Identitätsbildungsprozesse unterliegen zeitlich bedingten, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und kulturellen Gegebenheiten. Insbesondere Jugendliche bilden ihre Identität heutzutage nicht nur durch realweltliche Interaktionen heraus, sondern auch mit Hilfe von Medien und sozialen Netzwerken.
Was kennzeichnet die Phase der Adoleszenz und wie lässt sie sich von anderen Lebensphasen abgrenzen? Durch welche Prozesse wird Identität konstituiert? Wie nutzen Jugendliche soziale Medien?
Katharina Hofer untersucht die Bedeutung von Social Media für die Identitätsbildung in der Jugend. Sie geht sowohl darauf ein, welche Möglichkeiten soziale Netzwerke Heranwachsenden bieten, als auch darauf, welche Probleme sich daraus ergeben.
Aus dem Inhalt:
- Alltagswirklichkeiten;
- Entwicklungsphasen;
- Identitätsbildung;
- Mediensozialisation;
- Persönlichkeit;
- Selbstbild
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2 Grundlagen
2.1 Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
2.2 Identitätsbildungsprozesse
3 Medien und Sozialisation
3.1 Theorien zur Subjektivität im 21. Jhdt.
3.2 Social Media als Möglichkeitsraum
4 Identitätsbildung und Social Media
4.1 Möglichkeiten
4.2 Probleme
5 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
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Abstract
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung von Social Media im Prozess der Identitätsbildung in der Adoleszenz. Ziel ist es, einen empirischen, zeitgemäßen Beitrag zu erbringen. Die gegenwärtige Vernetzung und Omnipräsenz von Medien nehmen im Prozess der Identitätsbildung während der Adoleszenz einen bedeutsamen Stellenwert ein. Social Media stellen insofern – als fester Bestandteil hybrider Alltagswirklichkeiten – ein erweitertes Handlungsfeld für Heranwachsende dar. Infolgedessen sollen die nachstehenden Forschungsfragen untersucht werden: Welche Möglichkeiten bieten Social Media Heranwachsenden im Prozess der Identitätsbildung? Welche Probleme können sich hierbei ergeben? Diese sollen anhand interdisziplinär ausgewählter, wissenschaftlich fundierter Literatur herausgearbeitet und vorgestellt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Social Media einerseits zwar als Möglichkeitsraum darstellen, innerhalb dessen Heranwachsende Identität(en) auf verschiedene Art und Weise konstituieren können; andererseits muss dieser jedoch stets unter den hiermit verbundenen Problemen betrachtet werden. In Anbetracht der zeitlich bedingten Wandelbarkeit des Themengebietes Social Media und Identitätsbildung, eröffnet dieses fortwährend weiteren Forschungsbedarf.
The Relevance of Social Media in the Process of Identity Formation in Adolescence
The present scientific paper deals with the relevance of social media in the process of identity formation in adolescence. The aim is to provide a contemporary, empirical contribution. The present interconnectedness and omnipresence of media take on an important role in the process of identity formation in adolescence. In this respect, social media – as an inherent part of hybrid everyday reality – represent an extended field of action for adolescents. Consequently, the following research questions are to be dealt with: What are the opportunities of social media for adolescents in the process of identity formation? What problems could arise in this context? These questions are to be elaborated and presented on the basis of interdisciplinarily selected, scientifically sound literature. The results show that while on the one hand, social media represent a field of action, in which adolescents may constitute their identity – or identities – in various ways, on the other hand, this field of action always has to be considered in respect of its related problems. In view of the fact that the subject area of social media and identity formation is steadily changing, there is a constant need for further research.
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: SNS-Nutzungsverhalten global
Abb.2: SNS-Nutzungsverhalten Jugend AT
1. Einleitung
Das Konzept der Identität stellt im wissenschaftlichen Diskurs ein häufig behandeltes Thema dar, das eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge eröffnet. Dies lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass Identitätsbildungsprozesse stets zeitlich bedingten, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sowie kulturellen Gegebenheiten unterliegen und somit in ihrer Konzeption als veränderbar erscheinen.
„Wer bin ich?“ Diese Leitfrage sowie viele weitere Ausdifferenzierungen nehmen in unserer (westlichen) multioptionalen, vernetzten Gesellschaft gegenwärtig nach wie vor einen zentralen Stellenwert ein. Menschen sind kontinuierlich dazu angehalten, eigene Identität(en) zu konstituieren und zu behaupten.
Insbesondere die Phase der Adoleszenz kennzeichnet sich durch wesentliche Identitätsbildungsprozesse. Vor dem Hintergrund vernetzter und (mobil) omnipräsenter Medien bilden Heranwachsende neben realweltlicher Interaktion gleichzeitig auch in medialer Interaktion Identität(en) innerhalb sozialer Netzwerke heraus. Social Media lassen sich in diesem Kontext als ein fester Bestandteil hybrider Alltagwirklichkeiten bergreifen – realweltliche und mediale Aktivitäten sind nicht eindeutig voneinander abzugrenzen, vielmehr fallen diese zusammen.
Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, einen wissenschaftlich zeitgemäßen Beitrag zu erbringen, der die Bedeutung von Social Media als erweitertes Handlungsfeld für die Identitätsbildung in der Adoleszenz darstellen soll.
Welche Möglichkeiten bieten Social Media Heranwachsenden im Prozess der Identitätsbildung? Welche Probleme können sich hierbei ergeben?
Anhand interdisziplinär ausgewählter, empirisch fundierter Literatur sollen diese erarbeitet und anschließend analysiert werden. Die Arbeit beschränkt sich hierbei auf ausgewählte Social-Media-Formate, die allerdings erst im weiteren Verlauf herausgearbeitet werden sollen.
Zu Beginn sollen grundlegende Begrifflichkeiten geklärt werden, um ein fundamentales Verständnis für die weitere Bearbeitung zu schaffen (Kapitel 2).
Hierfür wird zunächst aufgezeigt, wie sich der Begriff der Adoleszenz bzw. Jugend fassen lässt, unter welchen Annahmen sich die Adoleszenz bzw. Jugend zu einer eigenen Lebensphase entwickelt hat, welche Merkmale sich kennzeichnend für diese Phase darstellen und wie sie sich von anderen Lebensphasen abgrenzen lässt.
Anschließend soll das Konzept der Entwicklungsaufgaben unter besonderem Bezug auf die Phase der Adoleszenz bzw. Jugend aufgeführt werden. Ursprung, Definierbarkeit, weitere Ausdifferenzierungen und der gegenwärtige Stellenwert des Konzeptes werden hierzu beleuchtet. (Kapitel 2.1)
Im Anschluss nimmt die Analyse sich dem Begriff der Identität und der Frage an, durch welche Prozesse Identität konstituiert wird. Hierfür werden die historischen Entwicklungslinien des Identitätsbegriffs unter Einbezug ausgewählter Theorien (George Herbert Mead und Erik H. Erikson) nachgezeichnet. Besondere Bedeutung wird an dieser Stelle der Betrachtung gegenwärtig bedeutender Ansätze von Identitätsbildungsprozessen (u. a. aus der Postmoderne) beigemessen. Um postmoderne Denkansätze verständlicher darstellen zu können, werden diese durch eine kurze Einführung in die Debatte der Postmoderne ergänzt. Zudem soll ausgemacht werden, welche Räume sich für jene Identitätsbildungsprozesse in der Phase der Adoleszenz bzw. Jugend eröffnen können. (Kapitel 2.2)
Im Anschluss werden die Begriffe „Medien“ und „Sozialisation“ zunächst differenziert erläutert, um diese folglich in einem ambivalenten Verhältnis zueinander zu betrachten: der Mediensozialisation. Anhand verschiedener Zugänge wird versucht, das Feld der Mediensozialisation – unter besonderem Einbezug kultureller Aspekte – zu beschreiben. (Kapitel 3)
Um sich den Theorien der Subjektivität des 21. Jahrhunderts annehmen zu können, sollen vorweg die maßgebenden Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler zur Subjektkonstitution zusammenfassend vorgestellt werden. Auf dieser Grundlage werden dann, unter zunehmendem Bezug zu Medien, ausgewählte Subjektivitätstheorien des 21. Jahrhunderts betrachtet. (Kapitel 3.1)
Schließlich wird das Feld der Social Media eröffnet. Hierzu wird der Begriff „Social Media“ hinsichtlich dessen Funktion erfasst und durch eine ausgewählte Kategorisierung dessen Formen ein allgemeiner Überblick geschaffen. An dieser Stelle wird ersichtlich, weshalb sich das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit insbesondere auf den Bereich von Social Networks richtet. Eine Grafik (2020) visualisiert hierfür die weltweit größten Social Networks und Messenger-Dienste nach Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer. Abschließend wird aufgeführt, inwiefern sich Social Media als technisch konstruierter Raum darstellen und inwieweit dieser „geformt“ wird. (Kapitel 3.2)
Nachdem nun ein fundamentales Verständnis geschaffen wurde, werden Identitätsbildungsbildungsprozesse in der Adoleszenz und Social Media schließlich zusammengeführt. Eine Grafik (2020) veranschaulicht an dieser Stelle das Nutzungsverhalten Heranwachsender in Bezug auf Social Networks in Österreich. (Kapitel 4)
Letztlich werden die Möglichkeiten (Kapitel 4.1) und Probleme (Kapitel 4.2), die sich im Prozess der Identitätsbildung für Heranwachsende durch Social Media bzw. Social Networks ergeben, herausgearbeitet und präsentiert.
2 Grundlagen
2.1 Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
Zu Beginn soll sich dem Begriff der Adoleszenz oder Jugend grundlegend angenähert werden. Wie lässt sich dieser Begriff fassen? Vor welchem Hintergrund hat sich die Adoleszenz bzw. Jugend zu einer eigenständigen Lebensphase entwickelt? Durch welche Merkmale lässt sich diese Lebensphase kennzeichnen und von anderen Lebensphasen abgrenzen?
Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Lebensphase der Adoleszenz oder Jugend als eine wissenschaftlich und kulturell definierte Kategorie betrachtet werden muss. Altersmäßig junge Menschen existieren zwar in jeder Gesellschaft, die Phase der Adoleszenz oder Jugend allerdings nicht – sie ist ein sozial und kulturell geschaffenes Konstrukt und somit veränderbar. Infolgedessen lässt sich der Begriff der Adoleszenz und der Jugend weder eindeutig noch als selbstverständlich bestimmen und muss stets im Kontext geschichtlicher sowie gesellschaftlicher Aspekte betrachtet werden. (Vgl. Luedtke 2018: 205)
In Folge wesentlicher Veränderungen der Produktions- und Sozialstruktur in Europa, während der Ablösung der Agrar- durch die Dienstleistungsgesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, entwickelte sich eine neue, eigenständige Lebensphase: die Adoleszenz oder Jugend. Veränderungen wie die zunehmende Sphärenteilung zwischen Haushalt und Erwerbsarbeit und die damit einhergehende Arbeitsteilung wirkten sich drastisch auf die vorherrschende Familienstruktur aus. Als weitere Merkmale gesellschaftlicher Entwicklungen, welche Adoleszenz oder Jugend als eigenständige Lebensphase bestimmten, sind das lebenslange Lernen, die Selbstgestaltung des Lebens, sowie die verlängerte Ausbildungszeit zu nennen. (Vgl. Grob/Jaschinski 2003: 13 f.)
Die Begriffe der Adoleszenz und der Jugend lassen sich gleichbedeutend für den Lebensabschnitt zwischen dem Ende der Kindheit und dem Beginn des Erwachsenenalters verwenden. Diese Lebensphase umfasst in etwa das Alter von 10 bis 20 Jahren. (Vgl. ebd.: 12) Nach deutschem Jugendschutzgesetz (§ 1 Begriffsbestimmungen) wird der Lebensabschnitt der Jugend mit dem Altersbereich von 14 bis 17 Jahren definiert (vgl. O.V. o. J.).
Der Lebensabschnitt der Adoleszenz oder Jugend lässt sich insofern nur durch vergleichsweise unbestimmte Altersgrenzen fassen. Zudem kennzeichnet sich dieser Lebensabschnitt durch eine ausgeprägte interne Differenzierung – z. B. durch Jugendkulturen, Geschlecht oder ethnische und soziale Herkunft. (Vgl. Luedtke 2018: 205)
Die Phase der Jugend kann als eine Phase des Übergangs oder der Transition betrachtet werden: der Übergang vom Kind zum Jugendlichen und vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Nach Eintreten der Pubertät, gekennzeichnet durch die Geschlechtsreife, gilt die Phase der Kindheit als abgeschlossen. Der Beginn der Jugend wird durch biophysiologische Veränderungen, gefolgt von psychischen Auswirkungen, bestimmt. Psychische Auswirkungen können beispielsweise die Abgrenzung der Familie, ein verändertes Körpergefühl oder Schamgefühle darstellen und erfordern eine psychische Bewältigung. Die Phase der Jugend ist aus soziologischer Sicht dann beendet, wenn bestimmte (vorhergesehene) „Rollen“ in einer Gesellschaft von den Heranwachsenden übernommen worden sind. Rollenvorstellungen können z. B. durch den Beruf oder durch die Partnerschaft bzw. Ehe bestimmt sein. Aus psychologischer Perspektive betrachtet ist die Phase der Jugend dann abgeschlossen, wenn die Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz erfolgreich bewältigt wurden. (Vgl. Grob/Jaschinski 2003: 12–18)
Im folgenden Abschnitt soll deshalb das Konzept der Entwicklungsaufgaben, unter besonderer Beachtung der Phase der Adoleszenz, vorgestellt werden. Hierzu werden der Ursprung, die Definierbarkeit, weitere Ausdifferenzierungen und der gegenwärtige Stellenwert des Konzeptes betrachtet.
Über den gesamten Lebenslauf hinweg, vor allem bei einschneidenden Krisen oder biografischen Umbrüchen und Übergängen, wird das Individuum ständig mit unbekannten Situationen konfrontiert, die jeweils bestimmte Handlungsformen zur Bewältigung erfordern. Besonders die Phase der Adoleszenz ist gekennzeichnet durch eine dichte Abfolge an Bewältigungskrisen. Zur Orientierung und Analyse dieser Prozesse eignet sich das sozialisationstheoretische Konzept der Entwicklungsaufgaben. (Vgl. Havighurst 1953: 111; Vgl. Hurrelmann/Bauer 2018: 106)
Ursprünglich wurde das Konzept der Entwicklungsaufgaben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Erziehungswissenschaftler und Soziologen Robert J. Havighurst (1900–1991) begründet und anschließend immer weiter ausdifferenziert (siehe Havighurst 1953). Mittlerweile gilt das Konzept der Entwicklungsaufgaben, wie u. a. in den Arbeiten von (Fend/Fend 1994), (Hurrelmann 2018) oder (Quenzel 2015) deutlich wird, als „[…] eines der theoretisch entfalteten und empirisch gut begründeten Schlüsselkonzepte in der Entwicklungspsychologie, der Sozialisationsforschung und der Pädagogischen Psychologie“ (Braun 2020: 155).
Dieses lässt sich vor allem in den psychologischen Theorien von Robert J. Havighurst und Urie Bronfenbrenner, aber auch in den soziologischen Theorien von Lothar Krappmann und Jürgen Habermas wiederfinden. Das Konzept ermöglicht es, soziale Anforderungen und die jeweils individuellen Entwicklungsverläufe ins Verhältnis zu setzen, sowie bestimmte Etappenziele der Entwicklung zu identifizieren. (Vgl. Hurrelmann/Bauer 2018: 106)
Havighurst definiert Entwicklungsaufgaben wie folgt:
“A developmental task is a task which arises at or about a certain period in the life of the individual, successful achievement of which leads to his happiness and to success with later tasks, while failure leads to unhappiness in the individual, disapproval by the society, and difficulty with later tasks.“ (Havighurst 1953: 2)
Hurrelmann fasst Entwicklungsaufgaben in Anlehnung daran als die für die verschiedenen Altersabschnitte typischen körperlichen, psychischen und sozialen Anforderungen und Erwartungen der sozialen Umwelt an die Individuen zusammen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2016: 24).
Physiologische Reifung, Umwelteinflüsse bzw. normative Erwartungen der Gesellschaft und individuelle Ziele und Vorstellungen lassen sich als Quellen von Entwicklungsaufgaben festmachen. Voraussetzung für deren Bewältigung ist eine erfolgreiche Abstimmung von biologischen und psychischen Anforderungen der inneren Realität mit den ökologischen und gesellschaftlichen Anforderungen der äußeren Realität. Hierbei gelten die biologischen und psychischen Anforderungen der inneren Realität in den verschiedenen Lebensabschnitten als universal und sind daher in allen Kulturen, nach vorwiegend vorgegebenen Mustern, zu bewältigen. Die ökologischen und gesellschaftlichen Anforderungen der äußeren Realität unterscheiden sich dagegen bedeutend in Bezug auf die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen und den Entwicklungsstand einer Gesellschaft. (Vgl. Mienert 2008: 32 f.)
Havighurst teilt den verschiedenen Lebensphasen vom Säuglingsalter bis ins späte Erwachsenenalter konkrete Entwicklungsaufgaben zu. Wesentliche Anforderungen des Jugendalters sind nach Havighurst der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen verschiedenen Geschlechts, die Übernahme der eigenen Geschlechtsrolle, das Akzeptieren des eigenen Körpers, die Loslösung und emotionale Unabhängigkeit von den Eltern oder anderen Betreuungspersonen, die ökonomische Unabhängigkeit, die Berufswahl und -ausbildung, die Vorbereitung auf Heirat und Familienleben, der Erwerb intellektueller Fähigkeiten, die Entwicklung sozialverantwortlichen Handelns sowie der Erwerb eines ethischen Systems und von Werten als Orientierung für das eigene Verhalten. (Vgl. Havighurst 1953: 111–158)
Verschiedene Untersuchungen zu den Entwicklungsaufgaben, mit welchen sich die heutige Jugend konfrontiert sieht, zeigen, dass einige der von Havighurst genannten Aufgaben zwar gegenwärtig nicht mehr gleichermaßen gültig sind und eine Überarbeitung erfordern, inhaltlich aber dennoch weiterhin eine bedeutende Ähnlichkeit zueinander aufweisen (vgl. Eschenbeck/Knauf 2018: 25f). Die Auffassung, die Entwicklung eines Menschen würde chronologisch ablaufen und demnach gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen widerspiegeln, ist jedoch – vor allem durch Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse – als überholt anzusehen (vgl. Mienert 2008: 34).
Nach Hurrelmann lassen sich die Entwicklungsaufgaben in vier unterschiedliche Bereiche einteilen: Qualifizieren, Binden, Konsumieren und Partizipieren. Qualifizieren meint an dieser Stelle den Aufbau intellektueller und sozialer Kompetenzen, Binden meint den Aufbau einer eigenen Geschlechtsidentität und eine Partnerbindung, Konsumieren die Fähigkeit zur Nutzung von verschiedenen Konsumangeboten und Partizipieren die Entwicklung politischer Teilhabe und den Aufbau eines eigenen Wertesystems. (Vgl. Hurrelmann/Quenzel 2013: 41) Der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen gilt dann als abgeschlossen, wenn die verschiedenen Aufgabenbereiche erfolgreich durchlaufen und eine Mitgliedsrolle in der Gesellschaft übernommen wurde (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2016: 38).
Der Pädagoge und Psychologe Helmut Fend klassifiziert Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz in drei Bereiche: den intrapersonalen, den interpersonalen und den kulturell-sachlichen Bereich. Der Bereich der intrapersonalen Art ergibt sich aus den inneren (physiologischen und psychologischen) Veränderungen in der Adoleszenz, unter dem interpersonalen Bereich lässt sich das gesamte soziale Beziehungsgefüge eines Individuums subsumieren und der kulturell-sachliche Bereich stellt die Gesamtheit kultureller Ansprüche, Vorgaben und Entwicklungsmöglichkeiten dar. Diese drei Aufgabenbereiche werden durch das übergeordnete Ziel, die Erarbeitung der eigenen Identität, zusammengehalten. Identitätsbildung meint an dieser Stelle, ein bewusstes Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt zu konstruieren, sowie sich in der vorgegebenen Kultur verorten zu können. Gegenwärtig lässt sich die Konstruktion der eigenen Identität als zentrale Entwicklungsaufgabe in der Jugend betrachten. (Vgl. Fend 2005: 211)
In den empirischen Studien von Dreher und Dreher (vgl. 1985: 36) zu den Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz lässt sich feststellen, dass die von Havighurst genannte Entwicklungsaufgabe des Erwerbs sozialverantwortlichen Handelns nicht mehr als solche aufgeführt wird, anstelle dessen aber die Entwicklungsaufgaben Aufnahme intimer Beziehungen zur Partnerin bzw. zum Partner, Entwicklung einer Zukunftsperspektive und Entwicklung der eigenen Identität hinzugefügt worden sind. Zudem wird ersichtlich, dass Jugendliche den Kategorien Beruf, Identität und Peerbeziehungen als Entwicklungsaufgaben die höchste Bedeutung beimessen (vgl. ebd.: 40).
Zusammenfassend ergibt sich, dass das ursprünglich von Havighurst begründete Konzept der Entwicklungsaufgaben nach wie vor in vielen Bereichen einen bedeutsamen Stellenwert einnimmt, inhaltlich aber stellenweise als überholt anzunehmen ist und folglich einer zeitgemäßen Betrachtung bedarf. Aus den zuvor aufgeführten Perspektiven wird ersichtlich, dass der im Laufe der Zeit neu hinzugekommenen Herausforderung der Identitätsbildung von Heranwachsenden besondere Bedeutung beigemessen wird. Die Bildung der eigenen Identität lässt sich insofern als zentrale Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz festhalten.
2.2 Identitätsbildungsprozesse
Wie lässt sich der Begriff der Identität beschreiben? Durch welche Prozesse konstruiert sich Identität? Hierfür sollen die Entwicklungslinien des Identitätsbegriffs durch die Vorstellung ausgewählter, historisch bedeutender Identitätsbildungstheorien und einer anschließenden Betrachtung neuerer Ansätze von Identitätsbildungsprozessen u. a. aus der Postmoderne nachgezeichnet werden. Der historische Rückblick wird sich auf die Vorstellung von zwei klassischen Ansätzen der Soziologie und der Psychoanalyse begrenzen, um den Fokus auf zeitgemäße Anschauungen des Identitätskonzeptes zu setzen. Um postmoderne Denkansätze besser nachvollziehen zu können, wird ein kurzer Einblick in die Debatte der Postmoderne vorangestellt. Abschließend soll außerdem geklärt werden, welche Räume sich für jene Identitätsbildungsprozesse in der Phase der Adoleszenz ergeben können.
Als klassische Identitätstheorie der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung soll George Herbert Mead (1863–1931) mit seinem Schlüsselwerk „Geist, Identität und Gesellschaft“ aufgeführt werden (siehe Mead/Morris 2017). Identität konstruiert sich nach Mead durch die Fähigkeit der Rollen- und Perspektivübernahme. Das Subjekt lernt, ein Verhältnis zu sich selbst einzunehmen, indem es durch das Hineinversetzen in die Rollen anderer und die Antizipation dessen Verhaltens gleichzeitig sich selbst betrachtet. Erst durch dieses wechselseitige Interpretieren von Handlungen kann sich das Subjekt seines Selbst bewusst werden. Als Mittel zur Verständigung fungiert die Sprache: Mead beschreibt Kommunikation als die Verwendung der gleichen Symbole in der Sprache. Identitätsentwicklung findet nach Mead konkret durch zwei verschiedene Spielformen während der Kindheit statt: dem Spiel (play) und dem Wettkampf (game). Im Spiel übernimmt das Kind Rollen von wichtigen Bezugspersonen, den signifikanten Anderen, im Wettkampf lernt das Kind in Interaktion mit den generalisierten Anderen die Haltungen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu antizipieren und zu koordinieren. (Vgl. ebd.: 187–216) Das Selbst (self) eines Individuums konstituiert sich nach Mead durch zwei zentrale Instanzen: das I und das me. Das me lässt sich als soziale Identität beschreiben und umfasst die Erfahrung gesamtgesellschaftlicher Erwartungen an das Subjekt. Das I als personale Identität repräsentiert die Ausdrücke unbewusster, impulsiver Bedürfnisse des Subjekts. (Vgl. ebd.: 216–221)
Als grundlegender psychoanalytisch orientierter Ansatz der Identitätsbildung gilt es Erik H. Erikson (1902-1994) mit seinem Schlüsselwerk „Identität und Lebenszyklus“ vorzustellen (siehe Erikson 2017). Erikson vertritt hier die Auffassung, dass der Lebenslauf eines Menschen von verschiedenen Phasen geprägt ist, in welchen spezifische Entwicklungsaufgaben an das Individuum gestellt werden und bewältigt werden müssen. Die Bewältigung dieser altersspezifischen Anforderungen erfolgt nach einer bipolaren Struktur: Krisen, die erfolgreich bewältigt wurden, tragen zu einer Förderung der Persönlichkeitsstruktur des Individuums bei, das Scheitern an Herausforderungen dagegen kann die Persönlichkeitsstruktur beeinträchtigen oder gar schädigen. Diesen Entwicklungsprozess bezeichnet Erikson als epigenetisches Wachstum. (Vgl. ebd.: 55–122) Die Phase der Adoleszenz markiert nach Erikson die zentrale Entwicklungsaufgabe der Identitätsbildung oder -diffusion. In dieser Phase werden bisher erfahrene Identifizierungen und Sicherheiten von Heranwachsenden erstmals kritisch reflektiert und es wird alles daran gesetzt, die eigene soziale Rolle zu festigen, u. a. um das starke Bedürfnis der Zugehörigkeit und Anerkennung zu befriedigen. Gelingt es den Heranwachsenden, diese Erfahrungen in ihren Lebenskontext zu integrieren, resultiert daraus ein differenziertes Verhältnis zum eigenen Selbst – Identität wird konstruiert. Wird diese Integration jedoch gestört, z. B. durch vermehrte soziale Ablehnung, kann dies eine Beeinträchtigung für die Prozesse der Identitätsbildung bedeuten und damit eine Identitätsdiffusion initiieren. Identität ist nach Erikson als Prozess konzipiert und dementsprechend veränderbar. (Vgl. ebd.: 106–117)
Als weitere klassische Schlüsselwerke der Identitätsforschung lassen sich u. a. Sigmund Freuds Strukturmodell in „Das Ich und das Es“, Jaques Lacans „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, Ervin Goffmans „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“, Jürgen Habermas’ „Identität, Kommunikation und Moral“ oder Talcott Parsons Persönlichkeitstheorie nennen (siehe Jörissen/Zirfas 2010).
Der Eingang in die Postmoderne lässt sich auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998) zu Beginn der 1980er Jahre zurückführen (siehe Lyotard 1999). Ob und zu welchem Zeitpunkt von einem Ende der Postmoderne auszugehen ist oder ob gegenwärtig nach wie vor von einer Postmoderne gesprochen werden kann, ist in wissenschaftlichen Diskursen umstritten und lässt deshalb auch keine genaue Fassung des Begriffes der Postmoderne zu. Grundlegend ist anzunehmen, dass die Postmoderne einerseits als soziologischer Epochenbegriff, der eine spezifische Gesellschaftsformation meint, und andererseits als wissenschaftliche, erkenntnistheoretische und vor allem gesellschaftskritische Denkbewegung verstanden werden kann. Wenn von Postmoderne als Epochenbegriff ausgegangen wird, könnte tatsächlich von einer postmodernen Gegenwart (Globalisierung, Macht der Finanzmärkte, Wissensgesellschaft etc.) vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen nach der Moderne (Industrialisierung, Individualisierung etc.) gesprochen werden. (Siehe u. a. Baudrillard 1981) Von größerer Bedeutung für die Identitätsforschung erscheint die Postmoderne jedoch als kritische Denkbewegung gegen moderne Grundannahmen. An dieser Stelle richten sich postmoderne Denkansätze gegen die Erzählungen von „Aufklärung“, „Vernunft“ oder „Fortschritt“ sowie gegen moderne Universalisierungen (bei gleichzeitiger globaler Ungleichheit) und plädieren stattdessen für das Partikulare, Vielfalt und Heterogenität. (Siehe u. a. Bauman/Ahrens 1994)
Die zuvor angenommene konsistente und statische Erscheinung von Identität löst sich mit der Annahme von Veränderbarkeit zunehmend auf und wird mit den Perspektiven der Postmoderne als ein nicht abschließbarer Prozess, in welchem sich das Individuum in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt befindet, beschrieben (vgl. Kammerl 2017: 38 f.). Seit dem Eingang in die Postmoderne wird Identität nicht mehr als ein homogener Entwurf aufgefasst, vielmehr ist die Rede von multiplen, pluralen Subjekten, die sich aus verschiedenen Teilidentitäten zusammensetzen. Seither werden in wissenschaftlichen Diskursen besonders identitätsrelevante Auswirkungen gesellschaftlicher Prozesse der Enttraditionalisierung und Individualisierung hin zu einer Multioptionsgesellschaft zunehmend thematisiert. (Siehe u. a. Lyotard 1999; und in Folge u. a. Keupp 1999)
Entgrenzungsprozesse können Unsicherheiten für das Subjekt mit sich bringen. Individualisierung meint nach Ulrich Beck (1993: 150) deshalb „[…] erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern müssen.“ Die Soziologen Beck und Anthony Giddens sprechen im Kontext jener krisenhaften Umbruchssituationen von einer „zweiten“ oder auch „reflexiven“ Moderne (siehe Beck et al. 2014).
Neben den Herausforderungen, die sich aus der zunehmenden Auflösung traditionell verfestigter Lebensformen und eingespurter Biografien für das Subjekt ergeben, eröffnet diese jedoch gleichzeitig neue Freiheiten und Wahlmöglichkeiten für die Lebensgestaltung des Individuums. Ein Risiko kann die zunehmende Offenheit der Lebensgestaltung für das Subjekt darstellen: Entscheidungen wie z. B. die Berufswahl werden nicht mehr durch Aspekte der Herkunft geregelt, sondern unterliegen der jeweiligen Eigenverantwortung. Dies kann vor dem Hintergrund der Vielfalt an Optionen, insbesondere während der Phase der Adoleszenz, die maßgeblich von Identitätsbildungsprozessen und Entscheidungen geprägt ist, zur Überforderung und Belastung der Individuen führen. Gleichzeitig hält die Auflösung gesellschaftlicher Erwartungen – etwa an zeitlich festgelegte Abläufe des Lebens, Bildungs- und Berufsorientierungen oder Gender-Rollen – weitaus mehr Interpretationsmöglichkeiten und Freiheiten für das Individuum bereit. (Vgl. Süss 2004: 49)
Ganz dem Leitbild des unternehmerischen Selbst entsprechend, ist das Individuum dazu angehalten, sein Leben aktiv und in Eigeninitiative durch eine optimale Organisation zu gestalten (siehe Bröckling 2007).
Nach postmodernem Verständnis erscheint Identität nicht mehr vor dem Hintergrund psychischer Repräsentanz und sozialer Anforderungen, sondern wird in seiner Pluralität im Rahmen verschiedener disziplinärer Ansätze wie der Genderforschung, Cultural Studies, der Medienforschung oder Bildungstheorie thematisiert (vgl. Zirfas 2010: 13).
Dem Psychologen Kenneth J. Gergen nach lässt sich die Postmoderne grundlegend durch das Verschwinden einer individuellen Grundlage der Einzelnen bzw. des Einzelnen kennzeichnen. Die zuvor weitgehend festgelegten sozialen Rollen lösen sich mit dem Umbruch von Moderne zu Postmoderne zunehmend auf und das Individuum ist dazu angehalten, die eigene Identität ständig neu zu formen und an situative Gegebenheiten anzupassen. Das Subjekt wird den zuvor gegebenen traditionellen Sicherheiten und Orientierungen für den Prozess der Identitätsbildung entrissen und muss sich in einer Welt der Vielfalt und der Möglichkeiten zurechtfinden. (Vgl. Gergen/May 1996: 230 f.) Identität wird nach postmoderner Auffassung nicht mehr über eine bestimmte Kernidentität definiert, sondern ist nach Gergen (vgl. ebd.: 246f.) vielmehr als gemischte Persönlichkeit zu verstehen. Gergen (ebd.: 247) beschreibt diese gemischte Persönlichkeit metaphorisch als „[…] ein soziales Chamäleon, das sich fortwährend Teile von Identitäten jeglicher verfügbaren Quellen ausleiht und sie nach Nutzen oder Wunsch für die jeweilige Situation konstruiert.“ Neben einigen anderen Konzepten der Identität versteht auch Gergens Theorie Identität als Prozess einer narrativen Konstruktion. Identitätsbildung durch Narration meint grundsätzlich, dass sich das Subjekt durch das Erzählen und Teilen von eigenen, aber auch sekundären Erfahrungen zunehmend über sein Selbst bewusst werden kann und dieses schließlich zu definieren vermag. (Siehe Gergen/Gergen 1997)
Stuart Hall (1994: 66) spricht in seinen Schriften „Rassismus und kulturelle Identität“ von Identität als „[…] Schnittpunkt, an dem sich ein Ensemble neuer theoretischer Diskurse überschneidet und ein Ensemble neuer kultureller Praktiken entsteht.“ Das postmoderne Verständnis von Identität beschreibt er dabei als „[…] die Vorstellung einer kontinuierlichen, sich selbst genügenden, sich entwickelnden und entfaltenden inneren Dialektik des Ich“ (ebd.: 67). Identität befindet sich nach Hall in einem ständigen Prozess der Herausbildung. Zugleich beinhalten Identitätskonstruktionen immer Prozesse der Identifikation. Die Struktur der Identifikation konstruiert sich durch Ambivalenzen, die darüber entscheiden, welcher sozialen Gruppe das Subjekt angehörig zu sein hat. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ändern sich diese Grenzziehungen jedoch: Was zuvor durch sichtbare Trennlinien eindeutig unterschieden wurde, ist nun auch stets Teil unseres eigenen Selbst. Denn nur durch die Haltungen und Blicke anderer lässt sich nach Hall das eigene Ich erfahren. Identität wird immer aus der Position anderer heraus erzählt. So hat die Vorstellung davon, anhand welcher Merkmale Menschen zu unterscheiden gelten, lediglich einen anderen Ausdruck gefunden. Zudem beschreibt Hall Identität als Narration, als eine Art der Repräsentation. Identität wird darüber konstruiert, was im eigenen Ich durch Narration geltend wird. (Vgl. ebd.: 72–74)
Wie die Mehrheit neuerer Zugänge der Identitätsforschung beschreibt auch der Sozialpsychologe Heiner Keupp Identitätsbildung als prozessualen Verlauf, der sich neben seiner zentralen Bedeutung während der Adoleszenz fortlaufend über den ganzen Lebensverlauf vollstreckt. Identitätsarbeit geschieht in ständiger Verknüpfungsarbeit, bei der das Subjekt sich selbst durch eigene, situationelle Erfahrungen zu begreifen lernt. Nach Keupp ordnet das Subjekt jene Erfahrungen zeitlichen, inhaltlichen sowie lebensweltlichen Dimensionen zu. Zeitliches verknüpft an dieser Stelle Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem, lebensweltlich meint das Erfahren des eigenen Selbst in verschiedenen Rollen und die inhaltliche Perspektive stellt Verbindungen zwischen Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Erfahrungen her. (Vgl. Keupp 1999: 190 f.) Ergebnis der Integration jener Erfahrungen stellt das Selbstbild des Subjektes dar, welches durch verschiedene Teilidentitäten strukturiert ist und sich nicht durch eine konsistente Identität kennzeichnen lässt (vgl. ebd.: 218). Keupp (1999) spricht in diesem Kontext vom „Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne.“
Mit einer anthropologischen und überwiegend phänomenologischen Betrachtung wenden sich die Erziehungswissenschaftler Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen von den klassischen Ansätzen des Identitätsbegriffs endgültig ab und bemühen sich deshalb weniger um ein fest umrissenes Bild von Identität, sondern vielmehr um Problematisierungsfelder, die konstitutiv für den Identitätsbegriff angenommen werden müssen. Denn es sind die Schwierigkeiten in diversen Lebenssituationen, die eine Reflexion des Identitätsgedanken notwendig machen. Hierfür soll versucht werden, die Strukturen und Sinndimensionen des Identitätsbegriffs zu eruieren und weniger den Begriff als solchen zu definieren. Nach Zirfas und Jörissen stellt Identität eine performative Konstruktion dar, welche einer ständigen Überarbeitung unterliegt und deren Effekte jeweils changieren. Identität wird „performiert“ und kann als spezifischer Raum der Selbstvergewisserung, in dem sich Individuen ihrer Handlungen, Traditionen und Ziele versichern, verstanden werden. Identitätsdiskurse lassen sich zudem als Begleiterscheinungen des kulturellen Wandels, der Reaktionen auf mediale und politische Prozesse und als Folge einer Temporalisierung von Lebens- und Sozialformen begreifen. Das Konzept der Identität muss deshalb stets unter Einbeziehung bestehender gesellschaftlicher Gegebenheiten betrachtet werden. Zudem gilt anzumerken, dass das Modell der Identität sich Momente der Macht gegenüber den Subjekten sichert, die dieses permanent begehren, jedoch aufgrund dessen Unschärfe und Ungreifbarkeit nie vollends erreichen können. (Vgl. Zirfas/Jörissen 2007: 11–17) Mit der Diskussion jener Machtdiskurse wird sich diese Arbeit im späteren Verlauf noch tiefer auseinandersetzen.
Als weitere Autoren, die sich seit dem Eingang der Postmoderne mit der Konzeptualisierung von Identität auseinandergesetzt haben, können u. a. Jacques Derrida, Michel Foucault, Wolfgang Welsch, Homi K. Bhaba oder Judith Butler genannt werden (vgl. Zirfas 2010: 12 f.).
Die verschiedenen Zugänge der Identitätsforschung zeigen, dass der Begriff Identität in seiner Konzeption sehr unterschiedlich aufgefasst und dargestellt werden kann. Diese Veränderbarkeit unterliegt vor allem zeitlich bedingten, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sowie kulturellen Gegebenheiten. Aus diesem Grund sollten Identitätsbildungsprozesse stets unter den genannten Kriterien betrachtet werden, während zugleich von einer endgültigen, universellen Definition des Identitätsbegriffes abgesehen werden sollte.
Welcher Raum bietet sich für jene Identitätsbildungsprozesse in der Phase der Adoleszenz? Identitätsräume sind als Räume der Präsentation und (Re-)Produktion von Subjekten zu verstehen, die durch verschiedene Grenzziehungen eingerahmt werden. Vermeintlich biologische Grenzen wie Körperlichkeit und Sexualität, aber auch geografische Herkunftslinien können gesellschaftliche Identitätsvorstellungen maßgeblich bestimmen. Jene sozial konstruierten Identitätsvorstellungen stellen sich als machtvolle Diskurse – wie um Gender oder Ethnie – in Gesellschaften dar. Medien lassen sich als zentrale Vermittler dieser Diskurse annehmen: Sie (re-)produzieren diese, stabilisieren deren wirkmächtige Präsentation und produzieren und reflektieren gleichzeitig die Veränderung jener Räume, deren Grenzverschiebungen und wandelnde Identitätskonzepte. (Vgl. Hipfl et al. 2004: 9 f.) Im Prozess der Identitätsbildung bietet die soziale Umwelt eine wichtige Orientierung für Heranwachsende. Neben traditionellen Sozialisationsinstanzen wie der Familie, den Peer-Groups oder der Schule bieten Medien als vierte Sozialisationsinstanz Raum für Identitätsbildung. (Vgl. Schorb 2006: 149)
Die Grenzen zwischen den Sozialisationsinstanzen lassen sich nicht eindeutig bestimmen, vielmehr durchdringen sich diese gegenseitig. Vor dem Hintergrund mediatisierter Alltagswelten ist zu beobachten, dass vor allem Medien mit anderen Sozialisationsinstanzen einhergehen bzw. diese begleiten und damit Sozialisationsprozesse Heranwachsender bedeutend mitgestalten. So sind z. B. Kommunikations- und Handlungspraktiken innerhalb der Peer-Groups vielfältig mit medialen Angeboten verknüpft. Zwischen jenen realweltlichen und virtuellen Räumen findet keine direkte Trennung statt, stattdessen werden diese aktiv miteinander vernetzt und gehen ineinander über – es lässt sich von hybriden Räumen sprechen. (Vgl. Theunert/Schorb 2010: 247 f.)
3 Medien und Sozialisation
Im Folgenden sollen zunächst die grundlegenden Begriffe „Medien“ und „Sozialisation“ vorgestellt werden, um anschließend das Feld der Mediensozialisation näher zu betrachten. Hierfür werden verschiedene Zugänge untersucht, unter besonderem Fokus auf den Gegenstand der Kultur.
Vorweg gilt es zu erwähnen, dass Medien in der Fachliteratur wie auch in der Öffentlichkeit kontroversen Diskursen unterliegen. Grundlegend können an dieser Stelle drei normative Haltungen gegenüber Medien unterschieden werden: der Kulturpessimismus, die euphorische Medienpromotion und der kritische Medienoptimismus. Der Kulturpessimismus beschäftigt sich überwiegend mit den möglichen Risiken und negativen Einflüssen von Medien. Dementgegen thematisiert die euphorische Medienpromotion vor allem die Ressourcen, die Medien bieten können. Als neutrale Position lässt sich der kritische Medienoptimismus begreifen – dieser betrachtet Medien als festen Bestandteil der Kultur und erklärt den Umgang mit Medien zur Kulturtechnik. (Vgl. Süss 2004: 15–17) Die vorliegende Arbeit versucht, sich in dieser Frage möglichst neutral zu positionieren, um einen kritischen Blick auf die einzelnen Aspekte werfen zu können.
Unter Medien (lat. „medium“ = „das Mittlere“, „Mittel“, „Vermittler“) lässt sich zunächst ein „[…] vielfältig auch im Alltag verwendeter Begriff für die Kommunikationsmedien, insbesondere Sammelbegriff für die verschiedenen aktuellen Massenmedien“ verstehen (Bentele et al. 2013: 201). Dieser findet in verschiedenen interdisziplinären Diskursen wie beispielsweise in der Medienpädagogik oder der Medien- und Kommunikationswissenschaft vielfältige Anwendung. Medien können in ihrer Erscheinungsform unterschiedlich eingeteilt werden, z. B. nach ihrer technisch-materiellen Form (Schreib-, Druck- bzw. Print-, Funk-, Bild-Medien oder elektronische Medien sowie Netzmedien). (Vgl. ebd. f.)
Der Begriff der Sozialisation bezeichnet nach Hurrelmann (2018: 15)
„[…] die Persönlichkeitsentwicklung als eine ständige Interaktion zwischen individueller Entwicklung und den umgebenden sozialen Strukturen, wobei diese Interaktionserfahrungen aktiv und produktiv verarbeitet und sowohl mit den inneren körperlichen und psychischen als auch mit den äußeren sozialen und physischen Gegebenheiten permanent austariert werden.“
Sozialisation erfolgt demzufolge als eine aktive Auseinandersetzung und Mitgestaltung des Individuums mit bzw. an der Umwelt. Sozialisationsprozesse sind dabei nicht direkt auf altersspezifische Phasen beschränkt, sondern können sich über den gesamten Lebensverlauf erstrecken. Nichtsdestotrotz lassen sich Sozialisationsprozesse besonders häufig in den Phasen der Kindheit und Jugend beobachten. (Vgl. Süss et al. 2018: 19)
Vor dem Hintergrund einer Mediatisierung der Alltagswelt (siehe u. a. Hartmann/Hepp 2010) nehmen Medien einen besonderen Stellenwert als sozialisierende Instanz für Heranwachsende ein. Mediatisierung (oder Medialisierung) beschreibt „[…] allgemein Veränderungen, die durch Medien und ihre Logiken in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen oder kulturellen Lebenswelten ausgelöst oder befördert werden“ (Bentele et al. 2013: 200).
In diesem Zusammenhang umfasst der Begriff der Mediensozialisation all jene Aspekte, die für die psychosoziale Entwicklung in der Phase der Adoleszenz von Bedeutung sind (vgl. Süss et al. 2018: 19).
Der Medienpsychologe Daniel Süss und die Publizistik- und Kommunikationswissenschaftlerin Eveline Hipeli betrachten Medien als erweiterte, soziale Handlungsräume, in welchen Heranwachsende Identität(en) erproben und erarbeiten können. Die Phase der Adoleszenz kennzeichnet sich insbesondere durch den Umbau sozialer Beziehungen – der Ablösung von den Eltern, der Betreuungsperson oder den Betreuungspersonen und der Zuwendung zu Gleichaltrigen, den Peer-Groups. Der Kontakt zu den Peers wird neben realweltlichen Interaktionen auch über mediale Interaktionen gepflegt sowie gestaltet. Das Erschließen gesellschaftlicher Handlungsspielräume durch Mediennutzung kann den Jugendlichen im Sozialisationsprozess verschiedene Möglichkeiten eröffnen, zugleich aber auch Probleme mit sich bringen. (Vgl. Süss/Hipeli 2010: 142–148)
Anhand einer Langzeitstudie zur Rolle von Medien in der Sozialisation sozial benachteiligter Heranwachsender plädiert die Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink für ein Verständnis von Medien, das diese nicht isoliert als Ursache oder Auslöser für „gescheiterte“ Sozialisationsprozesse begreift, sondern stets die gesamte lebensweltliche Situation betrachtet und miteinbezieht (siehe Paus-Hasebrink et al. 2017).
Der Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge Ben Bachmair (2010: 67) beschreibt Sozialisation als „[…] die nachhaltige und typische Persönlichkeitsentwicklung in Gesellschaften.“ Welche Sozialisationsformen an dieser Stelle einzubeziehen sind, muss in Abhängigkeit davon geschehen, welche dieser Formen sich vor spezifischem historischem bzw. kulturellem Hintergrund als wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung ergeben. Neben dieser Betrachtung von wirkmächtigen Formen der Sozialisation ist für Bachmair vor allem der gesellschaftliche Ort, an welchem sich Mediensozialisation überhaupt ereignet – für unsere (westliche) Gesellschaft ist das Alltagsleben gemeint –, von besonderem Forschungsinteresse. Kultur bildet sich nach Bachmair durch individuelle und kollektive Gestaltungsprozesse heraus, die wiederum kulturelle Produkte oder Objektivationen wie z. B. bestimmte Institutionen hervorbringen. Menschen konstruieren sich demnach durch das Herstellen bestimmter, kulturell geltender Werte und Normen eine eigene Wirklichkeit. Mitglieder einer Gesellschaft sind dazu angehalten, sich an jenen vorgegebenen Mustern und Regeln dieser sozial konstruierten Wirklichkeit zu orientieren und das Leben entsprechend zu gestalten. Medien können an dieser Stelle als selbst produzierendes und gleichzeitig vermittelndes sowie stabilisierendes Feld sozial konstruierter Wirklichkeit verstanden werden. So lässt sich auch für eine bestimmte Medienkultur eine bestimmte Art von Persönlichkeit bzw. Subjektivität als „typisch“ annehmen. Diese bildet sich mehr oder weniger durch die Mediensozialisation heraus. (Vgl. ebd.: 67–69)
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- Katharina Hofer (Author), 2021, Die Bedeutung von Social Media im Prozess der Identitätsbildung in der Adoleszenz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1000962
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