbst das oft nicht gelingt, denn auch Permien (2006, S. 193) kommt zu dem Schluss, dass es offen bleibe, ob der Jugendliche nicht auch in einer anderen Maßnahme genauso viel oder mehr gelernt hätte. Da es keine eindeutigen Indikationskriterien für eine geschlossene Unterbringung gebe, könne diese somit auch nicht in Bezug auf die massive Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt werden. Zudem sei das Argument der „ultima ratio", also das letzte Mittel zur Erreichung von Erziehungszielen inadäquat, da nicht alle Jugendlichen in einer geschlossenen Unterbringung aufgenommen werden (können) und es auch in diesem Kontext immer wieder zu Abbrüchen der Jugendhilfemaßnahme kommt. Zudem produziere der Ausbau von freiheitsentziehenden Maßnahmen eine Sogwirkung - ,wenn es die geschlossene Unterbringung schon gibt, dann muss sie auch bedient werden‘. Diese Form der Hilfen zur Erziehung ist eine immense Belastung des Haushaltes mit Tagessätzen von durchschnittlich 250€ (vgl. Hillmeier et al., 2011) im Gegensatz zu rund 115€ in offenen stationären Einrichtungen, die somit sinnvoller bei präventiven Angeboten oder dem Ausbau offener stationärer Heimangebote einzusetzen seien. Somit sei der Rückschritt in eine totale Institution, schwarze Pädagogik oder gar in die alte Fürsorgeerziehung in Anbetracht einer lebensweltlich orientierten Sozialen Arbeit keine adäquate pädagogische Reaktion auf die Probleme der Kinder und Jugendlichen. „Die geschlossene Unterbringung wirft nicht nur Fragen der Humanität auf, die sich bekanntlich darin zeigt, wie eine Gesellschaft mit ihren Schwächsten umgeht, sondern auch um Fragen der Effektivität der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt. Es geht um das Recht, nicht nur gewaltfrei, sondern auch in Freiheit erzogen zu werden" (Rosenkötter, 2018).
Zusammenfassend werden vor allem der Zwangscharakter durch den Freiheitsentzug und fehlende Beziehungsgestaltung, die problematische Gruppenzusammensetzung in einem künstlich geschaffenem Lebensraum, der grundsätzliche Widerspruch zur lebensweltorientierten Sozialarbeit sowie der strukturelle Mangel der Kinder- und Jugendhilfe kritisiert.
2.3.3 Befürwortende Haltung
Demgegenüber äußern Befürworter der geschlossenen Unterbringung, dass Beziehungen beispielsweise überall, wo Menschen leben, entstehen können und durch Fachkräfte konkret Beziehungsarbeit geleistet werden kann. So sie die geschlossene Unterbringung der erste Raum, um eine Beziehungsebene mit den Kindern und Jugendlichen zu schaffen, denn „um sie zu erziehen, müssen wir sie haben" (Wiesner, 2003, S. 113). Sie sei somit die Basis für therapeutische und pädagogische Interventionen bei Jugendlichen, die sich jedem Zugriff verweigern und stetig entweichen. Die Geschlossenheit sei somit lediglich das Mittel zum Beziehungsaufbau. „Die geschlossene Unterbringung nimmt für eine kurze Zeit die äußere Freiheit, aber nur, um sie einem veränderten Kind und Jugendlichen wieder zurückzugeben" (Gerlich, 1999, zit. n. Oelkers et al., 2013, S. 170). Die begrenzten Räumlichkeiten bedingten eine direkte, unausweichliche Konfrontation des Kindes/Jugendlichen mit seiner Problematik, der sich nicht entzogen werden kann. Daneben seien es nach Hoops (2004, S. 24) vor allem klare Strukturen, verbindliche Regeln und verhaltenstherapeutische Angebote, die Erzie- hungs- und Bildungsprozesse bei den Jugendlichen initiieren. So seien auch die Stufenpläne nicht im Sinne einer Dressur zu verstehen, sondern dienen dem Ziel der Stärkung des jungen Menschen durch stetige Selbstreflexion (vgl. Hagen, 2015, S. 5). Es gehe nicht darum, nur irgendwie angepasst zu funktionieren, sondern im Mittelpunkt stehe das Ziel, ein eigenständiges und sinnerfülltes Leben zu führen. Auf der anderen Seite könne die geschlossene Unterbringung auch ein pädagogischer Schonraum für die Kinder und Jugendlichen sein, der entlastend wirken kann. Es „darf nicht außer Acht gelassen werden, dass mit der Unterbringung häufig auch eine erste Entlastung enorm belastender familiärer Gefüge, Nachbarschaften, Wohnviertel usw. verbunden ist. Sie ist nicht selten ein zentraler positiver Effekt, der Chancen auf Neuorientierung und Veränderung einleitet" (Bauer, 1998, S. 333). Es handele sich hierbei um Kinder und Jugendliche, die sich allen anderen Maßnahmen entziehen und deren Wohl aufgrund fremd- oder selbstgefährdenden Verhaltens stark beeinträchtigt wird (vgl. Permien, 2010, S. 21). Auch diese Kinder hätten ein Recht auf Erziehung, oder sei es verantwortlich „Kinder und Jugendliche immer wieder laufen zu lassen, die nur über unzureichende innere Steuerungs- und Schutzmechanismen verfügen und die mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in ihrem Verhalten nicht wirklich zu beeinflussen [seien?]" (Ahrbeck/Stadler, 2000, S. 21). Die Schließung von freiheitsentziehenden Maßnahmen führe lediglich dazu, dass Jugendhilfe-Karrieren verschärft werden oder diese Kinder in andere Institutionen verschoben werden. So weist Rem- schmidt (1994, S. 273) nach, dass im Zusammenhang der Schließungen 1990 von geschlossenen Heimen zeitgleich ein Ausbau der Plätze der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgte.
Zudem seien Zwänge stetiger Bestandteil des Lebens, ob durch Familie, Freunde oder Arbeitgeber. Bereits zur Zeit der Aufklärung wurde deutlich, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, welches durch Erziehung, aber auch gegebenenfalls durch Zwang zu einem Menschen gebildet wird, denn „ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich imstande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere für ihn tun.“ (Kant, 1803, S. 8)
Die Personensorgeberechtigten üben Zwang gegenüber ihrem Kind aus, um es vor Gefahren zu schützen und um aus Fehlverhalten zu lernen. Kinder und Jugendliche benötigen Erziehung, um zu lernen, was es zum Überleben braucht, und dies findet immer in einem Spannungsfeld von anregender Unterstützung, aber auch korrigierender Begrenzung statt (vgl. Menk et al., 2013, S. 24). Vorrangig geht es hierbei um Selbst-Bildungsprozesse, jedoch, um diese anregen zu können, müssen die schwierigen Verhaltensweisen der Jugendlichen als funktionelle Überlebensstrategien gesehen werden, die an anderen Orten und zu anderen Zeiten als sinnvoll und funktional erachtet wurden (vgl. Menk et al., 2013, S. 25). Um Mündigkeit, Selbstbestimmtheit und Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu erlangen, bedarf es einer Pädagogik, die Anregungen und Experimentierräume schafft, in denen die hochwirksamen Überlebensstrategien abgelegt und neue Verhaltensmuster ausprobiert werden können (vgl. ebd.). Diese Angebote können aber auf Grenzsetzungen nicht verzichten, jedoch müssen diese Grenzen eine Bedingung für neue Freiheiten sein. Menk et al. (2013, S. 27) nennen hierfür das Beispiel der Verkehrserziehung. Ein 3 jähriges Kind wird von seinen Eltern an der Straße an die Hand genommen, sodass dessen Freiheit teilweise auch mit heftiger Gegenwehr eingeschränkt wird. Diese Freiheitsbeschränkung ermöglicht jedoch dem Kind etwas darüber zu lernen, wie es eigenständig und gefahrenlos („ich schaue nach rechts, links, rechts") über die Straße laufen kann. Dem Kind wird hierdurch eine neue Freiheit eröffnet. Auch Cavallar formuliert 1996:
„Die Notwendigkeit der Anwendung von Zwang in der Erziehung liegt darin begründet, dass der junge Mensch noch nicht in der Lage ist, seine natürlichen Neigungen, Begierden und Affekte zu kontrollieren. Dies liegt an der mangelnden Fähigkeit zum Selbstzwang. Um die Freiheit des Zöglings und auch die Freiheit anderer Menschen zu schützen, muss daher ein Zwang von außen auferlegt werden.“ (Cavallar 1996, zit. n. Engelhardt/Seidl, 2011, S. 125)
In einer freiheitsentziehenden Maßnahme kann daher versucht werden, die Jugendlichen an Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit heranzuführen, sodass sie sich in Freiheit unabhängig und in einem bestimmten Rahmen selbstbestimmt und kompetent bewegen können (vgl. Obersteiner, 1995, S. 234f.).
Zusammenfassend wird der positive Aspekt der geschlossenen Unterbringung vor allem darin gesehen, sich entziehende Jugendliche pädagogisch und therapeutisch zu erreichen und ihnen in einem Schonraum die Möglichkeit zu geben, sich neu zu orientieren, aus ihrem Fehlverhalten zu lernen und aus Abhängigkeitsstrukturen auszubrechen. Daneben gibt es aber nach Hoops und Permien (2006) noch die skeptischen Befürworter, die davon ausgehen, dass es eine kleine Gruppe von Menschen gibt, für die geeignete Maßnahmen im Bereich der offenen Kinder- und Jugendhilfe bis dato nicht existieren. Um den Anforderungen dieser Gruppe gerecht zu werden, sei eine Akzeptanz des Bedarfs geschlossener Unterbringung zu fordern (vgl. BMFSFJ, 2002, S. 240). Zudem sei der Freiheitsentzug kein ausschließliches Merkmal geschlossener Unterbringungen. So beschreibt Winkler:
„Kinder und Jugendliche werden geschlossen untergebracht! [...] Die tatsächliche Breite von faktisch freiheitsentziehenden Maßnahmen ist weit größer, als dies zugestanden und durch die Zahlen belegt wird. Sie reicht von Maßnahmen nach Jugendstrafrecht über die Hilfen zur Erziehung bis zur Unterbringung und klinischen Settings; [...] Hinzu kommt ein Sachverhalt, der auf den ersten Blick trivial scheint: In nahezu allen pädagogischen Institutionen werden junge Menschen eingeschlossen, wofür meist Gründe der Aufsichtspflicht oder verbunden damit versicherungsrechtliche Auflagen geltend gemacht werden. “ (2006, S. 238)
So sehen die skeptischen Befürworter Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mit freiheitsentziehenden Maßnahmen dazu aufgefordert, eine fachliche Selbstkontrolle, sowie ein Beschwerdemanagement für Kinder und Jugendliche und Mitarbeitern einzuführen, um dem Machtmissbrauch innerhalb geschlossener Systeme entgegenzuwirken (vgl. Oelkers et al., 2013, S. 172). Weiterhin sei der Ausbau der Heimaufsicht mit fachlich geschulten Mitarbeitern notwendig, um sowohl die konzeptionelle als auch die praktische Gestaltung des Heimalltages und der Strukturen zu analysieren, zu beurteilen und im Hinblick auf das Wohl des Kindes zu bewerten.
2.4 Zusammenfassende Darstellung
Wenn man sich mit dem Thema Zwang und Erziehung auseinandersetzt, muss man zwangsläufig akzeptieren, dass Erziehung kein technischer Prozess ist, der nach Ursache-Wirkungsprinzip erklärt, verstanden und kontrolliert werden kann. Erziehung ist immer ein Prozess des Ausprobierens und trägt daher inhärent immer die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Auch Schwabe kommt in seinem Beitrag über Grauzonen der Sozialpädagogik zu dem Schluss, dass „in jeder individuellen und institutionellen Praxis täglich Alltags-Handlungen stattfinden, bei denen niemand sofort und umstandslos wissen kann (!), welche davon fachlich gut und angemessen und welche davon unangemessen und auf mittlere Sicht einer guten Entwicklung abträglich ist. [...] Sozialpädagogik besteht, insbesondere bei belasteten Klienten, eben nicht in der Anwendung weniger, klarer Prinzipien (immer verständnisvoll auf das Kind zugehen, immer Kinderrecht beachten, am besten gar nicht strafen, und wenn - so, dass die Strafe einen Bezug hat zur sanktionierten Tat etc.), sondern im geduldigen Entwickeln und Ausbauen von Zugängen, die immer wieder abbrechen, verloren gehen und neu gefunden werden müssen.“ (2014, S. 116)
Erziehung und damit einhergehende Verhaltensänderungen von Kindern und Jugendlichen können somit keiner kausalen Ursache zugeschrieben werden. Das bedeutet, dass auch seitens der Systemsprenger immer wieder neue Zugänge geschaffen werden müssen und somit stetig ausprobiert werden muss, was bei diesem einen Jugendlichen eine Verhaltensänderung bewirkt. Dabei bleibt die Frage, ob die Anwendung von Zwang für einige Kinder förderlich sein kann oder nicht. Hoops (2004, S. 25) kommt zu dem Schluss, dass es durchaus Jugendliche gibt, die von der geschlossenen Unterbringung profitieren, ob dies allerdings dauerhaft ist, sei fraglich. So scheint es Kinder und Jugendliche zu geben, die die geschlossene Unterbringung als Neustart erleben können, ihre problematischen Verhaltensweisen ändern und gestärkt heraus gehen. Jedoch gibt es auch Kinder und Jugendliche, bei denen freiheitsentziehende Maßnahmen als letzter möglicher Weg zur Erreichung von Erziehungszielen scheitern und damit die Wirksamkeit dieser Maßnahme in Frage stellen. Friedhelm Peters, einer der größten Kritiker der geschlossenen Unterbringung, formuliert : „Selbst wenn man davon ausginge, dass Kinder und Jugendliche auch durch Prügel irgendetwas lernen, ist das ja kein Argument für die Prügelstrafe. Und genauso denke ich, kann man auch mit dieser geschlossenen Unterbringung umgehen" (Peters, 2013, Min. 2:22 - 2:32). Geschlossene Unterbringung hat somit immer einen zweiseitigen Charakter und es liegt nach Weiss „schlussendlich an uns, ob die Unterbringung in einer physisch geschlossenen Einrichtung die Form von Einschließen oder Wegschließen annimmt oder zu einer pädagogischen Intensivmaßnahme wird, die - eingebunden in ein Verbundsystem unterschiedlicher Formen von Fremdunterbringung - den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht wird" (1999, S. 889). Die geschlossene Unterbringung folgt einer langen Kette gescheiterter Hilfen, einem großen Aufwand an Ausprobieren und scheint momentan eines der wenigen Mittel zu sein um Jugendliche, die sich, aber auch andere, erheblich gefährden und in offenen stationären Maßnahmen, aber auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, nicht mehr gehalten werden können, aufzufangen und halten zu können. Freiheitsentzug ist Zwang und verstößt gegen die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen, jedoch bedeutet der völlige Verzicht auf geschlossene Unterbringung, dass vermutlich viele hoch belastete Kinder und Jugendliche aufgegeben werden und riskiert wird, dass die Jugendlichen „weitere traumatischen Erfahrungen machen, sich nachhaltig gefährden und an ihren Entwicklungsaufgaben scheitern" (Schmid, 2018, S. 383). Im folgenden Kapitel wird daher der Frage nachgegangen, an welchen Herausforderungen Kinder und Jugendliche in unserer modernen Gesellschaft scheitern, sodass sie zu den Kindern und Jugendlichen gehören, die geschlossen untergebracht werden. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf die Übergänge gelegt, da diese sowohl in Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit als auch in Bezug auf die zu leistenden Entwicklungsschritte, einhergehender Krisen und anstehender Problembewältigung von besonderem Interesse sind.
3. Jugend in einer modernen Gesellschaft
3.1 Übergangsbewältigung als zentraler Bestandteil des Lebens
„In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet [...]. Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht.“ (van Gennep, 1986, S. 15)
Wie in diesem Zitat des Anthropologen van Gennep beschrieben wird, sind Übergänge Bestandteil des Lebens und stellen ein zentrales Moment des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft dar. Übergänge sind soziale Zustands- und Positionswechsel, die sowohl institutionell, beispielsweise durch formalisierte Altersgrenzen (Schule) oder Statusmerkmale (Abschluss) definiert als auch durch individuelle veränderte Orientierungen und Ansprüche angestoßen werden, allerdings finden diese individuellen „Zustandswechsel“ immer in einer institutionellen Rahmung statt (vgl. Walther/Stauber, 2013, S. 29).
Genauer formuliert bedeutet dies, dass bestimmte Abläufe in einer an das Lebensalter gebundenen Abfolge typischer, sozial definierter Zustände stattfindet und damit mit bestimmten Handlungserwartungen verknüpft ist (vgl. Scherger, 2009, S. 532). Die individuelle Lebensführung wird hierbei mit gesellschaftlichen Strukturen verknüpft, die Unsicherheiten und Ungewissheiten reduzieren soll. So beispielsweise die Übergänge aus Kindergarten in Schule oder von Schule in Ausbildung/Studium. Hieraus entstand in der europäischen Moderne ein „Drei- Phasen-Modell“ (vgl. Walther, 2008, S. 11), bei dem die Jugendphase im Bildungssystem als Vorbereitung auf das Erwerbsleben; die Erwachsenenphase als Erwerbs- oder Familienphase und das Alter als Nacherwerbsphase charakterisiert wurde. Eine Standardisierung von Normallebensläufen durch gesellschaftliche oder institutionelle Vorgaben bedeutet allerdings keinesfalls, dass Lebensläufe nicht unterschiedlich strukturiert sind (vgl. im folgenden Walther/Stauber, 2013, S. 31). Die Differenzierung von Lebensläufen hängt in entscheidendem Maße von Klasse, Bildung und Geschlecht ab und prägen diesen nicht nur in Bezug auf Einkommen oder Status, sondern auch in der Abfolge von Übergängen. Soziale Arbeit macht es sich hierbei zur Aufgabe, die „unteren" Schichten der Gesellschaft dazu zu befähigen einen Normallebenslauf einzuschlagen, beziehungsweise Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und die Menschen bei der Bewältigung ihres Lebensalltags zu unterstützen. So formuliert auch Hamburger: „Soziale Arbeit setzt in den Situationen ein, wo die Bedingungen für eine altersspezifische Normalität oder für die durchschnittliche Bewältigung von Statuspassagen fehlen" (2003, S. 157). Die sozialpädagogische Bearbeitung von Übergängen beispielsweise bei der Hilfeplanung als auch bei der Begründung von Hilfe- und Bildungszielen ist durch die Gültigkeit und Erreichbarkeit des Normallebenslaufs geprägt (vgl. Walther/Stauber, 2013, S. 33).
In unserer modernisierten Gesellschaft zeichnen sich allerdings bereits seit Mitte der 1970er Jahren und der einhergehenden politischen und technischen Steuerungsproblematik, der Transformation im Bereich Arbeit und Produktion, der institutionellen Veränderung und der damit verbundenen Entstrukturierung der Jugendphase und des Lebenslaufs, immer verstärkter pluralisierte Lebensmuster und Werteorientierungen ab (vgl. Höhne, 2013, S. 85). Die Freiheit des Individuums wird an oberster Stelle gesetzt, was unter anderem auf die Studenten- und Frauenbewegung getragenen Emanzipations- und Selbstverwirklichungsansprüche zurückzuführen ist (vgl. Walther/Stauber, 2013, S. 33). Die Moderne zeichnet sich durch ,Entgrenzungen‘ aus: „Etablierte Strukturen lösen sich auf oder vermischen sich mit neuen, Grenzen verschwimmen, neue tun sich auf. Bisherige lineare Rekonstruktionen im institutionalisierten Lebenslauf brechen auf, werden hinterfragt und mitunter reflexiv rekonstruiert. Aus Entweder-Oder werden Sowohl- als-auch-Strukturen" (vgl. Beck, 1993, zit. n. Schröer, 2013, S. 70). So beispielsweise die Entgrenzung des Lernens. Lernen und Arbeit sind keine zwei voneinander getrennten Phasen, sondern ziehen sich durch alle Lebenszeiten hindurch. Der Begriff Bildung erhielt somit ein erweitertes Profil, das sich nicht lediglich auf eine Schul- oder Ausbildung beschränkt. Dies bedeutet für die Individuen, die sich in unserer Gesellschaft bewegen und Übergänge zu bewältigen haben, dass sie „sich immer öfter in Lebenslagen [befinden], die wohlfahrtsstaatlich weder vorgesehen noch abgesichert sind. Eindeutige und klar institutionalisierte Lebensphasen werden kürzer, Übergänge dauern länger und/oder nehmen zu, sind weniger planbar und mit offenen Ausgang" (Walther/Stauber, 2013, S. 33f.). Übergänge müssen von den Individuen zunehmend selbständig bewältigt werden, bleiben offen und ungewiss, und auch wenn diese Übergänge nicht länger selbstverständlich durch institutionelle Vorgaben nachvollziehbar sind, bleiben die Normalvorstellungen und -versprechen bestehen. Dies hat sich auch entscheidend auf das Konzept der Erziehung ausgewirkt, sodass Eltern durch die Anforderungen einer individualisierten Gesellschaft verunsichert sind und ihren eigenen Weg der Erziehung suchen (vgl. BMFSFJ, 2005, S. 7). Fest verankerte und fraglos geltende Normen der richtigen Erziehung (etablierte Verhaltens- und Denkmuster) werden durch das Wissen der Kindheitserziehung beeinflusst und eröffnen Entscheidungsmöglichkeiten. Welchen der vielen und oft konträren Erziehungsstilen man folgt, liegt am Ende in der eigenen Entscheidung und das Scheitern der Erziehung eines Kindes liegt folglich auch im Versagen der Eltern, im Sinne von „hätten Sie halt lieber die Methode, als diese angewandt, dann wäre ihr Kind nun nicht so missraten“4
Damit wird die Moderne durch die Chance und den Zwang zur Selbstorganisation und Entscheidungsfindung gekennzeichnet (vgl. Schröer, 2013, S. 70). So beispielsweise die Anforderung an Jugendliche, nach dem Schulabschluss in eine Ausbildung/weiterführende Schule überzugehen. Den Jugendlichen wird ermöglicht, aus einer Vielzahl an Ausbildungsmöglichkeiten auszuwählen und ihre eigenen Interessen auszuleben. Nicht selten haben Schulabgänger jedoch keinen konkreten Plan für ihre Zukunft gefasst. Das ausdifferenzierte Ausbildungssystem mit seiner Vielzahl an Möglichkeiten (327 anerkannte Ausbildungsberufe nach BIBB; verschiedene Ausbildungszugänge (Berufsqualifizierung, Schulische Ausbildung, Betriebliche Ausbildung, Duale Ausbildungsvorbereitung, Betriebliche Einstiegsqualifizierung etc. pp.)) überfordert die Jugendlichen und beeinträchtigt ihre Entscheidungsfindung. Gleichzeitig wird den Jugendlichen auferlegt, sich für einen Weg zu entscheiden und diesen so gut wie möglich und vor allem so schnell wie möglich zu durchschreiten. Abbrüche und das Scheitern von Ausbildungen ist dabei immer das individuelle Versagen des Jugendlichen selbst und kein Problem des Systems. Davon abgesehen besteht vor allem für Hauptschüler die größte Schwierigkeit darin, überhaupt einen Ausbildungsbetrieb zu finden. Denn aufgrund steigender Bewerberzahlen bei Ausbildungsbetrieben, auch von mittleren Bildungsabschlüssen und studienberechtigten Jugendlichen, haben die Betriebe begonnen eine „Bestenauslese“ zu betreiben (vgl. DGB-Bun- desvorstand, 2017, S. 7). Laut Stellungnahme der Gruppe der Beauftragten der Arbeitnehmer zum Entwurf des Berufsbildungsberichts 2017 schaffen nur 45,3% der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss den direkten Einstieg in eine Ausbildung. Weiterhin seien 13,4%, also 1,95 Millionen Menschen in der Altersgruppe 20 bis 34 Jahren ohne Berufsausbildung. Damit droht sich die prekäre Lage im Bereich der beruflichen und sozialen Teilhabechancen für diejenigen, die zur Bildungsunterschicht gehören (zwischen 20 und 30 Prozent), zuzuspitzen. Es entsteht ein Bruch zwischen der eigenen Lebensrealität, die im entscheidenden Maße von sozioökonomischen Faktoren abhängt und durch das Risiko des Ausschlusses gekennzeichnet ist, und den Zukunftsversprechungen einer modernisierten 5 Gesellschaft (vgl. Münchmeier, 2002, S. 111f.).
Rituale oder Institutionen garantieren kein zuverlässiges Ankommen in der nächsten Lebensphase und gelingende Übergänge hängen aus gesellschaftlicher Perspektive mehr von Individuen, ihrem Handeln und ihren Entscheidungen ab (vgl. Walther/Stauber, 2013, S. 37f.). „Eine Inflation von Informations- und Konsumangeboten hat die Wahlmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder dramatisch erhöht [...] Lebensläufe sind deshalb sehr viel weniger vorhersagbar als in früheren Zeiten. Mehr noch: der Zwang zu immer neuen Entscheidungen, ständig wechselnden Orientierungen wird zunehmend eindeutiger den Individuen selbst angelastet“ (Alheit/Dausien, 2010, S. 720f.). So werden die Individuen zunehmend selbst dafür verantwortlich gemacht, ob sie die erwarteten Ziele einer Normalgesellschaft erreichen oder an diesen scheitern (siehe hierzu auch Humankapitaltheorie Lenhardt, 2001; Hiller, 2006). Dabei unterscheiden sich die Lebensmuster der Menschen so stark voneinander, dass von keinem einheitlichem Bild des Übergangs mehr gesprochen werden kann. Lernzeiten dehnen sich nun auf das ganze Leben aus, Arbeitszeit, arbeitsfreie Zeit und Familienzeit vermischen sich, virtuelle Zeiten und Räume durchdringen die der Wirklichkeit (vgl. Böhnisch et al., 2009, S. 98).
Übergänge haben sich folglich zu einem dauerhaften Charakteristikum im Leben von Menschen entwickelt, sodass sie zunehmend dazu herausgefordert werden, ihre Handlungsfähigkeit im Sinne der „individuellen Verfügbarkeit und der angemessenen Anwendung von Fertigkeiten und Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität" (Hurrelmann, 1998, S. 197) zu sichern. In diesem Sinne wird auch das Konzept der agency5 in der Übergangsforschung verwendet, das davon ausgeht, dass die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person entscheidende Konsequenzen für die Verarbeitung und Bewältigung von Übergängen hat und damit den weiteren Lebensverlauf prägt. „Agency meint, in einer Vielzahl von Ansätzen die Fähigkeit bzw. ein Vermögen des Individuums über die Ausgestaltung einer Übergangssituation einen entscheidenden Einfluss ausüben zu können" (Raithelhuber, 2013, S. 100). Im Hinblick auf den sozialen Wandel, in dessen Entwicklung Individuen dazu aufgefordert sind, aus sich selbst und von sich selbst verantwortete, reflektierte Entscheidungen zu treffen, gewinnt der agency Ansatz6 an Bedeutung (vgl. Raitelhuber, 2013, S. 120). Dieser wurde in der sozialpädagogischen Diskussion vor allem mit der Perspektive der Lebensbewältigung7 in Beziehung gesetzt. Dabei kommen den Coping-Strategien (Bewältigungsstrategien) besondere Bedeutung zu. Sie werden als Reaktion des Individuums auf Herausforderungen gesehen, die das Ziel der subjektiven (Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit verfolgt (vgl. Böhnisch, 2016). Krisenhafte Situationen, wie beispielsweise die eines Übergangs aus Schule in den Beruf, bedürfen eines Bewältigungsverhalten das immer dann eingesetzt wird, wenn belastende oder stressreiche Situationen auftauchen, die es zu vermeiden, zu vermindern oder zu meistern gilt. So wird ein Kind, das von seinen Eltern nicht genug Nahrung erhält, Wege und Möglichkeiten finden, um seinen Hunger zu stillen. Das Klauen im Supermarkt beispielsweise, wird somit zu einer funktionierenden Bewältigungsstrategie des Kindes, welche es auch in Zukunft in Notsituationen anwenden wird. Handlungsfähigkeit und damit Entscheidungsfreiheit unterliegt dabei immer den Zwängen und Beschränkungen, die mit sozialer Ungleichheit einhergehen (Ethnie, Geschlecht, Alter, soziale Herkunft etc. pp.), hängt von der individuellen Biographie des Individuums ab und den Ressourcen zum Entwickeln von Interessen und Zielen (vgl. Stauber et al., 2011, S. 23). Ein Kind, das beispielsweise in einer sehr wohlhabenden Familie aufwächst, ruft eventuell eher den Pizzalieferdienst, als im Supermarkt klauen zu gehen. Jedoch wirken sich diese Beschränkungen sozialer Ungleichheit nicht nur auf die aktuelle Handlungsfähigkeit aus, sondern auch auf Interessen, Ziele und Kompetenzen, die erworben und entwickelt werden. Welche Ziele sich ein Mensch für seine Zukunft steckt, welche Interessen er verfolgt und welche Kompetenzen er im Laufe seines Lebens erwirbt, sind nicht frei von strukturellen Begrenzungen, jedoch offen 6 und individuell gestaltbar und dabei äußerst unsicher.
Unter den heutigen Bedingungen von de-standardisierten Lebensläufen werden die Bewältigungsstrategien allerdings nicht mehr nur als Reaktion auf krisenhafte Ereignisse betrachtet, die von außen herangetragen (durch die Gesellschaft) und zu einem triebdynamischen Streben nach Handlungsfähigkeit führen, sondern stärker durch kreative Aushandlungsprozesse gekennzeichnet, in denen das Individuum selbst die Ausgestaltung des Lebens durch subjektive Bedeutungszuschreibungen vornimmt. (vgl. Quenzel, 2015, S. 31). Es zeigt sich somit ein Trend zur Fokussierung von Selbstfindung und Selbstverwirklichung bei Jugendlichen, die das Individuum somit für seine Entscheidungen und Handlungen verantwortlich machen. Alle Entscheidungsprozesse werden dabei nicht nur von den Jugendlichen selber, sondern auch durch Fremdbeobachtung kritisch hinterfragt und beurteilt (vgl. Quenzel, 2015, S. 23). Dies bedeutet konkret, dass Jugendliche ihren Alltag nach den eigenen Vorlieben und Vorstellungen gestalten und in Abhängigkeit von der Anerkennung beispielsweise durch Freunde oder der Peergroup geprüft und gegebenenfalls verändert wird. Durch die zugeschriebene Selbstverantwortung, Selbstreflexion und Selbstfindung stehen die Jugendlichen unter einem permanenten Anerkennungsdruck durch andere und einem Gefühl der Unsicherheit, ob die Gestaltung in ausreichendem Maße gelungen ist (vgl. Quenzel, 2015, S. 24).7
Das Streben nach Handlungsfähigkeit wird in einer individualisierten modernen Gesellschaft zunehmend herausfordernder, vor allem für Individuen mit kritischen biografischen Konstellationen, wodurch deren Lebenslauf in eine reversible Abfolge von Bewältigungsschritten gedrängt wird (vgl. Böhnisch et al., 2009, S. 30). Dies bedeutet konkret, dass ein Mensch nicht nur die eigenen personal-biographischen Aufgaben zu bewältigen hat (Streben nach Selbstwert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit), sondern ebenso mit gesellschaftsstrukturellen Konstellationen konfrontiert wird, die ihn fortlaufend herausfordern einen passfähigen und flexiblen Lebenslauf einzuschlagen (biografische Integrität und soziale Integration), um damit seine Handlungsfähigkeit zu erhalten (vgl. Böhnisch et al., 2009, S. 65). Kritisch betrachtet bedeutet dies, dass Übergänge zunehmend reversibler und fragmentierter werden und sich durch Offenheit und Ungewissheit auszeichnen. Das Individuum steht vor dem Dilemma, das eigentlich immer mehr unplanbare Leben individuell zu planen und dabei gleichzeitig flexibel bleiben zu müssen (vgl. Quenzel, 2015, S. 31). Übergänge stellen daher eine große Herausforderung an die eigenen Bewältigungsstrategien dar und tragen das Moment des Scheiterns stetig in sich. Bei wiederholten oder dauerhaften Verletzungen der Erwartungen und Anforderungen des Gesellschaftssystems, beispielsweise durch Gewalt, Devianz oder Sucht droht die Integration zu scheitern und „ein Abstieg in die sozialstrukturellen Randbereiche der Gesellschaft [kann] die Folge sein" (Sommerfeld et al., 2011, S. 272). Daraus folgend hat das Individuum weniger Teilhabemöglichkeiten und erfährt in verschiedenen Systemen Ausschluss, verringerten Zugang zu Ressourcen, welche zu einer „Entwertung" des Individuums führen und die Möglichkeiten der Re-Integration verringern (vgl. Sommerfeld et al., 2011, S. 272).
Neben den gesellschaftlich definierten Übergangen und der personal-biographischen Bewältigung der verschiedenen Anforderungen in der Jugendphase stehen Kinder und Jugendliche auch vor dem Übergang in das Erwachsenenleben. So wird in der Sozialwissenschaftlichen Forschung nicht nur von Übergangsbewältigung gesprochen, die sich auf alle Bereiche des Lebens beziehen kann, sondern auch von Entwicklungsaufgaben die den spezifischen Übergang von der Jugendphase in das Erwachsenenalter beschreiben. Dies soll im Folgenden weiter ausgeführt werden.
3.2 Entwicklungsaufgaben in der Jugendphase
Der Begriff der Jugendphase wird für die Zeit zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter verwendet und beginnt in den Industriestaaten in etwa mit dem 12. Lebensjahr und dauert im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre an (vgl. Quenzel, 2015, S. 9). Neben den beschriebenen Ansprüchen seitens einer modernisierten Gesellschaft im Sinne von Selbstverwirklichung, Individualisierung, Unsicherheit und Entstandardisierung beinhaltet diese Phase eine umfassende körperliche Veränderung, die „psychosozial verarbeitet werden muss und eine Umstrukturierung des emotionalen Beziehungsgefüges einleitet“ (Quenzel, 2015, S. 9).
Entgegen gängiger Annahmen, dass die Jugend eine besonders gesunde Lebensphase darstellt, zeigen sich in aktuellen Studien wie beispielsweise dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS, 2018), dass Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren einen deutlich niedrigeren Gesundheitszustand haben als Jüngere. Der Anteil an Mädchen mit einem sehr guten Gesundheitszustand liegt bei 45,3% und der Jungen bei 52,4%. Mädchen schätzen im Gegensatz zu Jungen ihren Gesundheitszustand deutlich häufiger als mittelmäßig bis sehr schlecht ein, was auf geschlechtsspezifische Entwicklungsaufgaben, die mit verschiedenen physiologischen wie auch psychischen Belastungen verbunden sind, zurückgeführt werden kann (vgl. KiGGS, 2018, S. 11). Belastungen im Sinne von Ungewissheiten über die weitere Lebensgestaltung und die Unsicherheit bei der Entwicklung eines anerkennungswürdigen erwachsenen Gesellschaftsmitgliedes (vgl. Quenzel, 2015, S. 10). So zeigt sich, dass nahezu bei einem Viertel der Jugendlichen das Risiko besteht, an einer psychischen Störung zu erkranken (vgl. Ravens-Sieberer et al., 2007, S. 875) und auch das Ausmaß an Risikoverhalten im Gegensatz zur Kindheit deutlich ansteigt (Rauchen, Alkohol, Drogen, sexuelle Aktivitäten).
Die Jugendphase zeichnet sich durch eine besonders dichte Staffelung von spezifischen Entwicklungsaufgaben aus, deren Bewältigung maßgeblichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Jugendlichen hat (vgl. Hähne et al., 2013, S. 112). Dem Konzept der Entwicklungsaufgaben liegt ein Entwicklungsbegriff zugrunde, der nach Erikson auf der Annahme basiert, dass sich der Mensch in Stufen entwickelt, welche für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung erfolgreich bewältigt werden müssen (1968, S. 95f.). Werden einzelne Thematiken wie beispielsweise Vertrauen versus Misstrauen oder Autonomie versus Scham/Zweifel in den jeweiligen Lebensphasen nicht erfolgreich bearbeitet, dann fehlen wichtige Grundlagen für die darauffolgenden Entwicklungsstufen. Erikson beschreibt die Entwicklung der Persönlichkeit „in Abhängigkeit von der Bewältigung zentraler zwischenmenschlicher Herausforderungen. Die jeweilige Entwicklungsphase, die zugehörige spezifische Herausforderung bzw. die Krisenthematik und die zu erringende Tugend bei erfolgreicher Bewältigung werden aufeinander bezogen. Jeder neu gewachsene Teil der Identität wird im Organismus/Umwelt-Feld auf die Probe gestellt und muss dabei die primäre eigene Verletzlichkeit überwinden. Danach folgt der nächste Schritt" (1980, S. 63).
Havighurst (1956) kritisiert an Eriksons Stufenmodell die theoretische Fokussierung der psychischen Triebkräfte und unterteilt das Konzept der Entwicklungsstufen (bspw. Herausbildung einer Identität‘) in unterschiedliche zu bewältigende Entwicklungsaufgaben, für die unterschiedliche Triebkräfte Auslöser sein können und die in unterschiedlichen sozialen Bereichen wie beispielweise Schule, Familie oder Freunde bewältigt werden müssen (vgl. Quenzel, 2015, S. 29). Menschliche Entwicklung und die Formung der eigenen Identität ist folglich immer im Kontext sozialer Begegnungen und Beziehungen zu sehen und vollzieht sich hierdurch in einem ständigen Wandel oder einer Umformung. Menschen reagieren also sowohl aus eigenem Antrieb von innen heraus als auch auf ihre Umwelt. Das Konzept der psychosozialen Entwicklungsaufgaben nach Havighurst geht davon aus, dass Entwicklung nicht automatisch abläuft, sondern von den Individuen erkannt, angenommen und aktiv bewältigt werden muss. Die Individuen gestalten die Entwicklung aktiv durch die Zielauswahl als auch durch die Zielgestaltung mit, wobei diese gleichzeitig von soziokulturellen und biologischen Faktoren abhängig ist.
[...]
1 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
2 Im November 2018 haben die momentan zwölf Mitglieder des Arbeitskreises den Verein GU14+ e.V. gegründet, der Stabilität und Standards im Sinne guter Jugendhilfe sichern soll.
3 Weitere Ausführungen hierzu: http://www.dgkjp.de/stellungnahmen-positionspapiere/stellung- nahmen-2013/209-stellungnahme-der-dgkjp-zur-schliessung-der-jugendhilfeeinrichtungen-der- haasenburg-gmbh.
4 Siehe hierzu Beispielsweise die verschiedenen und teils konträren Ratgeber und Vorschläge zum Thema Durchschlafen bei Babys (Sears/Markus/White, 2010; Kast-Zahn/Morgenroth, 2013; Pantley, 2014; Renz-Polster/Imlau, 2016; Largo, 2017).
5 Im Kontext der deutschsprachigen Forschung wird auch von „Handlungsmächtigkeit", „Handlungsfähigkeit" oder „Handlungsbefähigung" gesprochen.
6 Weiterführende Literatur: Raitelhuber, Eberhard/Schröer, Wolfgang (2015): Agency. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. 5.Aufl. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag, S.49-58.
7 „Das Konzept der Lebensbewältigung nimmt die Diskrepanz zwischen Zukunftsversprechungen und der eigenen Lebensrealität auf und vollzieht einen sozialpädagogischen Perspektivwechsel von normalbiografischer Zukunftsorientierung hin zu alltagsbezogener Gegenwartsorientierung angesichts der ,Grenzen des Wohlfahrtsstaats‘ " (Böhnisch/Schefold 1985). Weiteres hierzu in: Böhnisch, Lothar (2016): Lebensbewältigung. Ein Konzept für die Soziale Arbeit. Weinheim/Ba- sel: Juventa.
- Quote paper
- Marie Werner (Author), 2019, Konzeptionelle Gestaltung des Übergangs aus einer freiheitsentziehenden Maßnahme der stationären Jugendhilfe in offene Anschlusshilfen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1004996
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