Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung..
2. Sprechsituation
3. Aufbau
3.1. Form
3.2. Vers- und Satzbau
3.3. Metrum, Kadenzen und Reime
4. Rhetorische Figuren und Tropen
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Jahre 1771 verfasste Johann Wolfgang von Goehte das Liebesgedicht "Willkommen und Abschied". Es ist der Literaturepoche Strum und Drang zuzuordnen, und besticht vorallem durch seine reichhaltige Darstellung von Emotionen. Gegen 1785 überarbeitete Goethe den Text, entfernte einige Verse und veränderte insbesondere den Schluss. Das bis dahin namenlose Gedicht bekam erst 1810 seinen entgültigen Titel.
Diese Arbeit bezieht sich auf die spätere Fassung von 1785.1
2. Sprechsituation
In dem Gedicht kommen zwei Personen vor. Eine davon ist das artikulierte Ich 2, was bedeutet, dass der Erzähler ein Teil seiner erzählten Geschichte ist ("Es schlug mein Herz" V.1).
Bis zur Mitte des Gedichts ist unklar, ob das Ich zu dem Leser spricht, oder ob es sich an jemand anderen richtet. Gleich zu Beginn der zweiten Hälfte aber wird deutlich auf die zweite Person 3 im Text aufmerksam gemacht, indem der Erzähler das Du direkt und gleich zu Beginn des Verses anspricht. ("Dich sah ich" V.17). Das Ich richtet sich also nicht an den Leser, sondern an das Du.
Das Ich stellt sich selbst als einen heldenhaften Reiter dar ("geschwind zu Pferde" V.1; "fröhlich war mein Mut" V.14), während das Du als eine schöne, junge Frau umschrieben wird ("von dem süßen Blick auf mich" V.18; "das liebliche Gesicht" V.22). Erst mit der Identifizierung des Du beziehungsweise dieser Frau in der dritten Strophe kann der Leser, trotz aller möglichen Verdachtsmomente, von einem Liebesgedicht ausgehen, da zuvor weder eine zweite Person, noch das Motiv der Liebe direkt oder indirekt erwähnt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3. Aufbau
Goethe hat seinen Text in einer strengen und durchdachten Struktur verfasst. Es ist dieser intendierten Form zu verdanken, dass er trotz seines leidenschaftlich formulierten Inhalts unbeschwert wirkt und obendrein noch gut zugänglich für den Leser bleibt.
3.1. Form
Das Gedicht besteht aus vier Strophen, von denen jede wiederum acht Verse enthält. Der symetrische Aufbau ähnelt dem vieler deutscher zeitgenössischer Achtzeiler4 und weist keine spezielle historische Form auf. Jeder Vers beginnt grossgeschrieben, gleichgültig ob ein neuer Satz beginnt oder nicht. Der Text ist komplett im Präteritum gehalten, durchgehend rythmisch und linksbündig gedruckt5.
Die Überschrift ist für das Verständnis des Gedichtes nicht zwingend erforderlich, gibt aber wertvolle Hinweise auf das Thema6. Zusätzlich lässt sich der Titel auch als Hilfestellung für eine inhaltliche Gliederung verwenden. So könnte man die ersten beiden Strophen den ersten Sinnabschnitt (I)7 nennen, in dem die Gefühle des Ichs beschrieben werden. Die dritte Strophe, als zweiter Sinnabschnitt (II), könnte man als das 'Willkommen' bezeichnen. Hier treffen sich die beiden Figuren.
Die letzte Strophe (III) beschreibt folglich den Abschied, der unweigerlich folgen muss. Obwohl er für diese Art der Gliederung nicht zwingend erforderlich ist, lässt sich dem Titel so doch ein gewisser Wert für die Analyse des Textes zusprechen.
3.2. Vers- und Satzbau
Die vier Strophen bestehen aus mehreren Sätzen und sind allesamt unterschiedlich aufgebaut. Der Autor verwendet sowohl eine hypotaktische wie auch parataktische Schreibweise und ist ganz offensichtlich keinem historisch-formalen Zwang unterlegen, seine Verse auf eine vorbestimmte Art abzuschliessen. So finden sich neben diversen Satzzeichen in unregelmässiger Verteilung, wie Kommata, Punkte, Semikola, Doppelpunkte und Ausrufungszeichen auch mehrere Enjambements in dem Text:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
(V.7 - V.10)
Obwohl diese beiden Enjambements einzeln betrachtet wenig Nutzen in Bezug auf den Inhalt der Verse oder die Stell`ung der Sätze ergeben, sind sie zusammen betrachtet doch mehr als hilfreich für den Lesefluss. Unter der Annahme, dass sich das Gedicht inhaltlich in drei Sinnabschnitte gliedern lässt (siehe 3.1, S.4) und die ersten beiden Strophen folglich zusammengehören, so würde zwischen ihnen durch die beiden Enjambements ein deutlich fliessenderer Übergang geschaffen.
In der dritten Strophe von Goethes Gedicht finden sich gleich mehrere Enjambements hintereinander:
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
(V.17 - V.22)
Schon beim ersten Durchlesen nimmt man die dritte Strophe als den emotionalen Höhepunkt des Textes wahr, oder anders ausgedrückt: als den Verlauf des Höhepunktes, denn er beginnt bereits zwei Verse zuvor ("In meinen Adern welches Feuer! / In meinem Herzen welche Glut!" V.15 / V.16). In diesem Sinnabschnitt (II), der das Willkommen, also das Treffen der beiden Verliebten beschreibt, soll dem Leser ihre Leidenschaft und ihre Lust vermittelt werden. Dieser Effekt wird nicht nur über Rhetorik, sondern auch über die Enjambements erzielt. Gleich das erste der Dreien erzeugt, zusammen mit der Alliteration 'Freude-Floß' (siehe 4, S.11) einen Lesefluss. Der Leser soll also 'mit der Freude fliessen', die das Ich empfindet. Dieses Verfahren setzt sich, durch die zwei folgenden Enjambements, bis zum Ende des 23. Vers fort. Nun liesse sich diese Strophe auch leicht als eine Allegorie auf eine Liebesnacht verstehen (siehe 4, S.12). In diesem Fall wäre der Einsatz der drei Enjambements umso nachvollziehbarer. Wenn man Diese mit einem ) markiert, so ergibt sich von der dritten Strophe folgendes Bild:
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
(V.17 - V.24)
Die Enjambements in ihrem klaren Rythmus, gefolgt von den beiden Ausrufungszeichen, eines für den sexuellen Höhepunkt des jeweiligen Liebenden, können auf diese Weise durchaus graphisch den Liebesakt darstellen.
In der vierten Strophe (III) befinden sich weitere Enjambements:
Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
(V.25 - V.26)
Diesem Zeilensprung fallen zwei Wirkungen zu: Zum einen das Nachhallen der ekstatischen dritten Strophe hinein in die vierte, durch das sich der Lesefluss normalisiert und nicht abrupt durch den Strophensprung unterbrochen wird. Zum anderen erzeugt das Enjambement hier aber auch eine besondere Form der Bewegung, nämlich die des Sonnenaufgangs und die der Verengung des Herzens8. Beide werden auf diese Weise in einen näheren Zusammenhang gebracht, da der Zeilensprung zum Weiterlesen zwingt.
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
(Ebd., V.29 - V.30)
Vergleicht man den hier verwendeten Referenztext9 mit denen anderer Quellen10, so fällt auf, dass nur in einigen der Fassungen im Vers 29 ein Enjambement benutzt wird; in vielen anderen Versionen ist an dieser Stelle ein Komma eingesetzt. Da hier die Quelle jedoch textkritisch von Erich Trunz behandelt wurde, soll auch davon ausgegangen werden, dass der Vers 29 ohne ein Komma auskommen kann.
Die Wirkung dieses Enjambements hält sich, im Verlgeich zu den vorherigen, in Grenzen: Während die Kreuzstellung der beiden Verse abgeschwächt wird, da man den Zeilenübergang schneller und flüssiger liest, unterstreicht es dafür deutlich den Parallelismus "und sahst" (siehe 4, S.13).
3.3. Metrum, Kadenzen und Reime
u-u-u-u-u u = Senkung
u-u-u-u- - = Hebung
u-u-u-u-u
u-u-u-u-
u-u-u-u-u
u-u-u-u-
u-u-u-u-u
u-u-u-u-
Jede Strophe des Gedichtes
ist metrisch so aufgebaut.
Das alternierende Metrum des Gedichtes ist stets auftaktig, also ein Jambus. Der strenge und gleichmässige Rythmus unterstützt insbesondere in den ersten beiden Strophen (I) den Leseeindruck vom regelmässigen Hufgeräusch des Pferdes.
Vier Hebungen finden sich in jedem Vers. Die Kadenzen sind abwechselnd männlich und weiblich; jeder zweite Vers, also mit einer geraden Nummer, ist männlich.
Diese Struktur setzt sich auch über die Strophenenden hinweg, so dass die letzte Silbe einer Strophe stets klingend ist und auf die stumpfe erste Silbe der nächsten Strophe trifft. Die strenge Form des Gedichts wird dadurch etwas aufgelockert, da die Abschnitte auf diese Weise zusammenhängender wirken.
Durch das gleichbleibend jambische Metrum ergibt sich, dass alle Verse mit weiblichen Kadenzen, also die mit ungeraden Zeilennummern, in den nachfolgenden Versen auf eine Senkung stossen. Gefugte11 und ungefugte Verse wechseln sich somit regelmässig ab.
Das Gedicht ist durchgängig im Kreuzreimschema verfasst (ababcdcd). Mehrere unreine Reime12 lockern diese strenge Form allerdings ein wenig auf.
Zwar enthält nicht jede Strophe einen solchen Reim, doch dafür befindet sich wenigstens einer in jedem Sinnabschnitt (siehe 3.1., S.4):
(I) Die ersten beiden Strophen enthalten zwar einen unreinen Reim, jedoch bleibt dieser weitestgehend bedeutungsslos.
Eiche / Gesträuche (V.5 / V.7)
(II) In der dritten Strophe, als zweiten Sinnabschnitt und emotionalen Höhepunkt des Gedichts, finden sich gleich zwei unreine Reime (siehe 3.2, S.6.). Zusammen mit den Enjambements wird der Leser so zu einem ungenauen Leseverhalten verleitet, dass die Leidenschaft der Figuren unterstreicht.
Freude / Seite (V.17 / V.19)
Frühlingswetter / Götter (V.21 / V.23)
(III) In der vierten Strophe liegt der unreine Reim im letzten Vers des Gedichts. Einen formal derart durchstrukturierten Text so enden zu lassen, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck beim Leser. So fällt dem Wort 'Glück' einerseits eine stärkere Betonung zu, als wenn man es mit einem assonierenden Reim gepaart hätte. Andererseits ist es auf diese Weise kein harmonischer Abschluss eines Liebesgedichtes, und endet so mit einer doppelten Wirkung.
Dieser unreine Reim, ein Glück mit bitterem Nachgeschack, unterstreicht das Thema des Gedichtes: das unweigerliche Zusammengehören von Glück und Schmerz, von Liebe und Trauer, und natürlich von Willkommen und Abschied. Dennoch ist der jubelnde Ausruf über das Glück der Liebe eindeutig der wichtigere Aspekt des Schlussreimes, und so endet der Text trotz allem mit einer positiven Stimmung.
Blick / Glück (V.30 / V.32)
4. Rhetorische Figuren und Tropen
Goethe arbeitet in seinem Gedicht mit einer Fülle an rhetorischen Figuren und Tropen13, besonders in den ersten beiden Strophen (I). Dadurch, aber auch durch die ausgiebige Nutzung von Tätigkeitswörtern wird hier der Eindruck von Bewegung und Aktion erzeugt.
Bereits die ersten beiden Verse ("Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! / Es war getan fast eh gedacht.") enthalten nicht nur einen Parallelismus (Es schlug - Es war), sondern auch eine Alliteration (geschwind - getan - gedacht). Zusammen stimmen diese beiden rhetorischen Figuren den Leser schon zu Beginn auf ein hohes Tempo ein. Auch den Grund für diese Eile gibt Goethe unmittelbar an, nämlich das schlagende Herz, ein Symbol für Liebe und Leidenschaft.
In Vers 3 und 4 ("Der Abend wiegte schon die Erde, / Und an den Bergen hing die Nacht") wird der Abend personifiziert, indem er die Erde in den Schlaf wiegt, als wäre sie ein Kleinkind in der Wiege. Das Gleiche gilt für die Nacht, die an den Bergen hängt. Allerdings ist diese Personifikation nicht so stark wie die des Abends. So wie sich Nacht und Abend sinnverwand in den beiden Versen gegenüberstehen, werden auch die Erde und die Berge durch eine Assonanz in einen Zusammenhang gebracht. Diese vier Begriffe (Nacht - Abend - Erde - Berge) ergeben somit einen Chiasmus, was widerum den Zusammenhang der einzelnen Komponenten der Natur verdeutlicht. Sie tritt als ein Ganzes auf, ähnlich einem Organismus.
Auf eine weitere Personifikation im fünften Vers ("Schon stand im Nebelkleid die Eiche,") folgt ein Vergleich in Vers 6 ("Ein aufgetürmter Riese, da,"). Zwar wird keines der Signalwörter 'wie' oder 'als' verwendet, was eher auf eine Hyperbel hindeuten würde, doch wird hier die Wirkung eines Vergleichs auch durch den Einschub mit den zwei Kommata erzielt. Der Riese ist in diesem Fall nicht im Sinne eines besonders grossen Menschen, sondern als eine mächtige und Furcht erregende Märchenfigur zu verstehen.
Auch im siebten und achten Vers ("Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen sah.") findet sich eine Personifikation, diesmal die der Finsternis. Ihre schwarzen Augen werden in einer wirkungsvollen Hyperbel auf einhundert Stück gezählt. Ohne dass man benennen könnte, wieviele Augen eine Finsternis, sei sie denn eine Person, besässe, so fasst man die Einhundert als Leser doch als eine Übertreibung auf.
An dieser Stelle sei kurz erläutert, weshalb Goethe die Natur so aufdringlich personifiziert: nur so ist der Autor in der Lage, sie dem Reiter als eine Art Antagonisten gegenüberzustellen. Der schnellen und kraftvollen Bewegung des Pferdes tritt also die gesamte Natur entgegen, die in dieser Gestalt über ein gewaltiges Arsenal an Aktionen verfügt, um den Reiter von seiner Geliebten fernzuhalten. Auf diese Weise glorifiziert sich das Ich als einen Helden.
Die zweite Strophe ("Der Mond von einem Wolkenhügel / Sah kläglich aus dem Duft hervor," V.9 / V.10) beginnt mit einer schwächeren Personifikation des Mondes, der auf einem Wolkenhügel sitzt und kläglich aus einem Duft herausschaut. Das Sehen und Sitzen markiert die Personifikation, während das Attribut 'kläglich' dem Mond eine unangenehme und bedrückende Wirkung verleiht. Durch das Oxymoron 'aus dem Duft sehen' wird ein synästhetischer Effekt erzeugt, da man in diesem Fall den Duft als Nebel oder Wolken auffassen müsste, die geruchlos sind, und somit auch nicht über den Geruchssinn festgestellt werden können. Die Sinneswahrnehmungen des Ichs nehmen an dieser Stelle also nicht nur zu, sondern werden auch ungenau.
In den beiden folgenden Versen ("Die Winde schwangen leise Flügel, / Umsausten schauerlich mein Ohr;" V.11 / V.12) wird mit dem Wind ein weiteres Naturelement personifiziert. Das Attribut 'schauerlich' verleiht ihm seine bedrohliche Wirkung, während das leise Schwingen der Flügel vorallem die Geschwindigkeit des Reiters unterstreicht.
Mit Vers 13 ("Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,") wird die Nacht aus Vers 4 ein weiteres Mal personifiziert. Die Hyperbel des Erschaffens von tausend Ungeheuern fungiert hier als zusammenfassender Abschluss und Höhepunkt der Naturbeschreibungen. Das Ich beendet an dieser Stelle die Aufzählung der Gefahren, die ihn von dem Treffen seiner Geliebten abhalten wollen, und in Vers 14("Doch frisch und fröhlich war mein Mut:") macht es seine Entschlossenheit deutlich. Dies geschieht durch eine Alliteration (frisch - fröhlich) und eine Inversion, die das Wort 'Mut' an den Schluss stellt. Dort wird es allein schon deshalb verstärkt, weil sich die Versenden in diesem Gedicht bis dahin alle gereimt haben, und Reimwörter mehr Gewichtung besitzen als reguläre Wörter in der Versmitte.
Auch in den beiden folgenden Ausrufesätzen ("In meinen Adern welches Feuer! / In meinem Herzen welche Glut!" V.15 / V.16) wird die Entschlossenheit des Ichs verdeutlicht, in erster Linie durch die Anapher (In - In) und den Parallelismus (meinen - welches). Die beiden stark verbildlichten Symbole (Feuer in den Adern, Glut im Herzen) sind nicht nur ein Ausdruck seiner Liebe, sondern auch seines körperlichen Verlangens nach dem Du.
Nach dem exzessiven Einsatz der personifizierten Natur in den ersten beiden Strophen (I) wendet sich Goethe nun im dritten Textabschnitt (II) ganz dem Treffen der beiden Verliebten zu.
Der Beginn des Verses 17 ("Dich sah ich, und die milde Freude") ist besonders hervozuheben; die Inversion stellt das bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht benannte Du ganz an den Anfang des Verses und verleiht ihm so eine besondere Bedeutung (siehe 2., S.3). Das Attribut der milden Freude ist hier nicht als eine leichte oder schwache Freude misszuverstehen. Nach den temporeichen, leidenschaftlichen ersten beiden Strophen wirkt ein hellklingendes Wort wie "mild" geradezu irritierend friedlich- eine Stimmung, die der des Ichs im Moment des Willkommens entspricht. Der nächste Vers ("Floß von dem süßen Blick auf mich;") erzielt seine Wirkung vorallem durch das vorrangegange Enjambement (siehe 3.2., S.5), denn nur so bleibt die Alliteration des Oxymorons (Freude - Floß) erhalten. Im Gegensatz dazu besteht jedoch keine dringende Veranlassung, den süssen Blick einer genaueren Prüfung zu unterziehen- es handelt sich dabei um gängigen Sprachgebrauch.
Eine weitere Inversion im 19. Vers ("Ganz war mein Herz an deiner Seite") legt den Schwerpunkt auf das Wort 'Ganz'. Erklärbar wird dieses jedoch erst durch die Betrachtung des darauf folgenden Herzens. Diese Synekdoche bedeutet, dass nicht das symbolische Herz, sondern das Ich physisch an der Seite des Du war, wobei die Seite natürlich ebenfalls eine Synekdoche darstellt. So wird auch die Funktion des allumfassenden 'Ganz' deutlich: Das Ich war dem Du nicht nur emotional, sondern hier vorallem körperlich so nahe wie nur irgend möglich. Dieser Vers ist also als eine Art positiver Euphemismus auf den Koitus zu verstehen, was auch durch die Zeilensprünge in der dritten Strophe durchgehend unterstützt wird (siehe 3.2., S.6). Der 20. Vers ("Und jeder Atemzug für Dich") enthält neben dem Enjambement nur einen inhaltlichen Aspekt. Nicht wirklich als eine Synekdoche, eher als eine symbolische Assoziation zu sehen ist der Atemzug vorallem ein Sinnbild für das Leben. Jemandem jeden seiner Atemzüge zu widmen bedeutet, diesem Menschen sein Leben zu verschreiben. Somit ist diese Formulierung als eine übersteigerte Liebesbezeugung des Ichs aufzufassen. Betrachtet man die beiden Verse 19 und 20 nun zusammen, so wird dem Leser die ganze Tragweite der Beziehung deutlich, die die beiden nach Ansicht des Ichs körperlich und emotional verbindet.
Von den folgenden beiden Versen 21 und 22 ("Ein rosenfarbnes Frühlingswetter" / "Umgab das liebliche Gesicht") ist insbesondere der erste raffiniert konstruiert, da Goethe an dieser Stelle mehrere rhetorische Mittel fantasievoll miteinander verknüpft: Rosen sind nicht nur farbig, sondern auch duftend; es werden also verschiedene Sinneswahrnehmungen vermischt. Das Wetter hingegen kann weder duftend noch farbig sein, und ebensowenig kann es ein Gesicht umgeben. Es steht metaphorisch für ein Lächeln oder, noch unbestimmter, für eine Art Aura oder Ausstrahlung. Das Attribut 'rosenfarbnes' ist also eine Synästhesie, die an eine Metapher anknüpft. Diese rethorische Symbiose entfaltet jedoch erst in Verbindung mit dem 'lieblichen Gesicht' aus Vers 22 seine volle Wirkung. Es sei ausserdem noch erwähnt, dass in Vers 21 ein Elision (rosenfarbnes) verwendet wird, um das alternierende Versmass zu erhalten.
Der Abschluss der dritten Strophe ("Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter! / Ich hofft' es, ich verdient' es nicht!" V.23 / V.24) ist nicht nur der Höhepunkt des zweiten Abschnitts (II) und somit der Beschreibung des Willkommens, sondern markiert auch, allegorisch betrachtet, den sexuellen und emotionalen Höhepunkt des Ichs. Besonders deutlich wird das im ersten der zwei Verse durch die Verwendung eines Anakoluths ( - ihr Götter!). Der Leser gewinnt hier den Eindruck, dass allein die Erinnerung an diesen Moment den Erzähler dermassen überwältigt, dass er seinen begonnenen Satz unterbrechen und einen Ausruf einschieben muss. Die Anrufung der Götter ist hier nicht als ein symbolischer Akt aufzufassen, da es in der zeitgenössischen Dichtung verbreitet war, Liebe mit den Göttern in Verbindung zu bringen. Darauf folgt noch ein weiterer Vers, der allerdings nur einen sehr schwachen Parallelismus (Ich hofft' es, ich verdient' es) enthält, und insofern eher der Abrundung der vorrangegangenen Verse dient. Auch die durch Apostrophen markierten Elisien (hofft' - verdient') verlieren ihre Bedeutung, da durch die Satzzeichen auf das Weglassen des e-Vokals deutlich hingewiesen wird.14
Nach der vielschichtigen dritten Strophe ("Doch ach, schon mit der Morgensonne" / " Verengt der Abschied mir das Herz" V.25 / V.26) ist der Beginn der vierten und letzten bewusst einfach aufgebaut: Sie enthält neben der Metapher des verengenden Herzens nur ein Enjambement, das die Bewegung des Sonnenaufgangs mit der Verengung in Verbindung bringt (siehe 3.2., S.6). Auffällig ist die Verwendung des Wortes 'Abschied' und die Endung mit einem Doppelpunkt in Vers 26. Goethe lässt hier keine Zweifel über die sinngemässe Gliederung seines Gedichtes aufkommen.
Noch einmal leidenschaftlich wird es in den Versen 27 und 28 ("In deinen Küssen welche Wonne!" / "In deinem Auge welcher Schmerz!"), wo verschiedene rethorische Figuren miteinander verflochten werden. Durch die Anaphern (In - In) und Parallelismen (In deinem [...] welcher) erinnern die beiden Ausrufesätze stark an die Verse 15 und 16 der zweiten Strophe. Zusammen mit der Alliteration (welche Wonne) werden so Wonne und Schmerz in eine Verbindung gebracht. Die zusammengesetzten Metaphern 'Wonne im Kuss' und 'Schmerz im Auge' unterstreichen diese Wirkung: der Kuss als Sinnbild für die Lust und die Liebe, das Auge als Vorrausdeutung auf die Trennung.
In Vers 29 und 30 ("Ich ging, du standst und sahst zur Erden" / "Und sahst mir nach mit nassem Blick:") findet diese dann auch endlich statt; hart verdeutlicht durch die Gegenüberstellung (Ich ging, du standst) sowie den Parallelismus (und sahst), der durch das Enjambement (siehe 3.2., S.13) verstärkt wird. Der schwache Euphemismus (nasser Blick) bleibt fast ohne Wirkung. Dass Goethe in 'nassen' ein ss anstatt eines ß verwendet, ist der strengen Alternation des Metrums geschuldet.
Der Schluss ("Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!" / "Und lieben, Götter, welch ein Glück!" V.31 / V.32)) stellt das jubelnde Fazit des Ichs dar, eine Lobpreisung an das Lieben und geliebt Werden, getragen durch die einem Chiasmus ähnelnden Ausrufesätze. Einzig der unreine Reim im letzten Wort deutet den vielzitierten Schmerz des Ichs (siehe 3.3., S.9) an.
Um das Gedicht in seiner Gesamtheit auf Allegorien zu untersuchen, sei zu diesem Zweck eine Definition von Dieter Burdorf zu Rate gezogen:
"Allegorien können entweder 'narrativ' oder 'deskriptiv' konzipiert sein [...]. In narrativen Allegorien werden auf der wörtlichen Ebene Geschehnisse und Handlungen erzählt, in deskriptiven Allegorien werden vorrangig Situationen und Räume entworfen. Ferner kann man [...] zwischen 'implikativen' und 'explikativen' Allegorien unterscheiden: In der 'implikativen' [...] Form der Allegorie wird auf die allegorische Bedeutung allein durch textinterne Indizien hingewiesen, die nicht eindeutig verifizierbar sind, so daß der Text einen größeren Rätselcharakter behält. [...] In der 'explikativen' Allegorie dagegen wird die allegorische Bedeutung im Text selbst oder etwa im Titel des Gedichts angegeben."
( Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1997, S.144-146.)
Unter Einbezug der Erkenntnisse aus den rethorischen Figuren und Tropen, insbesondere die der dritten und vierten Strophe, liesse sich das gesamte Gedicht folglich als eine narrativ-explikative Allegorie auf die Kehrseite der Liebe auslegen. Als 'narrativ' ist sie deshalb zu bezeichnen, weil der Text sehr offensichtlich eine Geschichte erzählt, die Geschehnisse sogar ganz formal gliedert sind. Eindeutig 'explikativ' wird die Allegorie durch den Titel des Gedichtes und die leichte Deutbarkeit der meisten rhetorischen Figuren und Stilmittel.
5. Schlussbemerkung
Goethes Gedicht verblüfft den Leser nicht einfach nur durch die kunstvolle Verwendung zahlreicher rhetorischer Mittel, sondern vielmehr aufgrund der dadurch entstehenden Verständlichkeit des Textes. Anstatt Verwirrung zu stiften, sorgen die meisten der Metaphern, Symbole und Enjambements für Klarheit, erheben ihn zu einem Gedicht, das keiner komplizierten Analyse, sondern vielmehr eines sensiblen Lesers bedarf. Mehr als nur aus kunstvollen Abstraktion bestehend ist 'Willkommen und Abschied' ein inhaltlich überraschend einfacher Text mit einer deutlichen Aussage. Besonders die beiden letzten Zeilen mit ihrem Jubel auf die Liebe15 sind ausserordentlich direkt und erfreulich unmissverständlich. Dass Goethe es sich trotzdem nicht hat nehmen lassen, durch kleine eingebaute Feinheiten dem Thema mehr Tiefe und Anspruch zu verleihen, beweist unter anderem der unreine Reim in der letzten Zeile (siehe 3.3., S.9).
Auch unter diesem Gesichtspunkt wäre es nun interessant, die ältere mit der neuen Fassung zu vergleichen, da insbesondere der Schluss nachträglich von Goethe stark verändert wurde. Für eine eingehende Interpretation ist jedoch eine analoge Untersuchung sowohl der historischen Umstände und Gegebenheiten der Entstehung, als auch der Überarbeitung absolut unverzichtbar.
Johann Wolfgang von Goethe
Willkommen und Abschied
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
5 Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
10 Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
15 In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
20 Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft' es, ich verdient' es nicht!
25 Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
30 Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
6. Literaturverzeichnis
Primärliteratur / Referenztext:
Trunz, Erich (hg): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. 13. Aufl. München 1982. Bd.2, S. 18f.
Sekundärliteratur:
Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1997.
Eibls, Karl (hg): Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd.1. 1987, S. 283.
Bangen, Georg: Die schriftliche Form germanistischer Arbeiten. Bd 13. 9.Aufl. Stuttgart 1990.
Bünting, Karl-Dieter: Schreiben im Studium. Ein Trainingsprogramm. Berlin 1990.
zusätzliche Informationen im Internet:
http://home.t-online.de/home/jowo.reiling/willkomm.htm
http://berg.heim.at/tibet/450508/Willkommen.htm
http://www.deutsch-digital.de/daten/literatur/435/
http://www.lsg.musin.de/deutsch/Beispiele/willkommen_und_abschied.htm
http://www.uni-tuebingen.de/mediaevistik/allgemein/metrik_kurz.htm
http://www.katz-heidelberg.de/Hilfen/Gedichtinterpretation/body_gedichtinterpretation.html
http://www.jps.at/palindromes/satzfiguren.html
http://www.lateinservice.de/grammatik/inhalte/stil.htm
http://www.3b-infotainment.de/unterricht/analyse2.htm
[...]
1: Trunz, Erich (hg): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. 13. Aufl. München 1982. Bd.2, S. 18f., S.460f.
2: Wird im Nachfolgenden nur noch "das Ich" genannt.
3: Wird im Nachfolgenden nur noch "das Du" genannt. vgl zu 2 & 3: Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1997, S.194.
4: vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. S.107.
5: vgl. Trunz , Erich (hg): Goethes Werke. S. 18f.
6: vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse.S.130-134.
7: Die drei Sinnabschnitte werden nachfolgend mit (I), (II) und (III) markiert.
8: vgl. http://www.deutsch-digital.de/daten/literatur/435/
8: vgl. http://www.deutsch-digital.de/daten/literatur/435/
9: vgl. Trunz, Erich (hg): Goethes Werke. S. 18f.
10: Dies gilt insbesondere für Texte aus dem Internet.
11: vgl. http://www.uni-tuebingen.de/mediaevistik/allgemein/metrik_kurz.htm
12: vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. S.31.
13: vlg hierzu:
http://www.deutsch-digital.de/daten/literatur/435/
http://www.katz-heidelberg.de/Hilfen/Gedichtinterpretation/body_gedichtinterpretation.html
http://www.jps.at/palindromes/satzfiguren.html
http://www.3b-infotainment.de/unterricht/analyse2.htm
14: Auch diese beiden Satzzeichen sind in einigen anderen Fassungen nicht enthalten. Aufgrund hier benannter Gründe ist jedoch davon auszugehen, dass der Autor an dieser Stelle Apostrophen verwendet hat. vgl. dazu: Trunz, Erich (hg): Goethes Werke. S. 18f.
15: vgl: Trunz, Erich (hg): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. 13. Aufl. München 1982. Bd.2, S. 18f.,S.460f
- Citar trabajo
- Felix Schütz (Autor), 2004, Goethe: Willkommen und Abschied (spätere Fassung) - Textanalytische Übung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108828
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