Gewalt an Kindern ist in Frauenkrimis nicht nur aus Deutschland ein sich immer wiederholender Gemeinplatz. Dabei wird auch nicht selten die Rolle, die die Familien spielen, besonders hervorgehoben: Tyrannische Mütter und brutale Väter sind oft Zentralfiguren einer mehr auf das Psychologische, als auf das direkt Kriminelle oder die Ermittlung angelegten Handlung. Doch Familien können auch auf andere Art Gewalt provozieren und sich eher unbewusst schuldig machen. Die Unfähigkeit der Familien, die zu sehr an traditionellen Mustern festhalten, ihre Kinder zu schützen, wird insbesondere in den Kriminalromanen von Frauen des so genannten Neuen Goldenen Zeitalters thematisiert, wobei eine wechselseitige Kommunikation und der Verzicht der eigenen Individualität zugunsten der Gemeinschaft als zentral angesehen werden müssen. Dem langbewährten whodunit und auch dem whydunit schlieβt sich so als kritisch-didaktischer Ansatz innerhalb des Kriminalromans der whytheydie an, der nebst dem Reflektieren über eine gewaltsträchtige Gesellschaft auch Strategien der Kriminalitätsbekämpfung entwickeln kann, indem die Faktoren, die Opfer zu Opfer werden lassen, identifiziert werden.
Kriminalromane haben glücklicherweise schon seit mehreren Jahren den ihnen anhaftenden Verdacht der Trivialität verloren[1] und können sich heutzutage problemlos als vollwertige und literarisch anspruchsvolle Texte behaupten. Dies ist nicht zuletzt Autoren wie Umberto Eco zu verdanken, der seinerzeit mit seinem beliebten Roman Der Name der Rose [2] glänzend beweisen konnte, dass eine unterhaltsame, spannungsreiche Lektüre nicht immer mit einem quasi leeren Inhalt gleichzusetzen ist. Wie Moraldo so treffend beobachtet hat
„Spätestens seit Autoren wie Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Jorge Luis Borges, Carlo Emilio Gadda, Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Friedrich Dürrenmatt, Leonardo Sciascia u.a. das Missverhältnis von menschlicher Vernunft und undurchdringlicher Wirklichkeit dargestellt und so die Prämissen für eine Literaturhistorische und –wissenschaftliche Neubewertung der Gattung geschaffen haben, lässt sich der Vorwurf, leicht konsumierbare Massenware zu sein, nicht mehr so leicht halten“ (Moraldo 5)
Dass gerade ein vorgegebener Rahmen, wie dies bei dem Kriminalroman der Fall ist, vorteilhafte Auswirkungen aufweisen kann, zeigen immer mehr Autoren und Autorinnen, die geschickt kriminelle Handlung mit sozialen, psychologischen, politischen, ökonomischen und sogar historischen Problemen zu verflechten wissen, das Kriminalschema zum Ausgangspunkt einer umfassenden Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse wählen (Düsing 10), „Defizite, Widersprüche und Deformationen innerhalb einer Kultur“ (Nünning 21) problematisieren, und wie nebenbei auch noch von der enormen Popularität[3] des Genres profitieren, indem sie ihre Leserschaft bis zu schwindelnd hohen Zahlen vervielfältigen[4]. Kriminalliteratur ist anspruchsvoller und auch vielseitiger geworden, so dass Buchhandlungen und Bibliotheken sich dazu gezwungen sehen, ihre dem Krimi gewidmete Abteilungen sogar in verschiedene Unterkategorien einzuteilen: es gibt bereits den Thriller, Psychokrimi, Politkrimi, Soziokrimi, Historischen Kriminalroman, Regiokrimi, Kinderkrimi, Frauenkrimi, Lesbenkrimi, Etnokrimi, sogar Ökokrimi, Weinkrimi, Kochkrimi, Sportkrimi, und viele andere Krimis mehr[5], schwierig ist es, einen Durchblick zu behalten. Heute soll uns allerdings einzig der Frauenkrimi[6] etwas näher interessieren.
Zunächst in den USA als gynekozentrischer Gegensatz[7] zu den hard-boiled stories mit ihren vor Männlichkeit strotzendem Helden entstanden, hat sich der Frauenkrimi jedoch etwas günstiger zu entfalten gewusst und schon längst aufgegeben, einzig kompetente Auβenseiter oder Auβenseiterinnen zu porträtieren, die weniger darauf bestrebt sind ihren Fall zu lösen, als ihre Verachtung für die Menschheit im allgemeinen und das andere Geschlecht im Konkreten zu bekunden. Vor allem bei europäischen Autorinnen, wie dies Z.B. bei der britischen Minette Walters oder der finnischen Leena Lehtolainen der Fall ist, wird der Frauenkrimi als eine begrüβenswerte Gelegenheit aufgefasst, Leser und Leserinnen mit der Kriminalität im weiblichem Umfeld zu konfrontieren[8], ein Thema, dass selbstverständlich nicht nur dem Frauenkrimi eigen ist, aber durch diesen völlig neue Schattierungen erhalten kann. Weniger das täterzentrierte whodunit des traditionellen Kriminalromans, nicht einmal das motivzentrierte whydunit der neueren Generation von Texten, sondern das hauptsächlich opferzentrierte, das wir in Analogie zu den vorherigen Termina vielleicht whytheydie nennen könnten, beschäftigt viele der europäischen Schriftstellerinnen. Ungeachtet ihrer kulturellen Unterschiede[9], suchen sie bei den Opfern, und nicht, wie bis jetzt, den Tätern, den Ausgangspunkt der Kriminalität, untermauern die Handlung ihrer Texte mit dem Aufbau eines Spannungsbogens, der nicht so sehr im Verbrechen selbst liegt, sondern im allmählichen Abgleiten eines scheinbar sozial gänzlich integrierten Alltagsmenschen in eine unerwünschte Auβenseiter- und Opferrolle. Romane die whytheydie zentriert sind beschäftigen sich also mit Opfern bevor sie diese Stellung eingenommen haben, und denunzieren warum bestimmte Gesellschaftsmitglieder besonders für ein an ihnen begangenes Verbrechen anfällig werden, wobei die Unfähigkeit der verschiedenen, im Roman agierenden Figuren, die vom Leser den vollständigen Text hindurch vorhergesehene Tragödie zu verhindern, als spannungsreich genug gelten kann, um das Ausklammern des Täters und seine psychologischen Bedingtheiten auszugleichen. Als interessantes Novum taucht hierbei eine eingehende Beschäftigung mit dem Opfer vor der Tat und nicht unmittelbar danach auf, die Bezichtigung einiger Wissenschaftler[10], dass der Kriminalroman aufgrund seiner geschlossenen Struktur selbst in der Zukunft kaum innovativ sein könnte auf jeden Fall Lügen strafend. Es handelt sich weniger um Strafe und Sühne, als um Identifikation und Vorbeugung.
Wenn also z.B. Maria Kallo, Lehtolainens Amateurdetektivin, eigentlich Sozialarbeiterin, in ihrem Roman Tappava Säde, in deutscher Sprache mit dem Titel Zeit zu sterben übersetzt, sich mit Kriminalität befasst, so tritt nicht die Aufklärung der Identität des rächenden Serienmörders in den Vordergrund, sondern teilt sich diese das Interesse der Leser und Leserinnen mit den psychologischen Unsicherheiten der lange Jahre der männlichen Gewalt unterstehenden Frauen, schwer misshandelte Wesen, die sich selber trotzdem nicht als Opfer sehen möchten. Und wenn Minnette Walters Nachforscherin Rosalind Leigh in The Sculptress, auf deutsch Die Bildhauerin, schlieβlich den wahren Schuldigen eines brutalen Doppelmordes entlarven kann, so scheint dies nicht spannungsreicher als der sich wandelnde Eindruck den die Zentralverdächtige der Autorin, die geständige Olive Martin, auf ihre Leser hinterlässt: die anfangs blutrünstige, grausame Mörderin mutiert langsam in eine sensible, intelligente, selbstlose und aufopferungsvolle –und der ihr bezichtigen Tat unschuldigen- Frau, die nichts anderes als ein ebenfalls bemitleidenswertes Opfer ihres physisch abstoβendem, so gar nicht der sozialen Konvention entsprechenden Äuβerem ist. Wie werden Opfer zu Opfer? Welche Verantwortung trägt dabei die Gesellschaft, die tatenlos zulässt, dass bestimmte Menschen einfach in diese Rolle abgleiten? Der postmoderne Frauenkrimi der Neuen Golden Age unterscheidet sich markant von jenen Texten bei denen, nach Suerbaums Äusserung,
„Die Leichen sind hier-ähnlich den Schafen der alten Pastorale-Anlaβ und ideelle Mitte der makabren Idylle, ohne ein Gegenstand ernster Sorge zu sein“ (Suerbaum 456).
Oder, wie Knight behauptet
„The victim is also a person of little emotive value; he or she is not mourned, nor is he real pain and degradation of violence death represented“. (Knight 78)
Dass „über der Suche nach dem Täter das Opfer in Vergessenheit gerät“ (Brittnacher 109) muss hier eigentlich nicht befürchtet werden. Dabei müssen potentielle Opfer nicht unbedingt, wie Resina in Bezug auf Vázquez Montalbáns Texten feststellt (Resina 72), ihre Markierung als Opfer selbst herausfordern, sondern einzig durch gesellschaftliche Unzulänglichkeit dazu gezwungen werden, diese Stellung zu übernehmen. Und so dient dann, wie so treffend Morando andeutet, die Aufdeckung des Kriminalfalles, „weniger der Lösung des eigentlichen Falles als der Beschreibung oder Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit oder Kritik an ihr“ (Moraldo 30). Gewalt, und vor allem Gewalt gegen Frauen, kann viele verschiedene Nuancen aufzeigen, ist voller Komplexität, und wird somit mit schriftstellerischer Begeisterung auch von den Autorinnen des Neuen Golden Age als bevorzugtes Thema ausgebeutet.
[...]
[1] Zumindest teilweise, obwohl in der Forschung die Meinungen diesbezüglich immer noch geteilt sind. Siehe so: “Die bis (dahin) geringe Wertstellung, die der (deutsche) Kriminalroman innerhalb des Literaturbetriebs in Deutschland eingenommen hatte, könnte ihren Grund hauptsächlich darin haben, daβ der gebildete Deutsche die strikte Trennung in schöngeistige Literatur und Unterhaltungsliteratur ernst nahm. Die ästhetischen Bewertungskriterien, nach denen in der deutschen Literaturkritik die unterschiedlichen dichterischen Werke kategorisiert wurden, sind auch heutzutage noch teilweise gültig. Obwohl die Trivialliteratur, und dazu gehört auch der Kriminalroman, das gröβere Lesepublikum an sich bindet, weil sie ihre Leserschaft auf spannende und verständliche Art zu unterhalten vermag, wird sie von den nach traditionellen Wertkriterien urteilenden Kritikern und Lesern stigmatisiert”, BRÖNNIMANN, Jürg, Der Soziokrimi: ein Soziokrimi: ein neue Genre oder ein soziologisches Experiment. Eine Untersuchung des Soziokriminalromans anhand der Werke der schwedischen Autoren Sjöwall und Wahlöö und des deutschen Autors –ky, Nordpark, Wuppertal, 2004, 15s. Auch KRIEG, Alexandra, Auf Spurensuche. Der Kriminalroman uns seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Marburg, Tectum, 2002, aber, dagegen, der Umschlagtext zu Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans, Hillesheim, KBV, 2009 “Allzu lange galt der Krimi als eher gering geschätzte Trivialliteratur, doch mittlerweile darf er als durchaus akzeptierte Literaturgattung mit zahlreichen Facetten und Untergattungen angesehen werden”.
[2] Il nome della rosa, Milano, Bompiani, 1980. 1982 zuerst auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Burkhard Kroeber für Hanser.
[3] W.H.Auden sprach von einer mit Tabak oder Alkohol zu vergleichenden Sucht. (Priestmann 1)
[4] Agatha Christie war 1980, laut Angaben von Robert Barnard, mit einer halben Milliarde verkauften Bücher die beliebteste Autorin nach Shakespeare und der Bibel. Barnard, Robert, A talent to deceive, New York, The Mysterious Press, 1980, 2. Keating betont, dass sie in 103 Sprachen übersetzt worden ist, was Shakespeare um 14 Sprachen übersteigt. (zitiert bei Keitel, Evelyne, Kriminalromane von Frauen Für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerik a, Darmstadt, 1998, 34)
[5] Hinzu kommen noch geographische Unterteilungen: Schweden-Krimi, Italien-Krimi, Polen-Krimi, die teilweise sehr lokal werden können, siehe z.B.Jacques Berndorffs bekannte Eiffel-Krimis
[6] Es handelt sich in diesem Fall um einen genügend geprägten Begriff, aber er stöβt trotzdem immer noch auf Bedenken und sogar Ablehnung bei den Autorinnen selbst. So Sabine Deitmer: „Ich habe den Begriff „Frauenkrimi“ von Anfang an nicht gemocht. Ein farbloses viersilbiges Wort, gleichförmig und langweilig“ (Deitmer, Sabine, „Wie Frauen morden. Gattungsregeln und andere Vorurteile“, SZ am Wochenende (23.11.1996)
[7] Reddy spricht sogar von Gegentradition. Siehe: Reddy, Maureen T., Die feministische Gegentradition im Kriminalroman. Über Cross, Grafton, Paretsky und Wilson, in: Vogt, Jochen (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik-Theorie-Geschichte, München, 1998, 444-460
[8] “Die Gattung verändert sich unter dem weiblichen Blick”, Keitel, Evelyne, Kriminalromane von Frauen Für Frauen. Unterhaltungsliteratur aus Amerika, Darmstadt, 1998, 5. Besonders die so genannte „Solidarität zu Frauen“ muss hervorgehoben werden. Siehe Wilczek, Reinhard, Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht, Kalmeyer, 2007, 105. Siehe auch „Zunächst hat sich gezeigt, dass es allen Autorinnen wichtig ist, über Frauen betreffende und v.a. für Frauen interessante Inhalte zu schreiben“, Zimmerling, Katja, Die Kriminalautorin als Beobachterin der zeitgenössischen britischen Gesellschaft, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken, 2007, 130.
[9] Wobei in diesem Fall Resina widersprochen werden muss, wenn er darauf besteht, dass jede Kultur einen eigenen Weg innerhalb des Kriminalromans sucht. Siehe: „sie bien la función del criminal es una constante de la novela policíaca, su motivación es una variable cultural” (Resina 89)
[10] Vogt spricht hier von “innovationsresistentes Genre” (Vogt 226)
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- Eva Parra-Membrives (Author), 2010, Wie Kinder zu Opfer werden - Kritik an Familien im postmodernen Frauenkrimi, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159549
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