„Ich hab schon alles, ich will noch mehr, alles hält ewig, jetzt muß was Neues her. Ich könnt im Angebot ersaufen, mich um Sonderposten raufen, hab diverse Kredite laufen [...] ich kauf’ mir was, kaufen macht soviel Spaß, ich könnte ständig kaufen gehen, kaufen ist wunder-schön.“ Diese Zeilen aus einem Song von dem deutschen Popsänger Herbert Grönemeyer aus dem Jahr 1982 könnten auch auf die sogenannten Parasiten-Singles in Japan passen, die in den letzten Jahren durch ihre hedonistische Lebensweise auf sich aufmerksam gemacht haben und noch immer für ausreichend Gesprächsstoff sorgen.
„Auch mit über dreißig Jahren wohnen sie noch zu Hause bei den Eltern, machen in ihrer Freizeit Auslandsreisen, auf denen sie teure Markenartikel kaufen und führen alles in allem ein gemütliches Leben - dies sind die unbekümmerten und unverheirateten jungen Männer und Frauen Japans - die Parasiten-Singles.“ So beschreibt sie Yamada Masahiro in seinem Buch „Das Zeitalter der Parasiten-Singles“ (Parasaito shinguru no jidai). Yamada, Professor der Soziologie an der Universität für Kunst und Wissenschaft in Tôkyô spezialisierte sich auf dem Gebiet der Eltern-Kind-Beziehung sowie ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau, wozu er verschiedene Veröffentlichungen wie „Das Risiko namens Familie“ (Kazoku to iu risuku) oder „Die Restrukturierung der Familie“ (Kazoku no resutorakuchâringu) heraus-gegeben hat. In dem erstgenannten Buch „Das Zeitalter der Parasiten-Singles“ versucht er, dem zur Zeit nicht mehr nur japanspezifischen Phänomen auf den Grund zu gehen. Da die „Parasiten-Singles“ aus Bequemlichkeit länger unverheiratet bleiben, macht sie der Soziologe für die sinkende Geburtenrate verantwortlich. Laut Yamada sind es grundsätzlich die jungen Menschen Japans, die unter dem Dach der Eltern und auf Kosten der Eltern leben und dies in vollen Zügen genießen, er verurteilt sie wegen ihres hedonistischen Lebensstils und warnt auch vor Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft, bezeichnet sie als das Symbol der Sackgasse, in der sich Japan gegenwärtig befindet.
Die mit einer stark pejorativen Konnotation behafteten Bezeichnung „Parasiten-Singles“ gab mir den Anstoß, dieses Phänomen näher zu untersuchen. Hauptanliegen dieser Arbeit soll es sein, Yamadas These einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und eine differenzierende sowie sachlichere Darlegung zu liefern.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einleitung
1 Empirische Befunde
1.1 Tendenzen in der Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Japan
1.1.1 Bevölkerungsverteilung nach Altersgruppen und durchschnittliche Lebenserwartung
1.1.2 Geburten- und Sterbeziffern, Eheschließungen und Ehescheidungen
1.1.3 Haushaltsgröße
1.2 Analysen und Fazit
2 Entwicklung des Single-Daseins in Japan
2.1 Vorbetrachtung
2.2 „Parasiten-Singles“ in Japan
2.2.1 Charakteristische Paras I
2.2.2 Charakteristische(?) Paras II
2.3 Non-paras – die Gegenspieler
3 Exkurs: Konsumtheorie – ein Definitionsversuch
3.1 Der wirtschaftliche Kontext
3.2 Der sozialwissenschaftliche Kontext — Konsumtheorien — ein Auszug
3.3 Konsum in Japan
4 Konsum - Ausdruck des Lebensstils der Singles in Japan
4.1 Vorbetrachtung
4.2 Lebensstil in Japan
4.2.1 Freizeit als gegenwärtiges Phänomen
4.2.2 Shopping als neue Freizeitbeschäftigung
4.2.3 Käuferverhalten und Präferenzbildung
4.2.4 Kaufentscheidungsprozesse
5 Konsumverhalten paras vs. non-paras
5.1 Die Äußerlichkeiten der paras und non-paras
5.2 Der Konsum der paras
5.3 Das non-bura- Konzept
5.4 Die Brillanz der non-paras
6 Zusammenfassung
Glossar
Literaturverzeichnis
Einschlägige Literatur
Nachschlagewerke
Internetdokumente
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Life Expectancy at Birth (1983-2001)
Abbildung 2: Vital Statistics
Abbildung 3: Changes in Marrriage Rate and Divorce Rate
Abbildung 4: Changes in Household Composition
Abbildung 5: Number of Households, Population in Households (1980-2000)
Abbildung 6: Anzahl der verschiedenen Haushaltstypen mit Mitgliedern über 65 Jahre (1990-2000)
Abbildung 7: Percentage Distribution of Households of single women aged and over by age group
Abbildung 8: Zusammenleben mit den Eltern
Abbildung 9: Zusammenleben mit den Eltern (2000)
Abbildung 10: Bevölkerungspyramide - Japan 2000
Abbildung 11: Household Income and Expenditure (1984-2001)
Abbildung 12: Satisfying ways of spending time
Abbildung 13: Hours of Actual Work per Month (1983-2001)
Abbildung 14: Main interest among aspects of lifestyle
Abbildung 15: Black-Box-Modell
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Population by age group (1,000)
Tabelle 2: Anzahl der Personen mit einem Alter über 100 Jahren
Tabelle 3: Live birth rates and death rates (1995-1999)
Tabelle 4: Distribution of one-person-households (in 1 000)
Tabelle 5: Increase of Elderly Households
Einleitung
„Ich hab schon alles, ich will noch mehr, alles hält ewig, jetzt muß was Neues her. Ich könnt im Angebot ersaufen, mich um Sonderposten raufen, hab diverse Kredite laufen [...] ich kauf’ mir was, kaufen macht soviel Spaß, ich könnte ständig kaufen gehen, kaufen ist wunder- schön.“ Diese Zeilen aus einem Song von dem deutschen Popsänger Herbert Grönemeyer aus dem Jahr 1982 könnten auch auf die sogenannten Parasiten-Singles in Japan passen, die in den letzten Jahren durch ihre hedonistische Lebensweise auf sich aufmerksam gemacht haben und noch immer für ausreichend Gesprächsstoff sorgen.
„Auch mit über dreißig Jahren wohnen sie noch zu Hause bei den Eltern, machen in ihrer Freizeit Auslandsreisen, auf denen sie teure Markenartikel kaufen und führen alles in allem ein gemütliches Leben - dies sind die unbekümmerten und unverheirateten jungen Männer und Frauen Japans - die Parasiten-Singles.“1 So beschreibt sie Yamada Masahiro in seinem Buch „Das Zeitalter der Parasiten-Singles“ (Parasaito shinguru no jidai). Yamada, Professor der Soziologie an der Universität für Kunst und Wissenschaft in Tôkyô spezialisierte sich auf dem Gebiet der Eltern-Kind-Beziehung sowie ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau, wozu er verschiedene Veröffentlichungen wie „Das Risiko namens Familie“ (Kazoku to iu risuku) oder „Die Restrukturierung der Familie“ (Kazoku no resutorakuchâringu) heraus- gegeben hat. In dem erstgenannten Buch „Das Zeitalter der Parasiten-Singles“ versucht er, dem zur Zeit nicht mehr nur japanspezifischen Phänomen auf den Grund zu gehen. Da die „Parasiten-Singles“ aus Bequemlichkeit länger unverheiratet bleiben, macht sie der Soziologe für die sinkende Geburtenrate verantwortlich. Laut Yamada sind es grundsätzlich die jungen Menschen Japans, die unter dem Dach der Eltern und auf Kosten der Eltern leben und dies in vollen Zügen genießen, er verurteilt sie wegen ihres hedonistischen Lebensstils und warnt auch vor Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft, bezeichnet sie als das Symbol der Sackgas- se, in der sich Japan gegenwärtig befindet.
Die mit einer stark pejorativen Konnotation behafteten Bezeichnung „Parasiten-Singles“ gab mir den Anstoß, dieses Phänomen näher zu untersuchen. Hauptanliegen dieser Arbeit soll es sein, Yamadas These einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und eine differenzierende sowie sachlichere Darlegung zu liefern.
Dazu dienten mir im Einzelnen zahlreiche Aspekte zur Heranführung, Einführung, Konkreti- sierung und Analyse der Thematik, die in den einzelnen Kapiteln abgehandelt wurden, wobei laut Titel dieser Arbeit Schwerpunkte gesetzt wurden und auch gesetzt werden mussten.
Das oben genannte Konzept Yamadas drängt sich auf, betrachtet man den demografischen Wandel der japanischen Bevölkerung, was Thema des ersten Teils dieser Arbeit ist. Mit Hilfe von statistischem Zahlenmaterial ist die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Japan dar- gestellt, das sich zusehends zu einer überalterten Gesellschaft mit zu wenig Nachwuchs ent- wickelt und gleichzeitig immer mehr Abstand vom traditionellen ie-seido [Familiensystem] gewinnt. Möglichen Ursachen für den Wandel in der Bevölkerungsstruktur Japans werden aufgezeigt und anlaysiert.
Die Entwicklung des Single-Daseins in der japanischen Gesellschaft ist Gegenstand des zwei- ten Kapitels, wobei das Phänomen der „Parasiten-Singles“ veranschaulicht wird. Hier werden Kriterien, Charakteristika und Beispiele von sogenannten Parasiten-Singles näher beleuchtet, um diesen Single-Typ von anderen abzugrenzen und einen Einblick in deren Wesen zu be- kommen. Darauf folgt die Darlegung zu den „Nicht-Parasiten-Singles“, dem lebendigen Be- weis für die Fähigkeit, selbstständig und unabhängig - gleichwohl ledig - zu wohnen, zu wirt- schaften und zu leben.
Bevor der zweite große Schwerpunkt der Arbeit, das Konsumverhalten der Singles, in den Mittelpunkt rückt, schließt sich ein Exkurs zur Konsumtheorie sowohl aus westlicher als auch japanischer Perspektive an. Diesbezüglich wird es im dritten Kapitel einen kurzen Abriss zu einigen bedeutenden Thesen und Kritiken in der Wissenschaftstheorie des Konsums geben, um die Begrifflichkeiten Konsum, Konsument, Konsumgesellschaft etwas einzugrenzen und anschließend den japanischen Aspekt herauszuarbeiten.
Dieser wird Grundlage für das folgende vierte Kapitel sein, in dem Schlagwörter wie „Le- bensstil“, „Freizeit“ und „Shopping“ in Japan im Vordergrund stehen. Konsum als Ausdruck des Lebensstils, die Identifikation der eigenen Persönlichkeit mit einem Status über Waren, Dinge, Dienstleistungen in einer freizeitorientierten Gesellschaft, in der Shopping ein Erleb- nis, Hobby und Genuss ist, wird hier veranschaulicht. Diese Begrifflichkeiten stehen an- schließend im japanischen Kontext im Zentrum, wobei das Augenmerk auf die Gruppe der Singles gerichtet wird. Das Käuferverhalten im Allgemeinen wie im Besonderen bezüglich Entscheidungsprozessen wird herausgearbeitet, um Unterschiede in den Konsummustern der einzelnen Lebensformen erkennen zu können.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit konkreten Beispielen zum Konsumverhalten der „Pa- rasiten-Singles“ bzw. „Nicht-Parasiten-Singles“. Die Ergebnisse einer Studie des Hakuhôdô Institute of Life & Living werden bezüglich der unterschiedlichen Bedürfnisse, Präferenzen und Neigungen der beiden Single-Typen verarbeitet und die auffallenden und entscheidenden Parameter des Konsumverhaltens zu jedem Typ herauskristallisiert.
Die abschließende Zusammenfassung dient schließlich dazu, die wichtigsten Eckpunkte in- nerhalb der Debatte um die Single-Problematik in Japan hervorzuheben und wie eingangs erwähnt, mittels gründlicher Ursachenforschung und -darlegung, eine sorgsamere Argumenta- tion im Hinblick auf die Untersuchung von Yamadas These vorzuschlagen.
1 Empirische Befunde
In den folgenden Abschnitten des ersten Teils der Arbeit werden die demografischen Ent- wicklungen für Japan dargestellt. Demografie heißt in diesem Falle „Wissenschaft von der Bevölkerung, insbesondere der Bevölkerungsstruktur und der Bevölkerungsentwicklung“2 und beschränkt sich im engeren Sinne auf die formale Demografie, auf die Beschreibung von Größe, Verteilung, Struktur und Veränderung von Populationen.3
Mit Hilfe von statistischem Zahlenmaterial möchte ich versuchen, einen Überblick über die Bevölkerungsstruktur Japans zu geben, wobei folgende Punkte von besonderem Interesse sein werden: Empirie und Analyse der Bevölkerungsstruktur im Hinblick auf Alter (Altersgrup- penverteilung, durchschnittliche Lebenserwartung) und Familienstand, deren Veränderung infolge von Geburten- bzw. Sterbefällen sowie Heiratsverhalten. Außerdem wird die Entwick- lung der Haushaltsgröße und der Anzahl der Haushaltsmitglieder im Laufe des letzten Jahr- zehnts untersucht und analysiert.
1.1 Tendenzen in der Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Japan
Einführend zur Demografie Japans ist es meines Erachtens sinnvoll, einige Eckdaten zur Be- völkerungsentwicklung Japans zu nennen, um diese zeitlich und dimensional einordnen zu können. Japans Bevölkerung hatte, beginnend mit dem 18. Jahrhundert bis hin zur Hälfte des 19. Jahrhundert, eine stabile Einwohnerzahl von etwa 30 Millionen zu verzeichnen. Mit der Meiji-Restauration im Jahre 1868 begann die Bevölkerung - im Zuge des Aufbaus eines mo- dernen Nationalstaates - zu wachsen. 1926 zählte man um die 60 Millionen, und im Jahre 1967 überschritt die Einwohnerzahl die 100-Millionen-Grenze. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird angenommen, dass die Einwohnerzahl Japans im Jahre 2006 ihren höchsten Wert mit circa 127,7 Millionen Menschen erreichen und in eine Periode des Bevölkerungsschwundes geraten wird.4
Zum Zensus im Jahr 2000 zählte Japans Bevölkerung 126 925 843 Menschen,5 und im Jahr 2001 war Japan das Land mit der neuntgrößten Population der Welt, was 2,1% der Weltbe- völkerung entspricht.
1.1.1 Bevölkerungsverteilung nach Altersgruppen und durchschnittliche Lebenserwartung
Beginnen möchte ich mit einer kurzen Zusammenfassung eines Berichtes im Rahmen des Auslandsjournals im ZDF mit dem Titel „Jungbrunnen in Japan – Das Dorf der Hundertjähri- gen.“6
„In dem Dorf der rüstigen Rentner ist schon lange Realität, was in ganz Japan in etwa zwan- zig Jahren eintreten wird: Jeder dritte Bewohner ist über 65. Wenn die Kleinen aus dem Kin- dergarten in Ôgimi im Berufsleben stehen, muss jeder von ihnen einen Rentner unterstützen.“, so wird von dem kleinen Dörfchen Ôgimi im Norden Okinawas berichtet. Statistisch gesehen gibt es in Ôgimi 10 mal so viel 100jährige wie im übrigen Land. Die Alten sind glücklich - einer der Gründe, warum so viele von ihnen über 100 Jahre alt werden, sagen die Forscher.
Japans Renten- und Gesundheitssystem drohe genau wie unserem der Kollaps. „Aber Ôgimi mit seinen glücklichen und kerngesunden alten Menschen ist nicht Teil des Problems,“ meint Altersforscher Prof. Taida, „sondern Teil der Lösung. Die Regierung will erreichen, dass je- der Mensch bis zu seinem Ende gesund bleibt und die Kranken- und Pflegeversicherung mög- lichst wenig belastet. In Ôgimi nehmen die Alten aktiv am sozialen Leben teil und arbeiten weiter, deswegen sind sie glücklich und gesund, wenn das im ganzen Land überall so wäre, gäbe es überhaupt kein Problem.“
Das Programm im Seniorenclub dient allein dem Zweck, die alten Menschen froh zu machen, denn wer froh ist, wird nicht krank. Doch die Wurzel des Übels muss auch an anderer Stelle gesucht werden, was Gegenstand dieses ersten Kapitels sein soll.
Am Altersaufbau der Bevölkerung eines Landes lässt sich ablesen, wie sich das Verhältnis der jüngeren zur älteren Generation entwickelt. Dies wird oft in einer Grafik dargestellt, die bei der optimalen Verteilung der einzelnen Altersgruppen eine pyramidenartige Form aufweist. An diesem Punkt lässt sich eine für die Demografie Japans durchaus bedenkliche Entwick- lung erkennen: Bereits heute ist Japan durch eine verhältnismäßig schwach vertretene junge Generation gekennzeichnet. Das heißt, dass sich die sogenannte Alterspyramide weiterhin in eine atompilzartige Figur wandelt bzw. wandeln wird und die Überalterung der Gesellschaft (kôreika shakai) voranschreitet.
Im Jahr 2000 lebten in Japan mehr 65-Jährige oder ältere Menschen als 15-Jährige und jünge- re, wie die folgende Ansicht zeigt:
Tabelle 1: Population by age group (1,000)7
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Source: Ministry of Public Management, Home Affairs, Posts and Telecommunications, Japan
Die prozentuale Verteilung lässt sich wie folgt beschreiben: Der Anteil der unter 15-Jährigen und der 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt 31,9%, wobei rund 14,6% auf die ers- te Gruppe und rund 17,3% auf die zweite Gruppe entfallen.8
Erst wenn man in der Statistik einige Jahrzehnte zurückgeht, wird die Schwere des Problems der Überalterung der Bevölkerung deutlich. Laut der Tabelle hat sich die Zahl der Menschen im Alter von 65 Jahren oder älter von 1950 mit 4 155 000 Menschen bis 1980 auf knapp 11 Millionen nahezu verdreifacht, eine weitere Verdopplung ist bereits in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten zu erkennen.9
In kontinuierlicher Weise hat auch die Anzahl der Menschen in Japan zugenommen, die ein Lebensalter jenseits der 100 erreichen. Im Jahr 1960 waren es 144 Menschen mit einem Alter von über 100 Jahren, 20 Jahre später 968, und vom Jahr 1990 ist die Zahl von 3 298 auf be- achtliche 13 036 Personen im Jahr 2000 angestiegen.10 Hier ist zu erwähnen, dass seit den 1980er Jahren die Frauen stets den größeren und ab den 1990er Jahren zusätzlich einen sehr beträchtlichen Anteil an dieser Bevölkerungsgruppe ausmachen, wie die folgende Tabelle zeigt.
Tabelle 2: Anzahl der Personen mit einem Alter über 100 Jahren11
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Lebenserwartung in Japan hat vom Jahr 1980 bis zum Jahr 2000 bei Männern um 4,29 Jahre und bei Frauen um 5,86 Jahre zugenommen.12 Das bedeutet für die 60-Jährigen in den vergangenen 25 Jahren eine Lebensverlängerung um circa vier Jahre. Im folgenden ist die ständig steigende Lebenserwartung der Japaner für Männer und Frauen getrennt grafisch dar- gestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Life Expectancy at Birth (1983-2001)13
In einem Interview mit Naohiro Ogawa, Bevölkerungsexperte und Wirtschaftsprofessor, kam zur Sprache, dass die Bevölkerung der über 65-Jährigen in Japan im Jahr 2025 am höchsten und Japan das älteste Volk der Welt sein wird. Im Jahr 2007 wird in Japan als erstem Land der Welt die Rate der über 65-Jährigen erstmals die 20%-Marke überschreiten.
„Japan konnte in der Vergangenheit sehr gut Maßnahmen von anderen Ländern adaptieren. Doch dann können wir nicht mehr die Politik anderer Länder kopieren,“ führt Ogawa fort, „da Japan als erstes Land diese Erfahrungen bezüglich des demografischen Wandels machen wird.“ Hier seien eigene Strategien gefragt. Im Jahr 2025 wird es aufgrund der Unterschiede in der Lebenserwartung mehr Frauen - ältere Frauen - als Männer in der japanischen Bevölke- rung geben, und der Großteil dieser Frauen wird verwitwet sein, schlussfolgert Ogawa.14
Die Auswirkungen dieser Entwicklung für die Altersversorgungssysteme, das Gesundheits- wesen und die Altenpflege sind offensichtlich und schwerwiegend. Es ergeben sich daraus aber auch Auswirkungen auf die Struktur des Arbeitsmarktes, der Familie und der Machtver- hältnisse in der Gesellschaft, worauf ich an anderer Stelle noch einmal eingehen werde.
1.1.2 Geburten- und Sterbeziffern, Eheschließungen und Ehescheidungen
Neben der wachsenden Lebenserwartung, haben auch niedrige Geburtenzahlen und abneh- mende Heiratsbereitschaft einen entscheidenden Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung eines Landes. Im folgenden sind zunächst die Sterbezahlen den Geburtenziffern für Japan gegenübergestellt.
Tabelle 3: Live birth rates and death rates (1995-1999)15
Live birth rate (per 1,000 population) Death rate (per 1,000 population)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Vergleicht man die Zahlen langfristig miteinander (siehe nachfolgende Tabelle) und geht da- bei bis in die fünfziger Jahre zurück, ist das Problem offensichtlicher. Andere Quellen besa- gen Ähnliches: Beispielsweise erreichte die Geburtenrate zur Zeit des zweiten Babybooms zwischen 1971 und 1973 einen Wert von 19,9. Von dieser Zeit an sank die Rate ständig bis auf 9,6 im Jahr 1993. Im Jahr 1994 gab es nach 21 Jahren einen leichten Aufwärtstrend (10,0), der aber wieder in einen erneuten Abfall der Rate umschlug. Schließlich wurde im Jahr 1999 ein Wert von 9,4 erreicht. Dies war der niedrigste Wert seit 1899, dem Zeitpunkt, an dem man in Japan begann, derartige Statistiken aufzustellen.16
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Vital Statistics17
Dieser generelle Rückgang der Geburtenrate in Japan ging einher mit dem des durchschnittli- chen Alters, in dem Frauen ihr erstes Kind zur Welt brachten. Dies stieg von 25,6 Jahren im Jahr 1970 auf 28 Jahre im Jahr 2000 an.
Laut Sumiko Iwao, Psychologin und Professorin der Keiô-Universität, kann der Rückgang der Kinder in der japanischen Gesellschaft auf Ursachen wie die ausgedehnte Geburtenkontrolle und die Legalität der Abtreibung aus wirtschaftlichen Gründen zurückgeführt werden.18 In den frühen Nachkriegsjahren gebar die Durchschnittsjapanerin 4 Kinder. Im Jahr 1989 war diese Zahl auf 1,57 gefallen. Dies verursachte eine gewisse Unruhe unter den männlichen Politikern und man begann, sich ernsthaft Sorgen um die fallende Kinderanzahl pro Familie zu machen, die im Jahr 1995 bei 1,43 und im Jahr 2000 bei 1,35 lag,.19 Eine Besserung ist nicht in Sicht.
Zur Sterblichkeitsrate ist nur kurz folgendes zu bemerken: Diese schwankte von 1975 bis 1987 zwischen 6,0 und 6,3. Seit 1987 ist ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen, was sich allerdings auf den generell sehr hohen Anteil an älteren Menschen in der Bevölkerung zurückführen lässt. Im Jahr 2000 betrug die Sterblichkeitsrate 7,7%.20
Auf die Eheschließungen möchte ich etwas näher eingehen. Die Anzahl der Eheschließungen pro Jahr in Japan erreichte in den frühen 1970ern erstmals die 1-Millionen-Marke. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Rate kontinuierlich ab und seit dem Jahr 1993 ist sie Jahr für Jahr relativ stabil geblieben. Im Vergleich zum Jahr 1970, in dem es 1 029 405 Hochzeiten gab, heirateten 1999 nur noch 762 028 Paare.21
Laut des Statistikamtes waren im Jahr 2000 69,3% der Männer im Alter zwischen 25 und 34 Jahren unverheiratet und 54% der Frauen zwischen 25 und 30 Jahren. Das bedeutet, dass seit 1995 der Prozentsatz der Unverheirateten in den späten 20ern um 2,5 Punkte bei den Männern und 5,9 Punkte bei den Frauen zugenommen hat. Der Anstieg ist sogar noch höher bei den 30 bis 34-Jährigen: 42,9% der Männer (Anstieg um 5,6 Punkte) und 26,6% der Frauen (Anstieg um 6,9 Punkte) blieben in ihren frühen 30ern ledig. Hervorzuheben ist hier, dass die höchste Rate an ledigen Menschen zwischen 25 und 29 Jahren im Großraum Tôkyô zu finden ist, wo 79,4% der Männer und 65,3% der Frauen unverheiratet sind.22 Das durchschnittliche Alter der ersten Hochzeit ist in den letzten 30 Jahren in ganz Japan bei den Männern von 27,6 auf 30,2 Jahre und bei den Frauen von 24,6 auf 27,9 Jahre angestiegen.23
Die Angaben zu den Scheidungen sollen ebenso etwas ausführlicher erläutert werden. Die Scheidungsrate in Japan liegt zwar immer noch deutlich unter dem Durchschnitt anderer In- dustriestaaten, doch die Anzahl der Scheidungen ist im Ansteigen begriffen. So gab es im Jahr 1990 knapp 158 000 und im Jahr 1999 bereits reichlich 250 000 Scheidungen,24 was für Japan erstaunlich viel ist. Die jüngere Generation nimmt zum Thema Scheidungen eine immer tole- rantere Stellung ein. In der folgenden Grafik ist die Eheschließungsrate der Scheidungsrate gegenübergestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Source: Ministry of Health, Labour and Welfare, Japan
Abbildung 3: Changes in Marrriage Rate and Divorce Rate25
An dieser Stelle ist erwähnenswert, dass die Zahl der Scheidungen von Ehepaaren, die mehr als 15 Jahre verheiratet sind, angestiegen ist. Diese Entwicklung ist wiederum ein Produkt der Industrialisierung und Urbanisierung. Der Anstieg der Mobilität, die Trennung von Wohn- und Arbeitswelt schwächten den Familienzusammenhang. Die Individuen (hier: Mann und Frau ) begannen sich aus den Gruppenzwängen zu lösen und sich zwei getrennte soziale Wel- ten zu schaffen: Der Mann überlässt für gewöhnlich das Management des Haushalts und der Kindererziehung der Ehefrau, die auch die Familienfinanzen überwacht. Der Ehemann hinge- gen arbeitet lang und hart für das Wohl der Familie und seine Abkehr von häuslichen Pflich- ten hat den Effekt, dass die Ehefrau psychisch unabhängig wird. Laut Iwao sind Scheidungen unter Paaren im Alter von 45 und älter ein weiteres neues Phänomen, welches das pragmati- sche Denken japanischer Frauen reflektiert.26
1.1.3 Haushaltsgröße
Aufgrund der Abnahme der Heiratsbereitschaft und der Kinderzahlen, aber auch wegen der Zunahme der Ehescheidungen und der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung hat sich die durchschnittliche Personenzahl der Haushalte stark vermindert. Demgemäß nimmt die Haus- haltsgröße in Japan seit Jahren ab: Haushalte mit mehr als fünf Personen sind nur noch äu- ßerst selten vorzufinden, während die Zahl der Einpersonenhaushalte ständig wächst. Beson- ders in Großstädten sind Einpersonenhaushalte überdurchschnittlich häufig anzutreffen. Die steigende Tendenz der Einpersonen- bzw. Kernfamilienhaushalte lässt sich in folgender Ab- bildung erkennen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Changes in Household Composition27
Laut dieser Ergebnisse waren 26,5% aller Haushalte Japans Einpersonenhaushalte, 59,2% stellten Kernfamilienhaushalte dar, und es wird angenommen, da sich die durchschnittliche Haushaltsgröße verkleinern wird, dass sich die Anzahl der Haushalte in Zukunft erhöhen wird, auch wenn die Bevölkerung Japans insgesamt abnimmt. Dieser Trend ist in folgender Abbildung zu erkennen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Number of Households, Population in Households (1980-2000)28
Die Zunahme der Einpersonenhaushalte im Vergleich zur Gesamtanzahl der Haushalte in den letzten 20 Jahren wird in der folgenden Tabelle veranschaulicht.
Tabelle 4: Distribution of one-person-households (in 1 000)29
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Source: Ministry of Public Management, Home Affairs, Posts and Telecommunications, Japan
Von den 1920ern bis in die Mitte der 1950er Jahre zählte der durchschnittliche japanische Haushalt rund 5 Mitglieder, in den 1970ern verringerte sich die Zahl aufgrund der abnehmen- den Geburtenziffer auf 3,41 Personen.
Die Anzahl der Mitglieder ging weiterhin zurück, da sich einerseits ein Trend zur Kernfamilie entwickelte und sich andererseits die Zahl der Einpersonenhaushalte seit den 1980ern erhöhte. Im Jahr 2000 besteht der durchschnittliche Haushalt in Japan aus 2,67 Personen und wird sich bis ins Jahr 2020 auf 2,49 Personen verringern.30
Seit 1995 stieg die Anzahl der Kernfamilienhaushalte um 6,1%, und im Jahr 2000 sind 58,4% aller Haushalte Kernfamilienhaushalte. Des Weiteren nahm seit 1995 die Anzahl der Haushal- te, die nur aus zwei Ehepartnern bestehen, um 16% zu; Haushalte, bestehend aus Ehepartnern und Kindern, nahmen um 0,8% ab.
Knapp 13 Millionen Haushalte sind Einpersonenhaushalte, das entspricht 27,6% aller Haus- halte und einem Anstieg von 14,9% seit dem Jahr 1995.31 Es ist darauf hinzuweisen, dass ein beträchtlicher Teil der Einpersonenhaushalte aus Mitgliedern mit einem Alter von über 65 Jahren besteht. Dieser Anteil betrug 1975 1,1 Million, was einem Prozentsatz von 3,3 ent- spricht und stieg im Jahr 2000 auf 6,26 Millionen (13,7%), was folgende Tabelle darstellt.
Tabelle 5: Increase of Elderly Households32
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Innerhalb dieser Ergebnisse lässt sich weiterhin erkennen, dass die Anzahl der alleinlebenden Menschen über 65 Jahre von 1975 bis zum Jahr 2000 von 0,61 auf 3,08 Millionen anstieg und sich damit verfünffachte, was die anschließende Abbildung aufzeigt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Anzahl der verschiedenen Haushaltstypen mit Mitgliedern über 65 Jahre (1990- 2000)33
Außerdem lebten im Jahr 1997 laut Angaben im Interview mit Ogawa 14,7% der Frauen über 65 Jahren allein, diese Zahl wird in den folgenden Jahren auf schätzungsweise 23% anstei- gen.34
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Percentage Distribution of Households of single women aged 60 and over by age group35
Ein auffallender und für diese Arbeit ausschlaggebender Aspekt hinsichtlich der Haushalte und deren Zusammensetzung ist die Tatsache, dass ein Großteil der jungen Leute im Haus der Eltern wohnen bleibt.
Laut dem Zensus aus dem Jahr 1995 waren es 53 Millionen Menschen oder 42,5% der Ge- samtbevölkerung Japans, die mit ihren Eltern zusammenwohnten, davon waren 27 Millionen Männer und 26 Millionen Frauen. 67,6% der 53 Millionen im Alter von 20 bis 39 Jahren wa- ren ledig und lebten zudem unter dem Dach der Eltern, wie es die folgende Abbildung zeigt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Zusammenleben mit den Eltern36
Im Jahr 2000 gab es in Japan 36,79 Millionen 20-39-Jährige, was rund 2 Millionen mehr wa- ren als zum Zensus im Jahr 1995. Von den 36,79 Millionen waren 18,04 Millionen unverhei- ratet. Diese Zahl spaltet sich bezüglich des Zusammenlebens mit den Eltern wie folgt auf: Es wohnten 12,15 Millionen 20-39-jährige Ledige bei den Eltern, was 67,3% entspricht, 5,9 Mil- lionen (32,7%) wohnten nicht im elterlichen Haushalt, was auf folgender Grafik zu sehen ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 9: Zusammenleben mit den Eltern (2000)37
Die Zahl der bei den Eltern wohnenden unverheirateten 20-39-Jährigen machte mit 9,57% im Jahr 2000 knapp ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Japans aus und ist damit im Vergleich zu 1995 (9,43%) marginal angestiegen.
In einem japanischen Pressebericht waren Angaben bezüglich der Abhängigkeit der Kinder von den Eltern zu finden. Demzufolge beträgt der Anteil der ledigen 25-49-jährigen Frauen, der wirtschaftlich von den Eltern abhängig ist, 40%, bei den Männern sind es 30%. Außerdem gaben 73% der weiblichen Befragten an, dass sie sich von den Eltern um- bzw. versorgen lassen, der männliche Anteil betrug 52%.38 Hier kann jedoch kein Rückschluss auf die Wohn- verhältnisse gezogen werden. Es könnte sich sowohl um Personen handeln, die bei den Eltern wohnen oder allein oder auch um Pärchen, die einen eigenen Haushalt führen, sich aber im Haushalt helfen lassen und Unterstützung bei Dingen des alltäglichen Lebens von den Eltern bekommen.
1.2 Analysen und Fazit
Zum ersten Teil der Arbeit kann man zusammenfassend feststellen, dass sich die Demografie Japans in den letzten Jahren und Jahrzehnten dahingehend entwickelt hat, dass die Überalte- rung der Gesellschaft weiterhin fortschreitet und die Anzahl der Menschen der älteren Gene- ration im Vergleich zu den Jüngeren unverhältnismäßig groß geworden ist. Dies liegt zum einen am kontinuierlichen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen. Gleichzeitig nehmen die Geburten ab und die Sterbeziffern bleiben eher stabil. Zum anderen entscheiden sich immer weniger Menschen für den Familienstand der Ehe und die Eheschei- dungen nehmen zu.
Die Entwicklung der Geburten, aber auch der Eheschließungen und -scheidungen spiegelt die veränderte Einstellung der Gesellschaft zur Familie und zu Kindern wider. Hinsichtlich des Heiratsverhalten ist eine Veränderung hin zu einer gewissen Liberalisierung und Zunahme an Toleranz zu verzeichnen. Die Statistiken waren Beweis dafür, dass sich die Einstellungen zu Familie, Heirat und Kinderwunsch in der japanischen Gesellschaft stark geändert haben und dass Heiraten längst keine Selbstverständlichkeit mehr für junge erwachsene Frauen und Männer ist.
Nicht zu vernachlässigen ist die Erhöhung der Zahl der Altersscheidungen, die einer kurzen Analyse bedarf. Geht eine verheiratete Frau einer Beschäftigung nach und werden die Kinder langsam selbstständig, kommt der Wunsch in ihr auf, die Ressourcen für ein unabhängiges Leben ebenso wie der Mann zu nutzen. Sie beginnt, die Vor- und Nachteile abzuwägen, mit einem Mann verheiratet zu bleiben, der die meiste Zeit am Arbeitsplatz verbringt und sich keine Mühe gibt, mit seiner Frau zu kommunizieren. Sie stellt sich vor, dass er, wenn er pen- sioniert ist, die ganze Zeit zuhause sein, weniger tun und Anweisungen geben wird und sie all ihre Freiheit und Autonomie verlieren würde, die sie bis dahin hatte. Japanische Frauen nen- nen ihren „unbrauchbar gewordenen Mann“ochi nureba - feuchtes (störendes) Laubblatt - welches an der Schulter einer vielbeschäftigten Frau haftet und sich nur schwer entfernen lässt. Anstatt den unbrauchbaren Ehemann „wegzukehren“, beschließen einige Frauen, sobald die Kinder aus dem Haus sind, sich ihren eigenen Weg zu suchen. Diese Frauen sind ge- fühlsmäßig durchaus bereit und gewillt, ein unabhängiges Leben zu führen. Innerhalb von 20 oder 30 Jahren Ehe, in denen der Ehemann nur selten ein Wort der Anerkennung oder Zunei- gung verloren hat, haben diese Frauen gelernt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und in eigener Regie zu handeln. Dennoch, die Scheidung verläuft nicht, ohne von ihnen Opfer zu verlangen: Sie werden gezwungen sein hart zu arbeiten, um ihr Leben zu meistern, und infol- gedessen werden sie auch etwas von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Freiheit abgeben müssen.
Die genannten Aspekte führen dazu, dass sich die Anzahl der Haushalte in Japan stetig er- höht, obwohl die Bevölkerung abnimmt. Hier ist allerdings einzufügen, dass die steigende Zahl von Einpersonenhaushalten hauptsächlich durch ältere Menschen bedingt ist und deshalb keine Aussage über die Entwicklung der Anzahl der Singles erlaubt.
Die ständig zunehmende Lebenserwartung und die damit abnehmende Sterbeziffer ist die Folge des steten medizinischen Fortschritts und der ständigen Erforschung neuer Medikamen- te. Viele noch vor Jahrzehnten tödlich verlaufende Krankheiten, wie zum Beispiel Seuchen, die sich über ganze Siedlungen oder Städte ungehindert ausbreiten konnten, können heutzuta- ge geheilt werden. Außerdem nimmt das Gesundheitsbewusstsein der Menschen zu, um zum Beispiel noch nicht heilbaren Krankheiten wie Krebs vorzubeugen. Laut „Pharmazeutischer Zeitung“ hat die Selbstmedikation beispielsweise in Deutschland, bezogen auf den Arzneimit- telmarkt, in den letzten Jahren zugenommen. Gemessen an den abgesetzten Einheiten ent- sprachen 677 Millionen Packungen einem Anteil von mehr als 70 %, der direkt von den Verbrauchern im Rahmen der Selbstmedikation gekauft wurde. Immer mehr Patienten thera- pieren sich bei Bagatellerkrankungen selbst und versorgen sich dazu mit nicht verschrei- bungspflichtigen Arzneimitteln aus der Apotheke. Die Bereitschaft, möglichst bis ins hohe Alter Zeit und Geld in das kostbare Gut Gesundheit zu investieren, steigt.39
Der direkte Vergleich der Verteilung der Altersgruppen ist sehr gut an der Bevölkerungspy- ramide - soweit man sie noch als solche bezeichnen kann - erkennbar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 10: Bevölkerungspyramide - Japan 200040
In dieser Darstellung ist der deutliche Überschuss der Älteren (über 60-Jährige) über die Jün- geren (bis ungefähr 20 Jahre) zu erkennen. Diese Entwicklung zu Gunsten der älteren Bevöl- kerung birgt vielerlei Probleme hinsichtlich der Altersversorgung in Japan. Es sind nicht mehr genügend junge Menschen vorhanden, deren Wirtschafts- und Steuerkraft die Rentenzahlung für die Zukunft sichert.
In Japan gibt es seit Mitte der 1980er Jahre eine Art „Rentengerechtigkeit“, deren Kernpunkt die Einführung einer Modell- oder Basisrente war. Diese Basisrente ist für alle Personen gleich hoch, gekoppelt an den Lebenshaltungskostenindex, und stellt für Selbstständige und nicht versicherte Ehefrauen eine Art Grundrente dar, die jedoch sehr knapp bemessen ist. Für alle anderen bildet die Basisrente nur den Sockel, der durch einen einkommensabhängigen Anteil erweitert wird und sich meistens zu einer sehr beträchtlichen Summe addiert.41 Dieser Basisteil muss jedoch ebenfalls erst einmal erarbeitet werden, um anschließend den Älteren zur Verfügung zu stehen.
Allerdings liegt das Problem der Überalterung der Gesellschaft in Japan nicht nur im Rück- gang oder sogar Wegfall der Rentenzahlungen, sondern auch in der zunehmenden Anzahl der Menschen, die eines Tages zum Pflegefall werden und auf junge Menschen (z.B. die eigenen Nachkommen) angewiesen sind. Die Sorge ist hier die bis zum Jahr 2000 fehlende Pflegever- sicherung, wie sie in Deutschland genannt wird. Es gibt kein solch ausgeprägtes - man möchte fast sagen erschöpfendes - Sozialversicherungssystem, wie wir es bis jetzt hierzulande noch kennen. Aufgrund dessen ist es üblich, dass die Kinder ihre Eltern im hohen Alter und bei Krankheit im Haus der Eltern pflegen.
Hier lässt sich anknüpfen und vermuten, dass, je mehr ältere und pflegebedürftige Menschen es gibt, um so mehr jüngere Menschen im Haus der Eltern wohnen bleiben, um für deren Pflege zu sorgen. Die Kosten für die jungen Leute wären in diesem Fall zu hoch, sowohl den Haushalt der Eltern als auch den eigenen zu führen. Dies könnte auch als Ursache für die Zu- nahme der Kernfamilien genannt werden.
Die vorangegangenen empirischen Befunde zeigen, dass sich in Japan ein Wandel in der Be- völkerungsstruktur vollzieht, der sich maßgeblich auf die soziale Gliederung und die Lebens- formen in der Gesellschaft auswirkt. Laut japanischem Statistikamt sei hier unter anderem der Anstieg der Rate der Ledigen in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen als eine Ursache für den Geburtenrückgang und die extreme Überalterung der japanischen Gesellschaft zu nennen.
Ähnlich argumentiert Yamada Masahiro, der einzig und allein die sogenannten Parasiten- Singles - die Mitte 20- bis Ende 30-jährigen Ledigen, die bei den Eltern wohnen - für die Be- völkerungsproblematik, genauer gesagt für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich macht. Laut seinen Angaben schlugen die „Parasiten-Singles“ im Jahr 1995 mit einer Zahl von 10 Millionen zu Buche. Er nahm zu diesem Zeitpunkt an, dass diese Gruppe im Jahr 2000 10% der Gesamtbevölkerung ausmachen wird, wenn man den kontinuierlichen Anstieg der Ledigen in der japanischen Bevölkerung betrachtet.42 Mit 9,57% entspricht dies nahezu Ya- madas Prognosen.
Hier müssen einerseits die Ursachen für die Tendenz zum Single-Leben und andererseits die Beweggründe, die dazu führen, dass ein junger lediger Mensch bei den Eltern wohnen bleibt, differenziert betrachtet und analysiert werden. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern die junge Generation Japans dieses „Parasiten-Single-Leben“ bewusst praktiziert und welche Mo- tive zu einem solchen gesellschaftlichen Phänomen führen, was Gegenstand des nächsten Kapitels ist.
[...]
1 Yamada (1999)
2 Lexikon zur Soziologie (1994: 129)
3 Dinkel (1989: 1)
4 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
5 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/12.htm
6 ZDF auslandsjournal 16.01.03, 22.15 Uhr
7 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
8 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
9 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 59)
10 Asai Shinbun (Hg.) (2002: 59)
11 ibid
12 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 225)
13 http://jin.jcic.or.jp/stat/stats/02VIT24.html
14 http://www.mofa.go.jp/j_info/japan/socsec/ogawa.html
15 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 61)
16 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
17 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
18 http://www.mofa.go.jp/j_info/japan/opinion/iwao.html
19 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 61)
20 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm#cha2_3
21 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 62)
22 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/04.htm
23 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 62)
24 Asahi Shinbun (Hg.) (2002: 62)
25 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm.
26 http://www.mofa.go.jp/j_info/japan/opinion/iwao.html#prof.
27 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
28 http://jin.jcic.or.jp/stat/stats/01CEN31.html
29 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/12.htm; http://www.stat.go.jp/english/data/figures/zuhyou/1608.xls.
30 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
31 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/06.htm
32 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
33 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
34 http://www.mofa.go.jp/j_info/japan/socsec/ogawa.html
35 http://www.mofa.go.jp/policy/human/women_rep5/003.html
36 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/1995/12.htm
37 http://www.stat.go.jp/data/kokusai/2000/kihon1/00/hyodai.htm
38 http://www5.cao.go.jp/j-j/wp-pl/wp-pl01/html/13102c10.html
39 http://www.pharmazeutische-zeitung.de 13-2003.
40 http://www.stat.go.jp/english/data/handbook/c02cont.htm
41 Pohl; Mayer (1998: 449)
42 Yamada (1999: 154ff.)
- Arbeit zitieren
- Ulrike Schlack (Autor:in), 2003, Singles in Japan - Demografischer Wandel und Konsumverhalten Ende der 1990er Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123917
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