Inhalt
1 Einleitung
1.1 Arbeitsinteresse
1.2 Vorgehen
1.3 Ertrag
2 Begriffserklärung und Problemfeld
2.1 Moral
2.2 Moralische Erziehung
2.3 Moralische Begriffsbildungen im pädagogischen Kontext
3 Der intersubjektive Moralbegriff: Jürgen Habermas
3.1 Kritische Theorie
3.2 Universalpragmatik
3.2.1Der rekonstruktive Theorieansatz
3.2.2 Kommunikative Kompetenz
3.2.2.1 Der universale Geltungsanspruch der Rede
3.2.2.2 Sprechakte
3.2.3 Kommunikatives Handeln und Diskurse
3.2.4 Die ideale Sprechsituation
3.2.4.1 Symmetrische Chancenverteilung
3.2.4.2 Status der idealen Sprechsituation
3.3 Diskursethik
3.3.1 Verallgemeinerungsfähigkeit
3.3.1.1 Diskursregeln
3.3.1.2 Das Postulat der Diskursethik
3.3.2 Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit
3.3.2.1 Entwicklung von Interaktionsfähigkeiten
3.3.2.2 Entwicklung zum verfahrengeleiteten Moralurteil
4 Der selbstreferentielle Moralbegriff: Niklas Luhmann
4.1 Systemtheorie
4.1.1 Konstruktivismus
4.2 Gesellschaftstheorie
4.2.1 Selbstreferentielle Theorie
4.2.1.1 Differenztheoretischer Grundsatz
4.2.2 Autopoietische Systeme
4.2.2.1 Anschlußfähigkeit
4.2.2.2 Kopplung
4.2.3 Psychische Systeme
4.2.3.1 Sinn
4.2.3.2 Personale Systeme
4.2.4 Soziale Systeme
4.2.4.1 Kommunikation
4.3 Moralische Kommunikation
4.3.1 Achtung und Mißachtung als Differenzschema
4.3.2 Moral als gesellschaftliche Kommunikation
4.3.2.1 Inklusion
4.3.3 Kommunikation ohne Konsenszwang
4.3.4 Selbstreferenz statt Letztbegründung
5 Die pädagogische Relevanz von intersubjektivem und selbstreferentiellem Moralbegriff
5.1 Leistungen von Diskurs und System
5.1.1 Der funktionale Moralbegriff
5.1.2 Der diskursive Moralbegriff
5.1.3 Die Habermas-Luhmann-Kontroverse
5.1.3.1 Das Problem der Letztbegründbarkeit
Literatur
1 Einleitung
1.1 Arbeitsinteresse
Moralische Erziehung beinhaltet immer eine Problembeziehung zwischen der Frage, was überhaupt moralisch erstrebenswert ist, und den Möglichkeiten, diese Vorstellungen, wie immer sie auch aussehen mögen, Kindern und Her- anwachsenden inhaltlich zu vermitteln. Die Antwort auf die Frage, was mo- ralisch sei, versucht traditionell die Moralphilosophie zu geben.
In der zweiten Hälfte des gerade vergangenen Jahrhunderts werden solcher- maßen gegebene Antworten aber zunehmend unbefriedigender. Die gesell- schaftlichen Strukturen scheinen einen Grad an Polymorphie erreicht zu ha- ben, der sich gängigen Beschreibungsmethoden entzieht. Damit einhergehend kann für Moral offensichtlich kein Begriff mehr zum Standard erhoben wer- den, der einem integrativen pädagogischen Anspruch genügen würde.
Die vorliegende Arbeit befaßt sich aus dieser Perspektive mit der Begriffsbil- dung von Moral, die in der pädagogisch orientierten Diskussion praktiziert wird. Im besonderen sollen hier die Konstitutionen der Moralbegriffe in den soziologischen Theorien von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann erörtert werden. Auf das besondere Interesse dieser Arbeit treffen diese Theorien, da beide den Anspruch erheben, die Komplexität moderner Gesellschaften be- schreiben zu können.
1.2 Vorgehen
Aufgabe dieser Arbeit soll sein, beide Theorien hinsichtlich ihrer Aussagen und Erkenntnisleistungen für die Konstitution eines pädagogisch orientierten Moralbegriffes auszulegen. Von anderen Kontexten, wie etwa ihrer didak- tischen Verwertbarkeit oder ihrer empirischen Überprüfbarkeit, soll abgese- hen werden.
Die Vorgehensweise ist dabei die einer systematischen Textinterpretation. Das heißt, die Theorien werden anhand einer Primärtextanalyse in Form ihrer für die Fragestellung relevanten Elemente dargestellt.
Die Arbeit ist, neben diesem einleitenden Teil, in vier weitere gegliedert: In einer knappen Darstellung des Problemfelds der moralischen Erziehung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll zunächst gezeigt werden, daß die Eingrenzung des Themas auf die Konstitution des Moralbegriffs im Einklang mit dem Fokus der pädagogischen Diskussion steht.
Im Anschluß daran wird der in Habermas’ Theorie des kommunikativen Han- delns intendierte Moralbegriff herausgearbeitet. Dazu erfolgt zunächst ein Blick auf seine sprachpragmatischen Grundannahmen, die als Basis für seine weiteren Überlegungen über kommunikatives Handeln und Diskurse nach- vollzogen werden müssen. Habermas’ Begriff von Moral wird im Kapitel über Diskursethik dargelegt und erlangt insbesondere in der Abgrenzung zu Kohlbergs Begriff der postkonventionellen Moral seine Bedeutung.
Der dritte Teil dieser Arbeit ermittelt die Elemente der Systemtheorie Luh- manns, die für das Verständnis des Moralbegriffes aus der Perspektive der Selbstreferentialität erforderlich sind, und versucht, sie so anzuordnen, daß eine möglichst aufeinander aufbauende Struktur erreicht wird. Es stellt inso- fern einen Versuch dar, weil es sich zum einen um eine rekursive Theorie handelt und sich gegen eine Darstellung in Form eines linearen Textes sträubt, zum anderen wegen eines „[...] gewissen Desinteresse[s] Luhmanns, sich all- gemein verständlich zu machen.“1Die Darstellung des Luhmannschen Moral- begriffes stützt sich auf die vorhergehenden Erläuterungen, die die für diesen Begriff bedeutsamen systemtheoretischen Zusammenhänge aufstellen. Die Theorien von Habermas und Luhmann werden darüber hinaus jeweils einlei- tend in ihre jeweilige Theorietradition gestellt.
Den vierten Teil der Arbeit bildet ein Resümee, in dem die pädagogisch rele- vanten Ergebnisse aufgezeigt werden. Ebenso werden in diesem Teil die grundlegenden Unterschiede der Theorien durch die Bezugnahme auf die De- batte, die Habermas und Luhmann in den siebziger Jahren führen, verdeut-
licht. Am Ende dieses Abschnitts werden beide Theorien im Horizont des zentralen Problems der Letztbegründbarkeit miteinander verglichen.
1.3 Ertrag
Ergebnis der Arbeit ist die Identifikation zweier Moralbegriffe, die die in Ka- pitel 2 dargestellte Diskussion um zwei Perspektiven erweitert: Habermas durchbricht mit dem Paradigma der Intersubjektivität die Subjektzentriertheit des Moralbegriffes kantischer Prägung. Anknüpfend an Kohlberg geht er in dieser Weise über den Begriff der Postkonventionalität hinaus.
Mit Luhmann erhält die Diskussion eine neue Perspektive der soziologischen Beschreibung des Moralbegriffes, die ihn im Gegensatz zur gesellschaftlichen Implementierung bei Durkheims Rollentheorie in eine isolierbare Position in Form eines selbstreferentiellen Prozessierens stellt.
Das Problem der Letztbegründbarkeit läßt sich mit Luhmann relativieren und mit Habermas weitestgehend umgehen. Letztlich angreifbar bleiben jedoch in dieser Beziehung beide Ansätze.
2 Begriffserklärung und Problemfeld
2.1 Moral
An dieser Stelle muß zunächst auf die den Begriff der Moral konstituierenden Elemente eingegangen werden. Der Begriff der Moral wird im allgemeinen, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur, mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten belegt.
Die zunächst allgemein übliche Definition kann lauten: „Mit Moral bezeich- net man einen Bestand an Werten.“2Werte bezeichnen in diesem Zusammen- hang erstrebenswerte immaterielle Güter, die aufgrund gesellschaftlicher oder sozialer Traditionen beziehungsweise kollektiver Übereinkunft in den Status von Werten gesetzt werden.
Mit Werten werden üblicherweise in einem Atemzug auch Normen genannt. Die Nähe der beiden Begriffe erklärt sich aus dem Bezug beider auf gesell- schaftliche Konventionen. Normen allerdings, das liegt bereits im Wortsinn, haben normierenden Charakter. „Die Werte werden zu Normen, die realisiert werden wollen.“3Im Gegensatz zu Werten besteht bei Normen keine Freiheit ihrer Wahl. Im Sinne ihrer gesellschaftlichen Übereinkunft beinhalten sie die Pflicht zur Befolgung. So können die Gesetze einer Gesellschaft als ihre ma- nifestierte Form aufgefaßt werden.
Dagegen steht die Moralität des Individuums mit dem Tugendbegriff in enger Verbindung. Tugenden sind persönliche Handlungseigenschaften, die indivi- duelles Verhalten und Handeln leiten. Dabei kann zwischen primären und se- kundären Tugenden unterschieden werden. Unter primären Tugenden werden üblicherweise jene verstanden, die sich an ethischen Leitprinzipien orientie- ren, während mit sekundären Tugenden eher alltagsdienliche Eigenschaften wie etwa Pünktlichkeit, Fleiß etc. gemeint sind.
Die inhaltliche Bestimmung von Moral, damit auch im einzelnen von Werten, Normen und Tugenden, wird durch die Moralphilosophie oder Ethik4vorge- nommen. Eine vorliegende Ethik ist somit zunächst eine Metaebene zur Set- zung einer vorliegenden Moral. In den Sozialwissenschaften einschließlich der Pädagogik wird darüber hinaus eine beschreibende Ethik praktiziert.5 Hier fungiert Ethik somit nicht mehr als Instanz zur Setzung, sondern zur Reflexi- on von Moral. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch auf dieser Basis arbeitende Theorien normativen Anspruch erheben können und dies je nach Hintergrund ihrer Theorietradition auch tun.
2.2 Moralische Erziehung
Moralische Erziehung stellt sich als ein Grundproblem der Pädagogik dar. Systematisch gesehen ist sie sogar das Zentrum aller pädagogischen Überle- gungen, geht es doch letztlich immer um die Vermittlung von Inhalten von der älteren an die jüngere Generation einer Gesellschaft. Dabei sind die Inhalte ebenso abhängig vom jeweiligen Wertgefüge, wie auch die Art und Weise ihrer Vermittlung.
Am Anfang des 19. Jahrhunderts zielen Schleiermachers pädagogische Über- legungen auf eine ‚Versittlichung‘ des Menschen ab, mit Blick auf das Ziel einer ‚sittlichen Gesellschaft‘.6Im Horizont der Zukunftsantizipation denken auch Kant und Herbart ihre Theorien in Hinblick auf die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wird Erzie- hung immer als eine ausgewiesen moralische gedacht.
Erst in den sechziger Jahren wendet sich die Pädagogik mit einer „[...] reali- stischen [...und einer] emanzipatorischen [...]“7 Wendung vom expliziten An- spruch auf eine normativ moralisierende Erziehung ab. Seitdem wird die Be- schäftigung mit Normen und Werten eher sprachanalytisch und ideologiekri-
tisch betrieben. So wird in jüngerer Zeit nach allgemein tragfähigen Konzep- ten des Moralbegriffs gesucht. Dazu werden insbesondere psychologische und soziologische Ansätze herangezogen.
Natürlich liefern diese auch Anknüpfungspunkte für didaktische Überlegun- gen: Die Psychologie stellt Modelle der psychologisch-kognitiven Entwick- lung bereit, die Soziologie Modelle der Sozialisation und Rollentheorie. Beide Richtungen zusammengenommen liefern hinreichend Lösungen für das Pro- blem der Anlage/Umwelt-Kontroverse, ein Problem, das Rousseau und Locke zu ihrer Zeit noch nicht lösen können8. Dennoch geraten explizit didaktische Verwertungsversuche sehr schnell in Kritik, da die moralphilosophischen Im- plikationen der Konzepte letztlich immer problematisch bleiben.
Moralbegriffe liefern immer eine Begründung für Handlungen, gleichzeitig be- ziehungsweise gerade deshalb werden die Begriffe selbst auf ihre Geltung, also auf ihre Begründbarkeit, abgefragt. Die Geltung von Moralbegriffen kann aber immer nur kontrovers diskutiert werden. Sobald eine Theorie den An- spruch der Letztbegründung erhebt, verfällt sie in ein Begründungstrilemma. Entweder endet die Begründung in einem Zirkelschluß, oder sie endet gar nicht in einem unendlichen Begründungsregreß und verliert damit ihre Rele- vanz, oder sie fordert als dritte Möglichkeit eine Dogmatisierung heraus, die sich meist als Setzung unter Berufung auf Autoritäten äußert.
Als einzige Lösung dieses Problems wird bis heute eine Umgehung einer mo- ralphilosophischen Letztbegründung durch eine pragmatische Begründung in Form eines kommunikativen Konsenses angesehen. Nicht zuletzt stehen sol- chermaßen aufgestellte Moralbegriffe mit dem Verständnis von Demokratie und Ideologiefreiheit in Einklang und gelten daher in der Praxis zunächst als gefahrlos verwendbar.
Aus dieser Situation heraus sollen daher im folgenden insbesondere die Lei- stungen der Begriffsbildung der in der Pädagogik diesbezüglich diskutierten Theorien auf eine knappe Form gebracht werden.
der menschlichen Entwicklung glaubt, eine endogene Entwicklungstheorie, die die Entwick- lung als einen Prozeß ausschließlich innerer Reifung auffaßt. Heute wird z.B. mit Piagets Begriffen der Assimilation und Akkomodation oder auch mit konstruktivistischen Modellen gearbeitet.
2.3 Moralische Begriffsbildungen im pädagogischen Kontext
An dieser Stelle soll die Diskussion nicht in ihrer quantitativen Ausdehnung nachgezeichnet werden, das heißt, daß viele relevante Theorie- und For- schungsansätze hier keine Beachtung finden. Vielmehr geht es darum, den Be- griff der Moral in seinen Ausprägungen der Forschungsrichtungen darzustel- len, die sich in der pädagogischen Diskussion als prägend erwiesen haben.
In dieser Hinsicht kann der Horizont zunächst auf einen Bereich zusammen- gefaßt werden, der sich im wesentlichen mit drei Namen in Verbindung brin- gen läßt: Jean Piaget prägt den Begriff der Moral hinsichtlich seiner kognitiv- psychologischen Entwicklung, also mit Blick auf das sich entwickelnde Sub- jekt, Emile Durkheim wirft das Licht auf den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft, und Lawrence Kohlberg schließlich versucht, ausgehend von der Entwicklungspsychologie Piagets, sich an Subjekt und Gesellschaft gleicher- maßen zu orientieren.
Im wesentlichen diese drei Theorie- und Forschungsansätze zieht dann auch die Literatur heran, wenn sie das Thema der moralischen Erziehung disku- tiert. Insbesondere der Ansatz Kohlbergs erfreut sich auch aktuell ausgiebiger Rezeption.9„Wahrscheinlich verdankt derKohlberg-Ansatz diese Aufmerk- samkeit seinem Anspruch,Emanzipation– als Befreiung von Herrschaft und Zwängen – undMoral– als Bindung an soziale Werte und Normen – mitein- ander zu versöhnen [...].“10
Jean Piaget, in erster Linie ein Biologe, knüpft den Begriff der Moral vorwie- gend an seine empirischen Untersuchungen zur Entwicklung moralischer Ur- teilsfähigkeit über die kindliche Entwicklungsspanne.11 In einer ersten Phase zielen seine Untersuchungen explizit auf das Praktizieren und das Bewußt- sein von Regeln ab. Er stellt eine Hierarchie von Entwicklungsstufen auf, die es erlaubt, das Praktizieren und Bewußtwerden von sozialer Regelhaftigkeit einzuordnen. In einer späteren Phase verschieben sich seine Überlegungen
eher zu einem strukturalistischen Modell der kognitiven Entwicklung.12 Das Modell der Entwicklung chronologisch ablaufender Stufen veranlaßt später Kohlberg bei seiner Bezugnahme auf Piaget dazu, die einzelnen Stufen seines Modells mit einer qualitativen Steigerung der Ausprägung von Moral gleich- zusetzen. Der Begriff der Moral wird hier aber nicht als solcher reflektiert. Er ist vielmehr schon da: Moral ist bei Kohlberg ein Regelsystem, das auf einer Vorstellung von Sittlichkeit kantischer Prägung beruht.
In dieser Beziehung verfährt auch Durkheim ähnlich. Ebenso wie Kohlberg betreibt er seine Forschung aus dem Horizont einer impliziten moralphiloso- phischen Setzung. Er setzt einen qualitativen Begriff von Moral voraus, um ihn dann in seiner gesellschaftlichen Umsetzung zu untersuchen.
Durkheim gelangt über die soziologische Betrachtung von Rollenkonflikten zu einer Beschreibung des vorgefaßten Moralbegriffs, der im Spannungsver- hältnis von Konformität und Nichtkonformität, geistiger Disziplin und Selbstbestimmung sowie von Rollenanforderungen und -erwartungen steht.13Dieser Begriff behält letztlich einen normativen Charakter, da er auf das Para- dox eines gesellschaftlich einzufordernden ‚freiwilligen Gehorsams‘ hinaus- läuft.
Dagegen geht die postkonventionelle Moral der Kohlbergschen Stufentheorie mit der Orientierung an übergeordneten Prinzipien über die Begrenzung in Form gesellschaftlicher Normgebung hinaus. Kohlberg interpretiert das Stu- fenmodell von Piaget neu, indem er dabei Struktur und Inhalt des moralischen Urteils trennt und die einzelnen Stufen um eine Darstellung der ‚sozialen Per- spektive‘ erweitert.14 Als Methode der Aufstellung beziehungsweise der Überprüfung der jeweiligen individuellen Entwicklungsstufen erarbeitet Kohlberg ‚moralische Dilemmata‘, die gerade in der Pädagogik durch ihre Pra- xisrelevanz stark rezipiert werden.
Darüber hinaus ist Kohlbergs Begriff der postkonventionellen Moral im Ver- gleich mit den Begriffen Piagets und Durkheims als der ausdifferenzierteste zu sehen. Aber ebenso wie Durkheim denkt Kohlberg Moral in kantischer Tradition vom Subjekt aus. Die folgenden Ausführungen wenden sich zwei Theorieansätzen zu, die den Moralbegriff aus der Perspektive der Intersub- jektivität (Habermas) beziehungsweise der Selbstreferentialität (Luhmann) erklären.
3 Der intersubjektive Moralbegriff: Jürgen Habermas
3.1 Kritische Theorie
Jürgen Habermas gilt als Erbe einer Denkrichtung, die sich selbst als
‚kritische Theorie‘ versteht.15 Ihrer Gründung läßt sich gewissermaßen das Datum der Eröffnung des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main am 22.06.1924 zuordnen, was auch die synonyme Ver- wendung der Chiffre ‚Frankfurter Schule‘ erklärt. Die erklärte Absicht der Kritischen Theorie ist, eine interdisziplinäre Soziologie auf Grundlage der subjektzentrierten aufklärerischen Tradition und der Marxschen Dialektik zu etablieren.
Das Prädikat der Kritik versteht sich in der Abgrenzung von der bisherigen positivistisch geprägten Soziologie16. Die Kritische Theorie fordert politi- sches Engagement von der Soziologie im Sinne der Entlarvung von Herr- schaftszwängen. Die beiden Vordenker Theodor W. Adorno und Max Hork- heimer schreiben 1947 im amerikanischen Exil ihre „Dialektik der Aufklä- rung“17, die in den folgenden Jahrzehnten so etwas wie eine Programmschrift der Kritischen Theorie darstellt. Ihre Leitthesen „[...] schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück [...]“18 fordern dazu auf, den Prozeß der Aufklärung nicht als zwingend fortschreitenden zu begreifen. Technokratische Herrschaftsstrukturen sollen so als Mythologisie- rung der ihnen innewohnenden Barbarei aufgedeckt werden. Dazu sei eine positivistisch ausgelegte Soziologie nicht in der Lage, sondern nur eine kriti- sche. Die Spannung zwischen diesen beiden Auffassungen wird als ‚Positi- vismusstreit der deutschen Soziologie‘ öffentlich publik und findet in der De-
batte zwischen Vertretern beider Richtungen seinen Ausdruck.19 Mit dem Be- griff der ‚negativen Dialektik‘ bringt Adorno seine Auffassung zum Aus- druck, daß gesellschaftliche Entwicklung eben nicht in Form von Synthesen- bildungen zum Besseren fortschreite, wie es Hegel und Marx mit einer positi- ven Dialektik des Geschichtsverlaufs glauben, sondern daß sie bei einer fort- schreitenden Differenzierung in Technokratie und damit in einen voraufkläre- rischen Zustand zurückfalle. Als Beweis für diese Entwicklung führt er ins- besondere die Tatsache des Holocaust ins Feld.
Da die Kritische Theorie die gesellschaftliche Entwicklung als (negativ) dia- lektische auffaßt, kann sie den Gesellschaftsbegriff nur als Totalität darstel- len. Gesellschaft wird also als ein Ganzes betrachtet, das sich durch die Sub- jekte konstituiert. Ereignisse, die das Subjekt betreffen, lassen sich ursächlich nur auf die Struktur der Gesamtgesellschaft und auf ihre Vermittlungsmecha- nismen zurückführen. „Soziales Handeln wird nur unter dem Aspekt des Ge- sellschaftsganzen verstehbar.“20Die Kritische Theorie polarisiert den Gesell- schaftsbegriff gewissermaßen in Gesellschaft und Individuum, was zur Folge hat, daß die Entwicklung der modernen Gesellschaft aus der Perspektive einer negativen Dialektik zur „[...] Vernichtung aller Vernunft [...]“21 führt.
Habermas stellt dem nun sein Konzept der Intersubjektivität entgegen, das dem Ausgeliefertsein des einzelnen gegenüber dem gesellschaftlichen System mit neuen Handlungsmöglichkeiten begegnet. Damit gilt er als Begründer ei- nes Paradigmawechsels in der Kritischen Theorie, der die subjektzentrierte Perspektive auf eine intersubjektive verlagert.22Einen wichtigen Teil seiner Gesellschaftstheorie bildet die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ und die darin enthaltende Ausarbeitung einer ‚Diskursethik‘, auf die im folgenden eingegangen werden soll.
3.2 Universalpragmatik
Das Konzept von Habermas stützt sich auf Grundüberlegungen der Sprach- pragmatik. Pragmatik bezeichnet eine Teildisziplin der Linguistik, die sich mit der Verwendung von Sprache in situationsabhängigen Kontexten beschäf- tigt. Habermas’ sprachpragmatische Überlegungen gründen auf seiner Über- zeugung, daß Sprache letztlich die nicht weiter reduzierbare Grundvorausset- zung für moralisches Handeln ist.
Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus der Na- tur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können:die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeitfür unsgesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen. Mündigkeit ist die einzige Idee, deren wir im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind.23
[...]
1 GRIPP-HAGELSTANGE, H. (1995): Niklas Luhmann – Eine erkenntnistheoretische Ein- führung. München, S. 10.
2 MAIER, K. E. (1986): Grundriß moralischer Erziehung. Bad Heilbrunn, S. 13.
3 Ebd., S. 14.
4 Die Begriffe ‚Moralphilosophie‘ und ‚Ethik‘ werden in der Regel synonym benutzt.
1 Vgl. GARZ, D. (1998): Moral, Erziehung und Gesellschaft – Wider die Erziehungskata- strophe. Bad Heilbrunn, S. 30.
5 Vgl. hierzu und im weiteren HERZOG, W. (1991): Das moralische Subjekt – Pädagogi- sche Intuition und psychologische Theorie. Bern, S. 16 ff.
6 HERZOG (1991), S. 16.
7 Rousseau propagiert entgegen Locke, der an eine ausschließliche Umweltdeterminiertheit
8 So z.B. GARZ (1998), HEIDBRINK, H. (1991): Stufen der Moral – Zur Gültigkeit der kognitiven Entwicklungstheorie Lawrence Kohlbergs. München, HERZOG (1991), LA- DENTHIN, V. / SCHILMÖLLER, R. (Hrsg. 1999): Ethik als pädagogisches Projekt – Grundfragen schulischer Werteerziehung. Opladen, MAIER (1986).
9 SCHREINER, G. (Hrsg. 1983): Moralische Entwicklung und Erziehung. Braunschweig, S. 103. Hervorhebungen im Original.
10 Vgl. HERZOG (1991), S. 179 ff.
11 Für seine spätere, allgemeiner gefaßte Stufentheorie der kognitiven Entwicklung ordnet Piaget stufenspezifische Denk- und Verhaltensweisen nach Strukturen. Die strukturalistisch- generalisiernde Sicht auf das einzelne Individuum wurde häufig kritisiert.„Als Erkenntnis- theoretiker ist Piaget sich darüber im klaren gewesen, daß die Annahme von Stufen und Strukturen auf einer Idealisierung beruht. Dennoch hat er als Biologe und Psychologe einen realistischen Strukturbegriff vertreten.“ KESSELRING, T. (1999): Jean Piaget. München, S. 173.
12 Vgl. HERZOG (1991), S. 162 f.
13 Vgl. HEIDBRINK (1991), S. 22 ff.
14 Vgl. dazu und im folgenden KISS, G. (1987): Paradigmawechsel in der kritischen Theo-rie – Jürgen Habermas’ intersubjektiver Ansatz. Stuttgart, S. 2 ff.
15 Darunter ist eine positivistisch-empirisch orientierte Soziologie in der Tradition Auguste Comtes zu verstehen.
16 Hier: HORKHEIMER, M. / ADORNO, Th. W. (1996): Dialektik der Aufklärung – Phi- losophische Fragmente. Frankfurt am Main.
17 Ebd., S. 6.
18 Vgl. dazu ADORNO, Th. W. (1972): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin.
19 KISS (1987), S. 14.
20 Ebd., S. 24.
22 Vgl. ebd., S. 25.
23 HABERMAS, J. (1968): Technik und Wissenschaften als Ideologie. Frankfurt am Main, S. 163. Hervorhebungen im Original.
- Quote paper
- Jörg Kichelmann (Author), 2000, Moralische Erziehung im Horizont der Sozialtheorien von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100064
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