In der Literaturgeschichte gibt es unzählige Fälle, in denen sich ein Autor nachweislich auf andere literarische oder nicht-literarische Texte als Grundlage für sein Schaffen stützt. Dies kann ihm in unserem Jahrhundert zum Verhängnis werden, nämlich dann, wenn er des Plagiats bezichtigt wird, das heiβt, wenn er fremde Werke oder Teile daraus kopiert und als seine eigene Schöpfung ausgibt.
Doch bedeutet das Umsetzen von Quellentexten immer schon Plagiat? Die Antwort lautet natürlich "nein". Die Aufnahme von Ideen und Motiven aus literaturgeschichtlich früheren oder zeitgenössischen Werken ist aus der Literatur gar nicht wegzudenken. Dabei werden die Vorlagen in der Regel eigenständig umgearbeitet und in das entsprechende Weltbild bzw. die Aussageabsicht des Autors integriert. Aus den entlehnten Elementen entsteht also in einem Umformungsprozess etwas völlig Neuartiges.
Ebenso verhält es sich mit Franz Kafka. Er beweist die Fähigkeit, die übernommenen Quellen in seine ganz eigene Welt zu übertragen und dabei sowohl in ästhetischer als auch inhaltlicher Sicht weit über diese hinauszugehen. "Kafka's power of transmutation" nennt Wayne Burns diesen Sachverhalt.
Ausgehend vom Quellentext Der Garten der Qualen von Octave Mirbeau werden wir in der vorliegenden Arbeit untersuchen, welche Elemente Kafka für seine Erzählung In der Strafkolonie daraus übernommen hat und wie er diese verwendet bzw. umformt, um sie für sein eigenes Schaffen fruchtbar zu machen. Dabei interessiert uns insbesondere der Themenkomplex der konservativen Kulturkritik, der in beiden Texten zum Tragen kommt, bei Mirbeau in der Weltanschaung des chinesischen Henkers, bei Kafka in der des Offiziers. Als ersten Schritt werden wir also diejenigen Textstellen vergleichen, die dieses Gedankengut entwickeln und uns dabei sowohl auf erzähltechnische als auch inhaltliche Aspekte stützen. Angesichts der Tatsache, dass Kafka weit über seine Vorlage hinausgreift und die Thematik der Kulturkritik in sehr komplexem Licht erscheinen lässt, sehen wir uns allerdings in einem zweiten Schritt gezwungen, besonders im Fall der kafkaschen Erzählung zwecks einer vielseitigen Beleuchtung der Fragestellung über die einschlägige Textstelle hinauszugehen und die Gesamterzählung mit einzubeziehen, ebenso wie werktranszendente Betrachtungsweisen, das heiβt auβerliterarische Faktoren, die in dieses eingeflossen sind bzw. in ihm reflektiert werden.
Inhaltsverzeichnis
- Quellen als Grundlage für literisches Schaffen: Plagiat oder Inspiration?
- Gemeinsamkeiten der Vergleichsstellen
- Kafkaeske Momente bei Mirbeau? Was Kafka an dem Quellentext interessiert
- Analyse der konservative Kulturkritik bei Mirbeau
- Erzähltechnik
- Folterkultur als Schönheits-, Todes- und Liebeskult
- Analyse der konservativen Kulturkritik bei Kafka
- Erzähltechnik
- Das Verfahren des Offiziers als altes System
- Das Verfahren des Offiziers als Großmetapher für gegenwärtige Zustände. Mögliche Interpretationsansätze
- Sado-Masochismus
- Der Bürokratie-Komplex in Anlehnung an Alfred Weber
- Der allgegenwärtige Vater
- Sozialisation des Menschen
- Die Wertfreiheit des Wissenschaftlers nach Max Weber
- Der offene Text als Kennzeichen der Moderne
- Bibliographie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Hausarbeit analysiert die literarischen Quellen von Franz Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" und untersucht, welche Elemente Kafka aus Octave Mirbeaus "Der Garten der Qualen" übernahm und wie er diese in seiner eigenen Arbeit umformte. Die Arbeit beleuchtet den Themenkomplex der konservativen Kulturkritik, der in beiden Texten zum Tragen kommt, und erweitert den Blick auf kulturelle und philosophische Strömungen der Jahrhundertwende (um 1900).
- Die Bedeutung von literarischen Quellen und die Frage nach Plagiat vs. Inspiration
- Der Vergleich der konservativen Kulturkritik in "In der Strafkolonie" und "Der Garten der Qualen"
- Die Rolle der Folterkultur als Symbol für Unterdrückung und Machtstrukturen
- Die Interpretation der Erzähltechniken und die Bedeutung von Perspektiven
- Die Einordnung der Erzählungen in den Kontext der kulturellen und philosophischen Strömungen der Jahrhundertwende
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel stellt die Frage nach der Bedeutung von literarischen Quellen und beleuchtet die Problematik von Plagiat vs. Inspiration. Es zeigt auf, dass die Aufnahme von Ideen und Motiven aus früheren oder zeitgenössischen Werken in der Literatur üblich ist und dass ein Umformungsprozess zu etwas völlig Neuem führt. Das Kapitel stellt Kafka als einen Autor vor, der die Fähigkeit besitzt, übernommene Quellen in seine eigene Welt zu übertragen und dabei sowohl in ästhetischer als auch inhaltlicher Sicht weit über diese hinauszugehen.
Das zweite Kapitel untersucht die Gemeinsamkeiten der Vergleichsstellen in "In der Strafkolonie" und "Der Garten der Qualen". Es beleuchtet Parallelen in der Handlung, dem Schauplatz, den Figuren und der sprachlichen Gestaltung. Beide Texte setzen die Folterkultur in den Kontext eines untergehenden Systems und stellen sie als eine Kunstform dar, die mit Schönheit, Tod und Liebe verbunden ist.
Das dritte Kapitel analysiert die konservative Kulturkritik bei Mirbeau. Es untersucht die Erzähltechnik von "Der Garten der Qualen" und zeigt auf, dass der Text eher beschreibenden Charakter hat und die Grausamkeiten der Folterkultur in den Vordergrund stellt. Die Kulturkritik des Henkers wird als eine Form des Ästhetizismus und eine Umwertung aller Werte interpretiert, die sich mit Strömungen der Décadence und Nietzsche's Philosophie in Verbindung bringen lässt.
Das vierte Kapitel widmet sich der konservativen Kulturkritik bei Kafka. Es analysiert die Erzähltechnik von "In der Strafkolonie" und zeigt auf, dass der Text dialogisch aufgebaut ist und die Handlung aus der Perspektive des Forschers erzählt wird. Das Verfahren des Offiziers wird als ein altes, dem Untergang geweihtes System interpretiert, das mit dem modernen Denken des Forschers kontrastiert. Es werden verschiedene Interpretationsansätze vorgestellt, die das Verfahren des Offiziers als Großmetapher für gesellschaftliche und individualpsychologische Phänomene lesen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die literarischen Quellen, die konservative Kulturkritik, die Folterkultur, die Erzähltechniken, die Jahrhundertwende, die Philosophie Nietzsches, die Décadence, die Recht-Macht-Thematik, die Sozialisation, die Wertfreiheit in der Wissenschaft und die Moderne.
- Quote paper
- Magister Artium Dorit Heike Gruhn (Author), 1999, Untergang der Folterkultur als konservative Kulturkritik?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9017
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