Sterben, Tod und Trauer sind in unserer Gesellschaft noch immer sensible Themen und werden meist privatisiert und tabuisiert, auch wenn jeder mehr oder weniger damit konfrontiert wird. Trauer wird versteckt, damit andere nicht irritiert und in ihrem Wohlbefinden gestört werden. An den Tod als unsere letzte, unüberwindliche Grenze wollen wir nicht gerne erinnert werden.
In unserem persönlichen Leben wie auch in der sozialpädagogischen Arbeit begegnen wir der Trauer immer wieder. Trauer erleben wir da, wo wir uns trennen müssen, beim Tod eines geliebten Menschen, bei Trennungen und Scheidungen. Der Tod eines geliebten Menschen stellt eine besondere Anforderung an den Hinterbliebenen dar, da er im Gegensatz zu Trennungen und Scheidungen auf jeden Fall von Endgültigkeit geprägt ist und keine Klärung von noch bestehenden Problemen o.ä. mehr möglich er-scheint. Für den Hinterbliebenen kann die ganze Lebensplanung oder –erwartung auf den Kopf gestellt werden. Nicht jeder findet in seinem Schmerz und seiner zeitweisen Orientierungslosigkeit Hilfe bei Verwandten oder Freunden. Es stellt sich die Frage, ob wir die Trauer wirklich leben. Ob die Trauer Raum und Platz in unserem Leben einnehmen darf. Oder ob wir sie verdrängen und sich dann daraus Schwierigkeiten in der Lebensgestaltung einstellen, evtl. sogar in Form von Krankheiten oder Depressionen.
In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob psychodramatische Ansätze eine für die Sozialpädagogik sinnvolle methodische Interventionsmöglichkeit in der Arbeit mit Menschen im Trauerprozess sind.
Inhalt
3. Einleitung
4. Trauer und Trauerarbeit
4.1. Zentrale Begriffsdefinitionen
4.1.1. Trauer
4.1.2. Krise
4.1.3. Trauerarbeit
4.2. Bindungstheoretische Gesichtspunkte
4.3. Todeserfahrung beim Tod eines geliebten Menschen
4.3.1. Verändertes Blickfeld zur Trauer und dem Umgang mit Trauer
4.4. Der Trauerprozess
4.4.1. Trauerphasen
4.4.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens
4.4.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen
4.4.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens
4.4.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs
4.4.1.5. Manifestationen der Trauer
4.4.1.6. Die Rolle des Helfers in den unterschiedlichen Phasen
4.4.2. Schwieriger Verlauf innerhalb der Trauerphasen
4.5. Den Trauerprozess beeinflussende Faktoren
4.5.1. Körperliche Einflüsse
4.5.2. Soziokulturelle Bedingungen
4.5.3. Psychologische Voraussetzungen
4.6. Probleme nicht gelungener Trauerprozesse
4.7. Der Abschluss des Trauerprozesses
4.8. Abschließende Stellungnahme
5. Psychodrama
5.1. Geschichte und Entwicklung des Psychodramas
5.2. Einordnung und Definition
5.3. Anwendungsgebiete des Psychodramas
5.3.1. Die nicht-therapeutische Anwendung des Psychodramas
5.3.2. Psychodrama in der Erwachsenenbildung
5.3.3. Psychodramatischer Methoden im Vergleich zu anderen Methoden
5.3.4. Workshop zum Thema Tod während eines Psychodrama-Kongresses
5.4. Die Praxis des Psychodramas
5.4.1. Die Konstituenten des Psychodramas
5.4.1.1. Die Bühne
5.4.1.2. Der Psychodramaleiter
5.4.1.3. Der Protagonist
5.4.1.4. Die Mitspieler oder Hilfs-Ichs
5.4.1.5. Die Gruppe
5.5. Formen und Modifikationen des Psychodramas
5.6. Techniken und Methoden des Psychodramas
5.6.1. Strukturen des Psychodramas
5.6.2. Ablauf einer Psychodramasitzung
5.6.2.1. Erwärmungsphase
5.6.2.2. Spielphase
5.6.2.2.1. Die Methode des Rollentauschs
5.6.2.2.2. Die Methode des Doppelns
5.6.2.2.3. Die Methode des Selbstgesprächs
5.6.2.3. Integrationsphase
5.6.2.3.1. Sharing
5.6.2.3.2. Rollen-Feedback
5.6.2.3.3. Identifikations-Feedback
5.6.3. Psychodrama als Methode der Entwicklung von Handlungsfähigkeit
5.6.3.1. Psychodrama als konsequente Gruppenmethode
5.6.3.2. Psychodrama als Handlungsmethode
5.6.3.3. Psychodrama als erlebnisorientierte Methode
5.6.3.4. Psychodrama als biographische Methode
5.6.4. Der Abschluss von Psychodramasitzungen
5.7. Abschließende Stellungnahme
6. Das Handlungsfeld der Sozialpädagogik
6.1. Versuch einer Definition
6.2. Was ist und was leistet Sozialpädagogik?
6.3. Sozialpädagogik und therapeutische Ansätze
6.4. Sozialpädagogik und psychodramatischer Ansatz
6.4.1. Exkurs: Der Begriff der Methode und Technik
6.4.2. Abgrenzung zum therapeutischen Handlungsbereich
6.4.3. Zielsetzung im Kontext der Arbeit
6.5. Beratung und Intervention als Handlungsmethode der Sozialen Arbeit
6.5.1. Beratung
6.5.1.1. Begriffsklärung
6.5.1.2. Psychodramatische Beratung im pädagogischen Kontext
6.5.2. Intervention
6.5.2.1. Begriffsklärung
6.5.2.2. Interventionsmethodik
6.5.2.2.1. Abklärung des Problems
6.5.2.2.2. Bewertung des Problemsachverhalts
6.5.2.2.3. Maßnahmen und Hilfeleistungen
6.5.2.2.4. Initiieren der Intervention
6.6. Abschließende Stellungnahme
7. Psychodramatisch methodisierte sozialpädagogische Interventionen mit trauernden Menschen
7.1. Grundlegende Überlegungen
7.1.1. Entstehung des Seminars für Menschen im Trauerprozess
7.1.2. Prozessverlauf der Sitzungen und konzeptionelle Überlegungen
7.2. Ablauf des Seminars für Menschen im Trauerprozess
7.2.1. 1. Sitzung – Informationseinheit über Psychodrama und Trauerprozesse
7.2.2. 2. – 4. Sitzung – Ausführliche Erwärmungsrunden zum Kennenlernen
7.2.3. 5. – 14. Sitzung – Spielszenen zu den verschiedenen Phasen nach Kast
7.2.3.1. Erwärmungsphasen
7.2.3.2. Psychodrama-Spielphasen zur 1. Phase nach Kast
7.2.3.3. Psychodrama-Spielphasen zur 2. Phase nach Kast
7.2.3.4. Psychodrama-Spielphasen zur 3. Phase nach Kast
7.2.3.5. Psychodrama-Spielphasen zur 4. Phase nach Kast
7.2.3.6. Integrationsphasen
7.2.4. 15. Sitzung Abschlussrunde des Seminars
7.3. Interview mit einer Sozialpädagogin in der Trauerarbeit
8. Abschließende Beurteilung
9. Literaturverzeichnis
10. Hinweis in eigener Sache
11. Grafiken – Schaubilder – Anmerkungen
11.1. Krisenverarbeitungsmodell nach Schuchardt
11.2. Anmerkung aus der Weiterbildungsordnung für Psychodrama
11.3. Soziales Atom
11.4. Ablaufschema Trauergruppen Sozialpädagogin Ortwein
12. Interview mit einer Sozialpädagogin in der Trauerarbeit
3. Einleitung
Zu ersten Überlegungen über Trauerarbeit und Krisenbegleitung hinsichtlich des Themas wurde ich angestoßen durch das Buch „Der schöpferische Sprung“ von Verena Kast. Beeindruckt haben mich ihre Gedanken, dass jede Krise auch Chancen in sich bergen kann, die es zu erkennen, zu entfalten und zu nutzen gilt.
Sterben, Tod und Trauer sind in unserer Gesellschaft noch immer sensible Themen und werden meist privatisiert und tabuisiert, auch wenn jeder mehr oder weniger damit konfrontiert wird. Trauer wird versteckt, damit andere nicht irritiert und in ihrem Wohlbefinden gestört werden. An den Tod als unsere letzte, unüberwindliche Grenze wollen wir nicht gerne erinnert werden.
In unserem persönlichen Leben wie auch in der sozialpädagogischen Arbeit begegnen wir der Trauer immer wieder. Trauer erleben wir da, wo wir uns trennen müssen, beim Tod eines geliebten Menschen, bei Trennungen und Scheidungen. Der Tod eines geliebten Menschen stellt eine besondere Anforderung an den Hinterbliebenen dar, da er im Gegensatz zu Trennungen und Scheidungen auf jeden Fall von Endgültigkeit geprägt ist und keine Klärung von noch bestehenden Problemen o.ä. mehr möglich erscheint. Für den Hinterbliebenen kann die ganze Lebensplanung oder –erwartung auf den Kopf gestellt werden. Nicht jeder findet in seinem Schmerz und seiner zeitweisen Orientierungslosigkeit Hilfe bei Verwandten oder Freunden. Es stellt sich die Frage, ob wir die Trauer wirklich leben. Ob die Trauer Raum und Platz in unserem Leben einnehmen darf. Oder ob wir sie verdrängen und sich dann daraus Schwierigkeiten in der Lebensgestaltung einstellen, evtl. sogar in Form von Krankheiten oder Depressionen. Die mittlerweile recht zahlreiche Literatur zu diesem Thema kann Betroffenen nur bedingt Hilfestellung sein, denn sicher sind gerade in der Trauerzeit Menschen wichtig, die dem Trauernden zur Seite stehen. Es ist wichtig für den Betroffenen, die Vereinsamung aufzubrechen und Gefühle „öffentlich“ machen zu dürfen. Trauernde brauchen die Anteilnahme ihrer Mitmenschen, Schutz und Geborgenheit in der Gemeinschaft. Angebote für die Begleitung von Menschen im Trauerprozess gibt es jedoch nur wenige, es finden sich eher Angebote im Kreativbereich und solche, die zwar auf Glaubens- und Lebensfragen Antwort geben, weniger jedoch speziell zum Thema Trauer.
Während einer persönlichen Beratung sowie während eines im Studium der Sozialpädagogik belegten Seminars zum Ansatz des Psychodramas kam ich zu der Überlegung, ob nicht die dort vorgestellten Ansätze und Methoden auch geeignet wären für eine sozialpädagogische Arbeit mit Menschen im Trauerprozess. Der Titel des Moreno-Instituts Stuttgart, welches ausgerichtet ist für Psychotherapie und Sozialpädagogik sowie die Information, dass Psychodrama auch eine Methode der Pädagogik ist, veranlassten mich, mir konkretere Gedanken über die Möglichkeit der Ausarbeitung einer Diplomarbeit zu diesem Thema anzustellen.
So möchte ich in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob psychodramatische Ansätze eine für die Sozialpädagogik sinnvolle methodische Interventionsmöglichkeit in der Arbeit mit Menschen im Trauerprozess sind. Da es sehr unterschiedliche Traueranlässe gibt, möchte ich mich hier beschränken auf Trauerprozesse, die aufgrund des Todes eines geliebten Menschen bzw. nahen Angehörigen entstehen. Ferner werde ich hier Erwachsene im Blickfeld haben, da bei Kindern und Jugendliche nochmals weitere Gesichtpunkte, wie z.B. entwicklungspsychologische, zu bedenken wären.
In einem ersten Teil geht es um eine Begriffsklärung, was unter Trauer und Trauerarbeit zu verstehen ist, welche Bereiche des Erlebens und Verhaltens von Menschen davon betroffen sind. In einem nächsten Schritt stelle ich die zentralen Inhalte des psychodramatischen Ansatzes näher dar, um in dem vorletzten Teil die Frage zu klären, was Sozialpädagogik ist und leistet. Im Schlussteil führe ich die Ausarbeitungen zusammen unter dem Aspekt der erkenntnisleitenden Fragestellung, exemplarisch angewendet auf die Ausarbeitung eines Seminars für Menschen im Trauerprozess.
Der Übersichtlichkeit und der besseren Lesbarkeit wegen werde ich in der allgemeinen männlichen Geschlechtsform schreiben, wobei selbstverständlich damit gleichzeitig auch die weibliche Form gemeint ist.
Mit dem im Anhang C abgedruckten Interview erhebe ich keinen empirischen Anspruch; es soll jedoch zur Untermauerung verschiedener Ausarbeitungen in dieser Arbeit dienen. Von einer Fallanalyse habe ich aus pragmatischen Gründen abgesehen, da mir gerade die Untersuchung eines Trauerseminars nur über längere Zeit sinnvoll erscheint und auch eine Anwesenheit vor Ort erfordert, was in diesem Bereich aufgrund der großen Entfernung und des zeitlichen Rahmens eines Seminars von mindestens sechs Monaten so nicht möglich gewesen wäre.
4. Trauer und Trauerarbeit
In diesem Kapitel wird zunächst das Thema der T rauer und Trauerarbeit dargestellt. Wie in der Einleitung dargelegt, wird in dieser Arbeit speziell die Trauer durch die Todeserfahrung eines geliebten Menschen bzw. nahen Angehörigen dargestellt und diese untersucht. Sicher werden auch untersuchte Ansätze und Beispiele auf andere Trauersituationen und Trauererfahrungen zu übertragen sein wie z.B. durch Trennungsverlust, worauf aber aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden kann. Aus dem selben Grund kann nur am Rande auf gesellschaftliche Aspekte im Zusammenhang mit Trauer oder auf Aspekte der Bedeutung von Ritualen eingegangen werden, wobei ich deren Wichtigkeit betonen möchte. Zunächst einige Begriffserklärungen:
4.1. Zentrale Begriffsdefinitionen
4.1.1. Trauer
Trauer ist „die von oft heftigen psychischen wie psychosomatischen Symptomen (Nervosität, Depressionen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen u.a.) begleitete Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person. Auf den Schock [...] und die Phasen der Kontrolle über sich selbst [...] und der Regression [...] folgt in der Regel die erneute Zuwendung zur Umwelt und die realitätsgerechte Bewältigung der Krise. [...]“[1]
4.1.2. Krise
„Als Krise wird ein (nicht durch Krankheit erklärbarer) meistens unter hohem emotionellem Druck einhergehender Verlust des seelischen Gleichgewichts bezeichnet, den der Betroffene mit seinen erlernten Bewältigungsmöglichkeiten selbst nicht beheben kann. Es wird zwischen situationsbedingten (z.B. [...] Tod eines Angehörigen) und reifungsbedingten Krisen (z.B. Pubertät [...]) unterschieden. Für das Entstehen einer Krise sind Art, Schweregrad, die objektive und subjektive Bedeutung des auslösenden Ereignisses sowie der Grad der Krisenanfälligkeit des Betroffenen ausschlaggebend. [...]“[2] Den Kern einer Krise formuliert Ulich in einer umgangssprachlichen Weise: „Eine Krise hat man nicht, wie etwa eine Krankheit, sondern ‚man steckt drin’, man ist ausgeliefert, passiv, fühlt sich wie gelähmt.“[3]
4.1.3. Trauerarbeit
„Mit Trauerarbeit werden alle gezielten sozialarbeiterischen/beraterischen und therapeutischen Handlungsschritte bezeichnet, die sich auf Kinder, Jugendliche oder Erwachsene beziehen, die durch den Verlust einer nahen Bezugsperson [...] in eine seelische Krise geraten sind. [...] Die Gefühlsdynamik ist bei Kindern und Erwachsenen nahezu gleich“ [...] und wird in der Empirie in verschiedenen Phasen differenziert, die später dargestellt werden.[4] Trauerarbeit wird auch als der „innerpsychische Vorgang der allmählichen Ablösung von der verlorenen Person“ bezeichnet.[5]
4.2. Bindungstheoretische Gesichtspunkte
Um sich der Auswirkungen des Todes eines geliebten Menschen bewusst zu werden, ist es notwendig näher zu betrachten, was Bindung bedeutet. Bindungen entstehen aus einem Schutz- und Sicherheitsbedürfnis und entwickeln sich früh im Leben, sind in der Regel auf nur einige spezifische Individuen gerichtet und bilden einen Großteil des Lebens. Bindungsverhalten hat bei Mensch und Tier Überlebenscharakter. Es unterscheidet sich allerdings vom Fress- und Sexualverhalten.[6]
Beim Bindungsverhalten wird die Bindungsfigur in der fortschreitenden Entwicklung in immer größeren Zeitspannen verlassen, um die Umwelt zu erkunden. Hilfe- und schutzsuchend wird jedoch stets Nähe zur Bindungsfigur gesucht. Ist die Bindungsfigur bedroht, folgen Reaktionen in Form von intensiver Angst und starkem Protest. Eltern bieten dem Kind eine sichere Ausgangsbasis für Erkundungen, was später die Fähigkeit des Kindes bestimmt und/oder beeinflusst, affektive Bindungen herzustellen. Dies entspricht der Theorie Eriksons vom Urvertrauen. Wenn Bindungen gefährdet werden, kommt es zu sehr spezifischen Reaktionen, die umso stärker sind, je größer der Verlust ist. Es kommt zu den stärksten Formen des Bindungsverhaltens: Anklammern, Weinen, zorniger Zwang. Bei Erfolg hören die Reaktionen auf, bleibt die Gefahr bestehen, folgen Sich-zurückziehen, Apathie und Verzweiflung.[7]
Bowlby unternahm zahlreiche Untersuchungen zum Verlustverhalten bei Tieren, die auch auf den Menschen übertragbar sind. Er meint, dass Verlust nicht irreparabel sei. Daraus haben sich im Laufe der Evolution ein Rüstzeug und Verhaltensreaktionen entwickelt, die einen Teil vom Verlustkummerprozess bilden. Sie zielen auf Wiederherstellung zu dem verlorenen Objekt ab. Trauerreaktionen von Tieren zeigen, welche biologischen Prozesse im Menschen ablaufen. Der Verlustkummer des Menschen weist aber bestimmte Merkmale auf, die nur bei ihm zu finden sind und im Abschnitt der Trauerprozesse beschrieben werden. In jeder Gesellschaft gibt es bei Verlusterlebnissen ein nahezu allgemeines Bemühen um Wiedererlangung des verlorenen geliebten Objekts, und/oder es wird an ein Leben nach dem Tode geglaubt, das ein Wiedersehen mit dem geliebten Menschen möglich macht.[8] So ist es im Hinblick auf die stark emotionalen Dimensionen bei Verlusterfahrungen interessant zu untersuchen, was ein Mensch erfährt und was in ihm vorgeht beim Tod eines geliebten Menschen. Dies werde ich im nachfolgenden darstellen.
4.3. Todeserfahrung beim Tod eines geliebten Menschen
Insbesondere beim Tod eines geliebten Menschen machen wir eine sehr eindrückliche Erfahrung, was Tod bedeutet. Dieses Todeserlebnis trifft uns und widerfährt uns, erschüttert unser Welt- und Selbstverständnis und zwingt uns zur Wandlung.[9]
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann nehmen wir in seinem Sterben nicht nur antizipatorisch unser eigenes Sterben vorweg; in gewisser Weise sterben wir auch mit ihm. Selten wird es uns so eindrücklich und radikal bewusst wie beim Tod eines geliebten Menschen, in welchem Maße wir uns aus unseren Beziehungen zu anderen her definieren und erfahren.[10] Durch den Tod eines geliebten Menschen können wir in unserem Weltverständnis erschüttert werden; durch den Tod wird deutlich, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft und diese gemeinsame Welt ein Stück weit zerbrochen wird.[11] Nach Kast wird ein Aspekt der später dargestellten Trauerarbeit sein, dass ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen werden soll! Nach einem solchen großen und schweren Verlusterlebnis ist jedoch diese Erkenntnis noch verborgen, es geht vielmehr zunächst um eine Ruhelosigkeit, in der zielgerichtet der eben verlorene Partner wiedergefunden werden möchte. Daher gehört zur Trauerarbeit auch, die Funktion der Ruhelosigkeit zu begreifen, besonders auch als Widerstand gegen die notwendige Veränderung im Leben.[12]
Im Trauererleben steht dem Lebensüberdruss die Todesangst gegenüber und ganz wesentlich auch Hass. Dieser Hass kann bezogen sein auf den Tod als solchen, aber auch auf eine göttliche Instanz oder auf den geliebten Menschen, der einen verlassen hat. Suizidale Ideen sind dabei häufig, viele Menschen suchen in ihrer Trauer und Verzweiflung Zuflucht in Drogen, um den unerträglich erscheinenden Schmerz nicht spüren zu müssen.[13]
Wie weiter oben erwähnt, stirbt auch ein Teil von uns beim Verlust eines geliebten Menschen, da geliebte Menschen zu einer „Hälfte unserer Seele“ werden können. So wird der Tod zu einer Grenzsituation des Lebens, die uns verändern kann, an der wir aber auch zerbrechen können. Damit es nicht zum Zerbrechen kommt, zu einem Verharren in der Trauer, hängt es ganz wesentlich davon ab, ob wir richtig zu trauern verstehen. Darunter kann man die Möglichkeit verstehen, neue Perspektiven in unser Welt- und Selbsterleben zu bringen, Todesbewusstsein auch als einen Aspekt unseres Selbstbewusstseins zu sehen. Trauern ist ein wichtiger Prozess und sollte auf keinen Fall als Schwäche gesehen werden. Keinem Menschen bleiben Verluste erspart, so unterschiedlich Verlusterfahrungen auch sind. Sehr schlagartig kann sich das Leben durch den Tod eines geliebten Menschen verändern. Dadurch können sehr viele Probleme entstehen, die dann auch noch mit einer psychischen Verfassung bewältigt werden müssen, die Problemlösungen erschweren. Es können sich neue Rollenidentitäten ergeben (Ehefrau wird zur Witwe), finanzielle Probleme können auftreten, mit der Erziehung von Kindern ist der Trauernde plötzlich auf sich allein gestellt, Einsamkeit kann sich einstellen u.v.m. Ebenso kann es sein, dass die Umwelt anders auf den Trauernden reagiert als zuvor. Denn Trauer und Tod werden in unserer Gesellschaft nach wie vor verdrängt, und so kann der wichtige Trauerprozess in seiner vollständigen Form auch nicht ungehindert vollzogen werden. Insbesondere da, wo die Gesellschaft um so schneller fordert, man solle doch nun endlich wieder einmal mit der Trauer aufhören.[14]
Nicht nur die Welt tritt dem Trauernden anders gegenüber, sondern auch der Trauernde selbst erlebt die Welt anders. Er ist auf sich selbst fixiert, mit seinem Problem, alles andere interessiert ihn nur wenig. Er benötigt in dieser Situation Menschen, die auf ihn zugehen, weil er dazu selbst meist nicht mehr in der Lage ist. Aber gerade an dieser Unterstützung mangelt es in unserer Gesellschaft, da uns die rituelle Trauer fehlt. Vielmehr erwartet sein Umfeld von ihm, dass er „normal“ weiterlebt. So entwickelt sich ein Zirkel von Isolierung, Angst, Weltentfremdung, in dem sich ein neues Weltverständnis nur schwer aufbauen lässt.[15]
Der Trauernde versteht allerdings nicht nur die Welt nicht mehr, sondern auch das ihm zuteil gewordene Schicksal. Alle ihm angebotenen Antworten klingen wie Hohn. Das Lebensgefühl des Trauernden ändert sich durch den Tod eines geliebten Menschen immens, das Selbsterleben wird stark beeinflusst, denn es ist verwurzelt in unseren Beziehungen. Diese Erschütterung unseres Selbsterlebens ist schwer zu ertragen.[16]
4.3.1. Verändertes Blickfeld zur Trauer und dem Umgang mit Trauer
Jedoch scheint gerade das Trauern, das Zulassen von Emotionen, das Sich-Überwältigen-Lassen von Gefühlen der Sinnlosigkeit, Angst und Wut wieder ein neues Selbsterleben möglich zu machen.[17] Hierzu müssen sich allerdings Menschen einander helfen. Der Trauernde fühlt sich von der Welt ausgestoßen, mit dem Toten ausgestoßen. Es ist wichtig, mittrauern zu lernen und Trauern als einen wesentlichen Bestandteil unseres Lebens zu betrachten. Es geht darum, Angst vor der Trauer zu überwinden, zu erkennen, dass wir immens zerbrechlich sind. Wir können aber Trauer und Grenzsituationen durchstehen und an ihnen reifen und erstarken. Es geht darum, ein Miteinander im Trauern zu finden. Dieses sollte auch mit Ritualen verbunden sein, so z.B. die Anwesenheit eines Menschen bei dem Trauernden direkt nach dem Verlustereignis, das Zuhören und Sprechen über die Gefühle und Unverständnisse, oder aber auch einfach nur das Schweigen.[18]
4.4. Der Trauerprozess
Trauer und Trauerarbeit ist ein Prozess, der in verschiedenen Phasen verläuft. Wie in der Definition von Trauerarbeit dargestellt, werden mit Trauerarbeit sozialarbeiterische/beraterische und therapeutische Handlungsschritte bezeichnet. Um deutlich zu machen, wann therapeutische Arbeit gefragt ist, könnte die differenzierte Analyse von Trauer und Trauerarbeit sowie das klare Aufzeigen von sozialpädagogischem Handeln näheren Aufschluss geben.
In der einschlägigen Literatur wird zwischen verschiedenen Phasen unterschieden, die ich im nachfolgenden näher darstelle:
4.4.1. Trauerphasen
In der empirischen Literatur wird der Trauerprozess in verschiedenen Stadien bzw. Phasen beschrieben.
Bacqué[19] unterscheidet als Phasen der Trauer die Phase der Bestürzung, der Leugnung und Revolte, der Depression, physischer und psychologischer Tod sowie die Phase der Anpassung.
Bowlby[20] unterscheidet in seinem Kapitel zum Verlust des Ehepartners vier Phasen: Die Phase der Betäubung, die Phase der Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Figur, die Phase der Desorganisation und Verzweiflung.
Schuchardt[21] differenziert stärker in ihrem Modell der Krisenverarbeitung als Lernprozess in acht Spiralenphasen[22], welche wiederum in verschiedene Stadien unterteilt werden: Im Eingangsstadium sind die Phasen der Ungewissheit und der Gewissheit, im Durchgangsstadium die Phasen der Aggression, der Verhandlung und der Depression, im Zielstadium die Phasen der Annahme, der Aktivität und der Solidarität.
Ein den Vorangegangenen ähnliches Modell zeigt Kübler-Ross[23] auf, die fünf Phasen unterscheidet: Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung.
In vier Phasen differenziert auch Spiegel[24], Schock, kontrollierte Phase, Regression und Adaption.
Die verschiedenen Modelle sind sich ähnlich und ihre Grundintentionen lassen sich m. E. gut am Vier-Phasen-Modell von Kast[25] darstellen, welches die häufigsten Aspekte beinhaltet und welches ich als Arbeitsgrundlage weiter verwenden und im nachfolgenden näher darstellen möchte:
4.4.1.1. Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens
Die erste Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens nach der Kenntnis vom Tod eines geliebten Menschen wird häufig durch Empfindungslosigkeit und Starrheit charakterisiert und in den unterschiedlichen Modellen sehr ähnlich beschrieben.[26] Bei plötzlichen Todesfällen kann diese erste Phase länger anhalten, nach Bowlby von einigen Stunden bis zu etwa einer Woche.[27] Auch der von Bowlby verwendete Begriff der Betäubungsphase beschreibt gut die Situation des Trauernden, er ist wie betäubt, gelähmt, erstarrt und fühlt sich selbst wie tot. Die Reaktionsnuancen der Trauernden unterscheiden sich von Individuum zu Individuum beträchtlich.[28] Die bei Kast beschriebene Empfindungslosigkeit resultiert aus einem Gefühlsschock, in dem der Trauernde unter dem einen starken Gefühl „erstarrt“ ist. Diese Empfindungslosigkeit geht einher mit dem Nicht-wahrhaben-Wollen des Verlustes, was nicht nur als Verdrängung der unangenehmen Nachricht angesehen werden muss, sondern auch als Überwältigungsstrategie zu einem zu starken Gefühl, mit dem nicht umgegangen werden kann. Kast hält alle weiteren Gefühlausbrüche im Trauerprozess als Ausgestaltung und Entfaltung dieses ersten großen Gefühls.[29]
4.4.1.2. Die zweite Phase der aufbrechenden Emotionen
Nach der Phase der Erstarrung und Empfindungslosigkeit folgt die Phase der aufbrechenden Emotionen, die sich in Wut, Trauer und auch Freude äußern.[30] Nach Bowlby[31] äußern sich auch Emotionen wie Zorn. Es können aber ebenso Angstgefühle und Ruhelosigkeit eintreten. Die Emotionsreaktionen hängen mit der Eigenheit der Trauernden zusammen und die Ausbrüche von Wut und Zorn wechseln ab mit Phasen der Niedergeschlagenheit.[32]
In der Emotionsäußerung als Zorn können wir zwei Formen beobachten. Die einen suchen in ihrem Zorn einen Schuldigen, wie z.B. Gott, für den Tod und ihren Kummer. Haben sie ihn gefunden, so scheint es dem Trauernden für eine gewisse Zeit eine Erleichterung zu verschaffen. Die anderen sind zornig auf den Verstorbenen und finden in ihm den Schuldigen, was eine direktere Art zu sein scheint als über Dritte. Die Frage ist hierbei, ob die Erstgenannten es nicht wagen, auf den Verstorbenen zornig zu sein. Sicherlich hängt es mit unserer empfundenen Ohnmacht zusammen, dass wir der Vergänglichkeit, dem Tod, wie auch vielen anderen Situationen, ausgeliefert sind. Die Reaktionen der Angst, Wut, Ohnmacht und des Zorns über diese Ohnmacht werden auf den übertragen, der dem Trauernden als erstes über den Weg läuft. Wir suchen einen Schuldigen, den es oftmals gar nicht gibt, weil wir mit dieser Ohnmacht angesichts des Todes nicht umgehen und sie uns so schlecht eingestehen können. Häufig spielen wir uns mit der Suche nach einem Schuldigen vor, dass wir doch nicht so hilflos sind. Vielleicht hilft uns nach Kast dieses Spiel auch gerade, unsere Kräfte wieder zu mobilisieren zum Weiterleben![33]
Allerdings werden Schuldgefühle in dieser Phase nicht nur auf andere projiziert, sondern auch auf sich selbst. Dauer, Art und sogar das „Gelingen“ der Trauer hängen wesentlich davon ab, welche Art von Konflikten zwischen den Angehörigen und Toten bestanden haben! Untersuchungen haben ergeben, dass Schuldgefühle wesentlich geringer waren, wenn die Kommunikation zwischen Hinterbliebenen und Sterbendem gut war und Abschied genommen werden konnte. Waren die Schuldgefühle nicht so stark, dehnte sich die Trauerperiode auch nicht unbegrenzt aus.[34] Dies im Blickfeld zu haben, halte ich für wesentlich in der Arbeit mit trauernden Menschen, besonders bei Todesfällen, die unvermittelt geschehen und der Verstorbene „vor seiner Zeit“ plötzlich und unvorhersehbar stirbt.
Im ersten Moment schwer vorstellbar, aber immer wieder erlebbar ist die Tatsache, dass Trauernde wie bereits erwähnt neben Zorn, Wut und Trauer auch ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit erleben, weil die Beziehung an sich überhaupt bestanden hat und dieses Stück Leben auch nicht durch den Tod weggenommen werden kann. Wichtig ist, dass diese Gefühle der Trauerarbeit ebenso dazugehören wie die negativen Gefühle.[35]
Abschließend ist in dieser Phase besonders wichtig, dass es gilt, das Emotions-Chaos durch- und auszuhalten, damit im Sinne eines fruchtbringenden Trauerns alte Verhaltsmuster aufbrechen und neue Verhaltensmuster entstehen können und sich neue Lebens- und Beziehungsmöglichkeiten eröffnen.[36]
4.4.1.3. Die dritte Phase des Suchens und Sich-Trennens
Kast sieht das zuvor erwähnte Ärgern und den Zorn in dem Sinne, dass in der Beziehung zwischen Hinterbliebenem und Verstorbenem noch etwas geklärt werden muss, während Bowlby es eher im Sinne eines Suchens sieht, weil da noch jemand da ist, über den man sich ärgern kann. Kast sieht das Suchen nicht nur als Verdrängung des Todes, sondern als Versuch, das, was der Tote bedeutet hat, mit ins neue Lebensgefüge einzubeziehen.[37]
Diese Suche kann sehr real aussehen, z.B. indem man im Supermarkt noch nach dem Verstorbenen Ausschau hält. Das Suchen kann soweit gehen, dass die Trauernden sogar den Lebensstil des Verstorbenen übernehmen, auch wenn er gar nicht zu ihnen passt. Das Suchen ist dann als ein Retten der alten Gewohnheiten im Sinne eines Widerstandes gegen die Veränderung anzusehen. Andererseits kann das Suchen auch den Sinn haben, sich weiter mit dem Verstorbenen auseinander zu setzen. Dieses Suchverhalten scheint eine Vorbereitung auf die Akzeptanz des Verlustes zu sein, aber auch um nicht alles verloren zu geben.[38]
Das unwillkürlich stattfindende Suchen kann sich auch im inneren Zwiegespräch ereignen, worin man den Verstorbenen nochmals findet und nochmals mit ihm sprechen kann. Später entwickelt sich dann im Zwiegespräch ein neues Gegenüber, das dem Verstorbenen kaum noch gleicht, was dann zur Trennung von dem Verstorbenen führt. Es ist allerdings auch möglich, dass man sich in diesem Gespräch an den Verstorbenen dauerhaft klammert und kein Prozess stattfinden kann, so dass auch keine Trennung vollzogen wird und die Gefahr besteht, dass ein Sich-Öffnen für neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung verhindert wird.[39]
Trauerarbeit scheint dort gelungen zu sein, wo dem Finden immer wieder auch das Sich-Trennen-Müssen, das Verlassen-Müssen folgt und die Trennung angenommen wird. Der Prozess des Suchen-Finden-Trennens ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen, um dennoch zu erkennen, dass mit dem bisherigen nicht mehr zu rechnen ist und ein neues Selbst- und Weltverständnis aufgebaut werden muss.[40]
Auch in dieser Phase, die Wochen bis Jahre andauern kann, finden sich wie in allen Trauerphasen immer wieder Phasen der Verzweiflung, der Depression und Apathie. Das Suchen nimmt jedoch ab, je mehr der Trauernde Äußerungsmöglichkeiten für seine Emotionen hat.[41]
4.4.1.4. Die vierte Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs
Wenn die Such- und Trennphase in ein Stadium gekommen ist, in dem nicht mehr das gesamte Sinnen des Trauernden beansprucht wird, dann kann die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs einsetzen. Der Verstorbene muss dann jedoch „innere Figur“ geworden sein, d.h. z.B. als innerer Begleiter. Der Trauernde spürt, dass vieles in der Beziehung Gelebte nun seine eigenen Möglichkeiten geworden sind. Jetzt kann sich der Trauernde in neue Rollen hineinfinden, die das Leben fordert; er kann wieder Selbstachtung und Selbstvertrauen gewinnen.[42]
Die innere Figur kann auch sehr krankmachende Folgen haben, wenn der Trauernde einfach in die Rolle des Verstorbenen schlüpft und seine Verhaltens- und Gedankenmuster übernimmt, ohne eigene Möglichkeiten und Wünsche zu sehen. Der Aufbau eines neuen Welt- und Selbstbezugs ist dann gehindert.
Der neue Welt- und Selbstbezug ist daran zu erkennen, dass der Verlust jetzt akzeptiert wird, dass Lebensmuster in Bezug auf den Verstorbenen „verlernt“ wurde und neue Lebensmuster an ihre Stelle treten.[43]
Es ist auch in dieser Phase möglich, dass der Trauernde wieder in schon durchlebte Phasen „zurückrutscht“ und sich Zweifel einstellen, besonders dann, wenn das Gefühl der Euphorie beim Erreichen eines neuen Selbst- und Weltbezuges etwas abflaut. Häufig ist es so, dass Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, für längere Zeit auf jede Art des Verlustes von Menschen sehr stark reagieren. So wurde nachgewiesen, dass Menschen, die ihre Mutter vor dem 11. Lebensjahr verloren haben, im späteren Leben auf Verlusterlebnisse heftiger reagieren als andere. Diese Erkenntnis ist auch auf spätere Zeiten übertragbar: Derjenige, der einen Menschen verloren hat, wird auf Verlust- und Trennungserlebnisse wesentlich stärker reagieren als derjenige, der niemanden verloren hat. Die Intensität und das Ausmaß der Reaktionen hängt davon ab, wie sich die Trauerarbeit in den vorangegangenen Trauererfahrungen vollzogen hat. Diese Erlebnisse sind starke emotionale Erfahrungen und Belastungen und bedeuten den stärksten Stress, der einem Menschen überhaupt widerfahren kann. So erinnern wir uns an emotional stark besetzte Erlebnisse bei ähnlichen Situationen, und dieses birgt die Gefahr in sich, dass die neue Situation durch die alte verfälscht wird. In Bezug auf den Aufarbeitungsaspekt von Todeserlebnissen stellt sich aber auch die Möglichkeit, Verlusterfahrungen immer wieder neu aufzuarbeiten.[44]
Besonders eindrücklich ist das, wenn jemand kurze Zeit nach einem tiefen Verlusterlebnis wieder einen Menschen verliert. Bei jedem neuen Erlebnis scheint es so, als würde man alle zuvor verlorenen Menschen nochmals verlieren. Gelungene Trauerarbeit erweist sich dann als Stütze, weil man diese Verlustkrise ja schon einmal durchstanden hat. Eine schwere Depression kann dann ausgelöst werden, wenn jemand beim ersten Verlusterlebnis die Trauerarbeit verdrängt hat und nun in einer neuen Verlustsituation steckt.[45] Daran wird nochmals die Bedeutung gelungener Trauerarbeit sichtbar. Trauerarbeit kann dann als abschließend betrachtet werden, wenn der Trauernde erstmals wieder das Gefühl wirklicher Freude am Leben zu haben scheint, obwohl es den Tod gab, und Beziehungen wieder neu eingehen kann, auch wenn der Tod jederzeit wieder Realität werden kann.[46]
Für die Trauerarbeit ist die Bereitschaft des Trauernden als auch seiner Umwelt unabdingbar, Tod und Trauer zu akzeptieren. Außerdem müssen alle chaotischen Emotionen, besonders der Zorn, ausgehalten werden. Dabei ist es wichtig, dass der Trauernde über seine Erlebnisse sprechen darf, auch wenn sie als „absonderlich“ gelten. Hier ist die Erinnerung an Erlebnisse mit dem Toten wichtig, damit die Beziehung zu ihm dem Hinterbliebenen wesentlich bleibt und in der Psyche verinnerlicht wird.[47] Kast legt ferner dar, wie hilfreich und unterstützend in der Trauerarbeit auch Träume sind. Träume leisten einen großen Beitrag zur Aufarbeitung der Verlusterlebnisse, können sogar trösten.[48]
Als weitere unterstützende Maßnahme in der Trauerarbeit weist Kast auf Selbsthilfegruppen und allgemeine Angebote für Trauernde hin. Sie sind sehr gut dazu geeignet, den Trauerprozess in Gang zu halten, Trauernde mit ähnlichen Lebenssituationen können sich gegenseitig sehr helfen und zumindest anregen, Emotionen Ausdruck zu verleihen. Allerdings muss die Wandlung und das Andauern des Trauerprozesses vom Trauernden selbst getragen werden.[49]
4.4.1.5. Manifestationen der Trauer
Trauer umfasst ein ganzes Spektrum von Gefühlen und Verhaltensweisen:
Als Gefühle sind festzustellen: Traurigkeit, Zorn, Schuld und Selbstbeschuldigung, Angst, Verlassenheit und Einsamkeit, Müdigkeit, Hilflosigkeit, Schock, Sehnsucht, Befreiung, Erleichterung, Betäubung, Abgestumpftheit. Alle genannten Gefühle sind Trauerreaktionen in den verschiedenen Phasen. Halten sie ungewöhnlich lange an und sind über die Maßen intensiv, könnte es angezeigt sein, dass an andere Hilfsmöglichkeiten verwiesen werden muss, weil eine andere als die sozialpädagogische Begleitung erforderlich ist.[50]
Folgende körperlichen Empfindungen sind zu beobachten: Leeregefühl im Magen, Brustbeklemmungen, Zugeschnürtsein der Kehle, Überempfindlichkeit gegen Lärm, Depersonalisation, Atemlosigkeit, Muskelschwäche, Energiemangel, Mundtrockenheit. Diese körperlichen Empfindungen beunruhigen häufig den Trauernden, und er ist veranlasst, den Arzt aufzusuchen.[51]
Als Wahrnehmungen sind zu nennen: Gedanken in Form unterschiedlichster Denkmster, Unglaube – Nichtwahrhabenwollen, Verwirrung, intensive Beschäftigung mit dem Toten, Gefühl der Anwesenheit des Verstorbenen, Halluzinationen.[52]
Abschließend sind verschiedene Verhaltensweisen zu nennen, die sich in der Trauerreaktion besonders häufig zeigen: Schlafstörungen, Appetitstörungen, geistesabwesendes Verhalten, soziales Sichzurückziehen, Träumen von dem verstorbenen Menschen, das Meiden von Erinnerungen an den Verstorbenen, Suchen und Rufen, Seufzen, rastlose Überaktivität, Weinen, Aufsuchen von Orten oder Beisichtragen von Gegenständen, die den Trauernden an den Verstorbenen erinnern, Kult mit Objekten aus dem Besitz der verstorbenen Person.[53]
Es ist im Umgang mit Trauernden wichtig, diese Manifestationen im Blickfeld zu haben, um Trauerprozesse als solche zu erkennen und Trauernde zu beruhigen, die sich durch Reaktionen beunruhigt fühlen.
4.4.1.6. Die Rolle des Helfers in den unterschiedlichen Phasen
In der ersten Phase sollte der Helfer ganz praktisch bei alltäglichen Hilfestellungen wie Besorgungen u.ä. dem Trauernden zur Seite stehen und ihm zeigen, dass er nicht allein ist, dabei aber nicht „entmündigen“ und übermäßig mit Beschlag belegen. Es ist wichtig, das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu finden und dem Trauernden zu vermitteln, dass er so sein darf, wie er ist. Besonders wichtig ist es auch zu zeigen, dass ihm kein Vorwurf gemacht wird, dass er jetzt in dieser Phase der Erstarrung z.B. keine Tränen hat.[54]
In der zweiten Phase ist es für den Helfer wichtig zu wissen, dass das Auftauchen von Emotionen in dieser Phase wünschenswert ist und man den Trauernden nicht von Gesprächen über den Trauernden ablenkt, sondern sie zulässt. Manchmal ist ein Ablenken zur Entspannung der Situation gut, aber primär ist es ein Verdrängen, und der Trauernde kann sich real nicht von seinem Verlust ablenken lassen. Es ist daher sinnvoller, sich dem Problem zu stellen und vom Verstorbenen zu sprechen. Ebenso ist es sinnlos, dem Trauernden etwaige Schuldgefühle abzusprechen. Geeigneter ist es, diese Schuldgefühle einfach zur Kenntnis zu nehmen.[55]
Ferner muss der Helfer in dieser Phase damit rechnen, dass der Zorn und Ärger des Trauernden auch ihn trifft, besonders wenn er zeigt, dass er anderer Ansicht ist. Es ist daher in dieser Phase wesentlich, dass man das Erleben des Trauernden einfach nur teilt, zuhört und für ihn da ist.[56]
Im Umgang mit dem Trauernden in der dritten Phase ist es entscheidend, ihn nicht zu drängen und das scheinbar „unsinnige“ Suchen aufzugeben und den endgültigen Verlust zu akzeptieren. Es ist wichtig, die immer selben Geschichten und Phantasien des Trauernden anzuhören und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er sich mit seinen Emotionen angenommen weiß.[57]
Die dem Trauernden in der ersten Phase zur Seite gestandenen Menschen kann er in der letzten Phase entbehren. Diese können sogar zu Hemmenden in der Trauerarbeit werden, wenn sie die Veränderungen des Trauernden nicht akzeptieren können. Zur Veränderung des Trauernden gehört im Sinne eines gelungenen Trauerprozesses auch das Eingehen neuer Beziehungen, wie weiter oben dargestellt![58]
4.4.2. Schwieriger Verlauf innerhalb der Trauerphasen
Wenn es nicht gelingt, den Trauernden aus der Fixierung auf eine der drei ersten Trauerphasen herauszubringen, müssen wir von einem schwierigen Verlauf der Trauerverarbeitung sprechen. Dies liegt z.B. dann vor, wenn der Trauernde sich trotz starker emotionaler Bindung an den Verstorbenen unfähig zeigt, mit dem Trauerprozess zu beginnen, unter dem Eindruck des Schocks verharrt, wenn er am Ende der zweiten Phase völlig hilflos und verwirrt ist und ohne die Hilfe seiner Umwelt nicht zurechtkommt oder wenn er nach vier bis sechs Wochen auf die Verwendung von regressiven Mechanismen (z.B. Abwehr jeder äußeren Hilfe, anhaltende Apathie, Isolation u.ä.) nicht verzichten kann.[59]
Folgende Erscheinungen können sich im schwierigen Trauerverlauf zeigen: Abwehr jeder äußeren Hilfe, anhaltende Apathie, Isolation und Abbruch aller Kommunikation, anhaltende Wahrnehmungsstörungen wie Halluzinationen, Auditionen und Präsenzgefühle, andauernde Derealisation und Depersonalisation, Leugnung des Todes und affektive Meidung von allen, was an ihn erinnert, Überaktivität und zwanghafte Fröhlichkeit, starke Beschuldigungen gegen die Umwelt und gegen sich selbst sowie paranoide Ängste und Äußern von Suizidgedanken, intensivem Verharren in den Erinnerungen, anhaltende Schlaflosigkeit, aggressiven und destruktiven Träumen, generelle oder spezifische Verschlechterung des Gesundheitszustandes und des Allgemeinbefindens, erhöhter Nikotin- und Alkoholgenuss sowie Einnahme von Beruhigungsmitteln.[60]
Worden stellt sich der Frage, ob Verlustkummer eine Krankheit ist und stützt sich dabei auf Untersuchungen von George Engel, Psychiater an der University of Rochester. Danach wird Verlustkummer als eine Abweichung vom Zustand des Gesundseins und Wohlbefindens gedeutet. So wie im physiologischen Bereich Heilung nötig ist, um den Körper wieder ins homöostatische Gleichgewicht zu bringen, so braucht auch der Trauernde eine bestimmte Zeit, um zu einem ähnlichen Gleichgewichtszustand zurückzufinden – der Trauerprozess ist demnach der Heilung ähnlich. Ebenso können die Begriffe gesund und krankhaft auch auf Verläufe des Trauervorgangs angewandt werden. Es gibt allerdings unterschiedliche Grade der Beeinträchtigung eines Menschen durch den Trauerprozess.[61]
Sicherlich sind die vier Phasen des Trauerprozesses als idealtypisch anzusehen, die wie im vorigen dargestellt, unterschiedlich verlaufen können. Das hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab, die ich im nachfolgenden näher darstelle. Es können sich jedoch Verläufe abzeichnen, die eine andere Begleitung erforderlich machen als die sozialpädagogische, wie z.B. eine therapeutische.
4.5. Den Trauerprozess beeinflussende Faktoren
Im wesentlichen sind sich die Autoren darüber einig, dass der Trauerprozess von verschiedenen Faktoren abhängig ist. Worden nennt sechs Determinanten der Trauer[62], Bowlby nennt fünf Kategorien von Variablen.[63] Bacqué[64] unterteilt in Bedingungen, die den Trauerverlauf beeinflussen, die ich nachfolgend kurz darstellen möchte:
4.5.1. Körperliche Einflüsse
Hier nennt die Autorin zunächst geschlechtsspezifische Unterschiede und meint damit das unterschiedliche Trauerverhalten von Männern und Frauen, was u.a. in der geschlechtsspezifischen Erziehung begründet liegt. Ein weiterer Faktor ist das Alter, wobei die Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Trauernden immer in Beziehung zu ihrer Generation und Kultur gesetzt werden müssen. Als letzten Faktor führt sie hier den der Gesundheit an, wobei sich der Gesundheitszustand auf den Trauerprozess auswirkt, dessen Intensität aber schwer zu ermessen ist, weil hier auch soziokulturelle Komponenten interagieren.[65]
4.5.2. Soziokulturelle Bedingungen
Es wird hier zunächst der gesellschaftliche Status genannt, was bedeutet, dass Trauernde aus unteren Schichten eher ihre Gefühle unterdrücken und unter größerer Isolation leiden als Bessergestellte. Ein Risikofaktor des sozialen Status im eigentlichen Sinne lässt sich jedoch nicht ausmachen. In der religiösen Bindung liegt ein Augenmerk auf der trostspendenden Funktion und dem Vorhandensein einer Gemeinde, die einen Halt bieten kann. Ein soziales Umfeld bilden z.B. die Familienangehörigen, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen, welche im Trauerprozess eine große Rolle spielen, abhängig davon, ob sie in der Nähe wohnen. Es wurde festgestellt, dass isoliert Trauernde häufiger unter Depressionen leiden als diejenigen, die von der Familie Unterstützung erfahren.[66]
4.5.3. Psychologische Voraussetzungen
Unter diesen Voraussetzungen nennt Bacqué zunächst die Persönlichkeitsstruktur, wozu es bisher keine stichhaltigen Ergebnisse gibt. Jedoch liegt ein Zusammenhang zwischen der Verarbeitung früherer Verlusterlebnissen und unterschiedlichen Trauerprozessen vor, wie bereits weiter oben erwähnt. Ferner spielen die Begleitumstände des Verlusterlebnisses eine Rolle, also z.B. die Frage des natürlichen Todes, Unfalltod, Suizid, Tötung, der Todesort, ob der Verlust plötzlich geschah oder ob eine längere Krankheit vorausging, beeinflussen den Trauerprozess unterschiedlich.[67]
4.6. Probleme nicht gelungener Trauerprozesse
In allen dargestellten Trauerphasen steckt die Gefahr, dass man in den Phasen verharrt, den Weg zurück wählt und sich nicht dem fortschreitenden Trauerprozess stellt. In der Gesellschaft wird es meist als „Stärke“ interpretiert, wenn wir Trauer sehr schnell überwinden. Hier stellt sich nur die Frage, ob sie wirklich überwunden ist oder nicht eher verdrängt, was u.a. zu Depressionen führen kann. Geht man den Depressionen auf die Spur, so zeigen sich oft unabgeschlossene Trauerprozesse und verdrängte Trauer.[68]
Ferner kann der Trauerprozess stecken bleiben, wenn sich auf der einen Seite im Trauerprozess Aggressionen ergeben durch aufbrechenden Zorn darüber, dass man verlassen worden ist, gezwungen ist, sich mit dem Verlust abzufinden u.ä.; auf der anderen Seite aber uns unser Norm- und Wertesystem vermittelt, über einen Toten nichts schlechtes sagen zu dürfen und so die aggressiven Gefühle verdrängt werden müssen. Auch hier können depressive Reaktionen die Folge sein, die eine andere als die sozialpädagogische Hilfe erfordern.[69]
Bei der Verlängerung der ersten Phase haben wir es damit zu tun, dass der Verlust und Emotionen verdrängt werden. Man lebt so weiter, als wäre nichts geschehen und verfällt evtl. in die Form der Geschäftigkeit. Nicht durchlebte Trauerprozesse können sich neben den genannten depressiven Reaktionen in psychosomatischen Beschwerden wie Herzbeschwerden, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit u.ä. äußern. Ferner haben Untersuchungen ergeben, dass Menschen, die bewusste Trauer vermissen lassen, oft als selbstbewusst beschrieben werden, die stolz auf ihre Unabhängigkeit und ihre Kontrolliertheit sind, kaum Gefühlsäußerungen zeigen und Tränen als unangebrachte Weichheit auffassen, nach einem Verlust weiterleben, als sei nichts geschehen. Diese Menschen lehnen jede Erinnerung an den Verstorbenen ab und möchten auch nicht über ihn sprechen. Die verdrängte Trauer holt den Menschen irgendwann wieder ein und zeigt die genannten und weitere Erscheinungsbilder und zwingt zur erneuten Auseinandersetzung.[70]
Eine weitere Form des Nicht-wahrhaben-Wollens kann dadurch zum Ausdruck kommen, dass sich jemand um einen anderen Menschen kümmert, der einen Menschen verloren hat, und sich so nur auf verschobene Weise um die eigene Trauerarbeit sorgt. Ferner gibt es Menschen, die sich aus Weltanschauungsgründen nicht zuzugestehen, trauern zu dürfen. Eine andere Form in dieser Phase beobachtet man dabei, dass Menschen von einer großen inneren „Leere“ sprechen, die seit dem Verlusterlebnis durch nichts zu füllen sei. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, mit Bilderleben den Trauerprozess in Gang zu bringen.[71] Die bisherigen dargestellten Probleme können auch in einer derartigen Weise gesehen werden, als dahinter der Versuch steht, nicht zu der Phase der zweiten Phase, der aufbrechenden Emotionen, zu gelangen. Die Probleme dieser Phase stelle ich im nachfolgenden dar.
Die Probleme der unterschiedlichen Phasen sind anders gelagert. Während Menschen mit Problemen in der ersten Phase stecken bleiben und damit die Trauer überhaupt vermeiden wollen, sind Probleme bei Menschen in späteren Phasen eher chronischen Charakters. Schwierig ist in der zweiten Phase insbesondere, wenn verlustbedingter Zorn nicht ausgedrückt wird. Er kann zu Aggressionen führen, welche sich erst verringern, wenn dieser Zorn „nachträglich“ ausgedrückt wird. Es gehört weiter zum normal verlaufenden Trauerprozess dazu, dass Schuldgefühle wach werden. Sie hängen stark damit zusammen, was in der Beziehung zwischen zwei Menschen ungeklärt geblieben ist. Hier ist es wichtig, die Beziehung für sich auch nachträglich zu klären – sofern dies möglich ist -, um Schuldgefühle aufzuarbeiten und die Trauerarbeit nicht stagnieren zu lassen. Zu bedenken ist dabei allerdings, die Schuldgefühle nicht zu sehr auf das Verhältnis zum Verstorbenen zu fixieren, sondern auch beim Trauernden selbst zu schauen, inwieweit sie Entscheidungen, Verfehlungen des Lebens von ihm betreffen.[72]
In der dritten Phase scheint die Gefahr des Suizids am größten zu sein, weil das Leben in dieser Situation als weniger attraktiv empfunden wird als der Tod. Wie schon weiter oben erwähnt, reagieren Menschen mit früheren Verlusterfahrungen stärker bei neuen, ähnlichen Erlebnissen und sind dadurch auch eher suizidgefährdet.[73] Weitere Probleme sind das intensivierte Sich-Suchen, während das Sich-Trennen vermieden wird sowie das Nicht-Akzeptieren des Verlustes.[74]
In der letzten Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs kann ein Problem sein, dass der Abschiedskomplex zu wenig bedacht wird und der Trauerprozess vorzeitig beendet wird, obwohl ein neuer Selbst- und Weltbezug noch nicht vollzogen wurde. Dabei kann ferner das fehlende Bewusstsein darüber problematisch sein, dass der Trauerprozess immer wieder ausgelöst werden kann.[75]
4.7. Der Abschluss des Trauerprozesses
Nach Worden gibt es keine Patentantwort darauf, wann die Trauerarbeit beendet ist. Seines Erachtens ist der Trauerprozess abgeschlossen, „wenn die Traueraufgaben bewältigt sind. Man kann dafür keine definitive Frist festsetzen [...]“. Die Trauerreaktion ist beendet, wenn bei Gedanken an den Verstorbenen keine Schmerzen mehr empfunden werden.[76]
Nach Spiegel geht der Trauerprozess seinem Ende zu, „wenn es dem Trauernden gelingt, seine innere und äußere Welt wiederaufzubauen, in der der Verstorbene integriert und weder gänzlich verstoßen ist noch ein ‚Schattendasein’ in einem abgespaltenen Teil des Ichs führen muss. Dies kann nur gelingen, wenn die unausgeglichenen Gefühle des Hasses und der Liebe gegenüber dem Toten in der Vergebung in sich zusammenfallen und eine realistische Einsicht gewonnen wird über die Vorzüge und Schwächen dieses Menschen.“[77]
So kann man Trauern als einen Prozess bezeichnen, der zu einem Ende kommt, in gewisser Weise aber doch nie aufhört.
4.8. Abschließende Stellungnahme
In den vorangegangenen Ausarbeitungen hat sich gezeigt, wie notwendig gelungene Trauerarbeit ist, besonders in einer Gesellschaft, in der Tod und Trauer noch immer tabuisiert sind und eine ausgedehnte und erforderliche Trauerarbeit anscheinend nicht zum Leistungscharakter dieser Gesellschaft passt. Daher erfahren Menschen heute das Abschiednehmen am Grab eines geliebten Menschen, stehen dann hilflos und mit Angst besetzt vor einer plötzlich eingetretenen Trauersituation und können selten damit umgehen. Sterben und Trauern werden heute nicht mehr geübt und treten dann als Katastrophe und Schock auf, wenn eine solche Situation eintritt, weil wir uns dem Prozess des Sterbens und Trauerns entzogen haben und innerlich nicht vorbereitet sind. Das macht Trauern heute so schwer.[78] Für den Trauernden ist es wichtig, dass er seine Aufgaben im Trauerprozess „erledigt“, damit der Trauerprozess kein Stückwerk bleibt und seine Entfaltung und Entwicklung gehemmt wird.
Sicher können sozialpädagogische Hilfestellungen in den dargestellten Trauerphasen den Trauernden unterstützen, zu einem gelungenen Abschluss des Trauerprozesses zu gelangen. Wie weiter oben bereits angemerkt, können unterschiedliche Verläufe innerhalb der Phasen, die von einem idealtypischen Verlauf abweichen, eine andere als die sozialpädagogische Begleitung anzeigen. Eine genaue Klärung dieser Abgrenzungsfrage möchte ich jedoch an das Ende des übernächsten Kapitels stellen, wenn die Frage nach den Inhalten sozialpädagogischer Handlungsbereiche geklärt ist.
Wie in der Einleitung dargestellt, könnte ich mir aufgrund von Inhalten eines besuchten Psychodramaseminars vorstellen, dass verschiedene Methoden aus der psychodramatischen Praxis gute und sinnvolle Verwendung in der Arbeit mit Menschen im Trauerprozess finden könnten. Daher werde ich im folgenden Kapitel die Inhalte des Psychodramas klären und aufzeigen.
[...]
[1] Schülerduden: Die Psychologie. S. 379.
[2] Bechtler, Hildegard, in: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, S. 595.
[3] Ulich, Dieter: Psychologie der Krisenbewältigung, S. 14.
[4] Faltermeier, Josef, in: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, S. 962.
[5] Schülerduden: Die Psychologie. S. 379.
[6] Vgl. Worden, J. William: Beratung und Therapie in Trauerfällen, S. 14/15.
[7] A.a.O., S. 15.
[8] A.a.O., S. 16/17.
[9] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 13.
[10] A.a.O.
[11] A.a.O., S. 14.
[12] A.a.O., S. 14/15.
[13] A.a.O., S. 15.
[14] A.a.O., S. 16 – 18.
[15] A.a.O., S. 18.
[16] A.a.O., S. 18 – 20.
[17] A.a.O., S. 20.
[18] A.a.O., S. 20/21.
[19] Vgl. Bacqué, Marie-Frédérique : Mut zur Trauer, S. 52ff.
[20] Vgl. Bowlby, John: Verlust, Trauer und Depression, S. 114ff.
[21] Vgl. Schuchardt, Erika: Warum gerade ich ? S. 27ff.
[22] s. a. Schaubild zum Spiralphasenmodell im Anhang B, S. 1.
[23] Vgl. Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden, S. 41ff.
[24] Vgl. Spiegel, Yorick: Der Prozess des Trauerns, S. 57ff.
[25] Vgl. Ortwein, Christel: Interview, Anhang C, Randnummern 208ff.
[26] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 61.
[27] Vgl. Bowlby, John: Verlust, Trauer und Depression, S. 114.
[28] A.a.O., S. 115.
[29] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 62.
[30] A.a.O.
[31] Vgl. Bowlby, John: Verlust, Trauer und Depression, S. 116.
[32] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 62/63.
[33] A.a.O., S. 63/64.
[34] A.a.O., S. 64.
[35] A.a.O., S. 66.
[36] A.a.O., S. 67.
[37] A.a.O.
[38] A.a.O., S. 67/68.
[39] A.a.O., S. 69.
[40] A.a.O., S. 70.
[41] A.a.O., S. 70/71.
[42] A.a.O., S. 71/72.
[43] A.a.O., S. 72/73.
[44] A.a.O., S. 73/74.
[45] A.a.O., S. 74/75.
[46] A.a.O., S. 75.
[47] A.a.O., S. 76.
[48] Auf diesen Aspekt werde ich aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit allerdings nicht eingehen und möchte hiermit nur auf deren Wichtigkeit hinweisen.
[49] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 76/78.
[50] Vgl. Worden, J. William: Beratung und Therapie in Trauerfällen, S. 28ff.
[51] A.a.O., S. 33.
[52] A.a.O., S. 33 – 35.
[53] A.a.O., S. 35 – 39.
[54] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 61/62.
[55] A.a.O., S. 66.
[56] A.a.O., S. 66/67.
[57] A.a.O., S. 70.
[58] A.a.O., S. 72.
[59] Vgl. Spiegel, Yorick: Der Prozess des Trauerns, S. 83/84.
[60] A.a.O., S. 84.
[61] Vgl. Worden, J. William: Beratung und Therapie in Trauerfällen, S. 17.
[62] A.a.O., S. 41ff.
[63] Vgl. Bowlby, John: Verlust, Trauer und Depression, S. 224ff.
[64] Vgl. Bacqué, Marie-Frédérique : Mut zur Trauer, S. 82ff
[65] A.a.O., S. 84 – 91.
[66] A.a.O., S. 91 – 94.
[67] A.a.O., S. 95 – 103.
[68] Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, S. 81.
[69] A.a.O., S. 82.
[70] A.a.O., S. 84 – 86.
[71] A.a.O., S. 88 – 90.
[72] A.a.O., S. 94 – 101.
[73] A.a.O., S. 101ff.
[74] Vgl. Kast, Verena: Der schöpferische Sprung, S. 84ff.
[75] A.a.O.
[76] Vgl. Worden, J. William: Beratung und Therapie in Trauerfällen, S. 26.
[77] Vgl. Spiegel, Yorick: Der Prozess des Trauerns, S. 88/89.
[78] Vgl. Schibilsky, Michael: Trauerwege, S. 163ff.
- Arbeit zitieren
- Jörg Peters (Autor:in), 2000, Sozialpädagogische Interventionen mit trauernden Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93728
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