Inwieweit wurde Schiller zum literarischen Anwalt des "Verbrechers aus verlorener Ehre"?


Hausarbeit, 2005

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Philosophisch-ästhetische Thesen Schillers
2.1 Die Entstehungsgeschichte der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre
2.2 Die programmatische Vorrede der Erzählung

3. Schillers Erzählstrategie bei der Darstellung Christian Wolfs
3.1 Wolfs Äußeres und erste Einflüsse auf ihn: seine Eltern, Hannchen, Robert
3.2 Schillers implizierte Kritik an der Gesellschaft und der Justiz

4. Wolf jenseits der bürgerlichen Moral
4.1 Der Mord und Wolfs innere Leere nach der Tat
4.2 Wolf in der Räuberbande

5. Wurde Schiller zum literarischen Anwalt Wolfs?
5.1 Das Ende der Erzählung: Warum stellt sich Wolf freiwillig?
5.2 Schillers Intention: aufklären und vorbeugen, aber auch verteidigen?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Nachwort zur Reclam-Ausgabe Der Verbrecher aus verlorener Ehre und andere Erzählungen kommt Bernhard Zeller zu der Schlussfolgerung, dass Schiller die Verbrechen des Protagonisten Christian Wolf „aus angeborener Anlage und äußeren Umständen, aus Charakter und Situation“ herleitet. Somit werde Schiller „in gewisser Weise doch zum Anwalt Schwans“[1]. Diese Schlussfolgerung erscheint mir insofern beachtenswert, da einige Rezensenten des Verbrechers aus verlorener Ehre eine derartige Parteinahme Schillers für Wolf, sei sie direkt oder indirekt, nur unzureichend aufzeigen. In anderen Fällen hingegen wird Wolfs Entwicklung zum Verbrecher zu einseitig begründet und somit übersehen, wie weit reichend Schillers Netz der positiven Beeinflussung des Lesers für Wolf gespannt ist.

Ich werde mich in meiner Arbeit vorrangig damit beschäftigen, die Hinweise für eine direkte beziehungsweise indirekte Parteinahme Schillers für Wolf zusammen zu tragen und näher zu deuten. Daraus resultierend werden gleichzeitig diejenigen Rezensenten Gegenstand kritischer Erwähnung sein, die die Faktoren für Wolfs Verbrechertum meiner Meinung nach nur unzureichend oder zu einseitig erläutern.

Ein Vergleich mit der Erzählung Lebensgeschichte Fridrich Schwans von Jacob Friedrich Abel beziehungsweise mit den historischen Fakten des wahren Falles von Schwahn soll nicht hauptsächlicher Gegenstand meiner Untersuchung sein und wird von mir nur dort vollzogen, wo es der Veranschaulichung von Schillers Parteinahme für Wolf dient.

2. Philosophisch-ästhetische Thesen Schillers

2.1 Die Entstehungsgeschichte der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre

Bei näherer Betrachtung der Entstehungsgeschichte erschließen sich Hinweise darauf, welche Einflüsse auf Schiller gewirkten haben und sich dadurch gegebenenfalls in der Erzählung zu einem bestimmten Zweck widerspiegeln.

Die Erzählung entstand 1785 und wurde 1786 im 1. Band, 2. Heft der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Thalia anonym erstmals veröffentlicht. „Damit [= mit der Herausgabe einer Zeitschrift, J. H.] sind – vermittelt über programmatischen Zweck und ökonomische Zwänge – Beziehungen zur zeitgenössischen Literaturgesellschaft gegeben [...].“[2] Inwieweit Schiller ökonomischen Zwängen unterlag, lässt sich aus seiner Biographie ersehen. Eine weitere Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Theater war Ende August 1784 abgelehnt worden, so dass Schiller die Herausgabe der Thalia als Möglichkeit sah, dringend benötigtes Geld zu verdienen. So schreibt er in einem Brief an seinen Freund und Gönner Körner am 17. Mai 1788: „Soviel ist indessen gewiß, daß ich mir diesen Geschmack des Publikums zu Nutzen machen und soviel Geld davon ziehen werde, als nur immer möglich ist.“[3] Noch deutlicher wird Schiller im Brief an den Schriftstellerkollegen Huber vom 7. Dezember 1784:

Überdem zwingt das deutsche Publikum seine Schriftsteller nicht nach dem Zuge des Genius, sondern nach Speculationen des Handelns zu wählen. Ich werde dieser Thalia alle meine Kräfte hingeben, aber das läugne ich nicht, dass ich sie (wenn meine Verfassung mich über Kaufmannsrüksichten hinnweg-sezte) in einer Andern Sphäre würde beschäftigt haben.[4]

Aus beiden Zitaten wird auch deutlich, auf welche Weise Schiller ein möglichst großes Publikum erreichen will, namentlich durch „Mode-stoff“, den er sich entschließt „aus dem Moment, d. h. aus dem neuesten zu wählen, was bey der Lesewelt eben im Umlauf ist [...]“.[5] [Hervorhebungen im Original] Hier tritt Schillers Beziehung zum Leser der Erzählung prägnant hervor. Aus seiner Schulden- und Geldnot heraus sieht er sich gezwungen, sich nach dem Geschmack der Leser zu richten, damit seine Zeitschrift den Zuspruch findet, den er benötigt und sich erhofft. Was Schiller von der zeitgenössischen Literaturkultur hält, bringt er 1792 in der Vorrede zum Pitaval zum Ausdruck. Darin klagt er darüber, dass wenige Schriften zu finden seien, die den Kopf und das Herz des Lesers gleichzeitig ansprechen und bessern. Das Bedürfnis zu lesen sei zwar größer geworden, aber mittelmäßige Schriftsteller würden auf Unkosten aller Volkskultur und Sittlichkeit geistlose, geschmack- und sittenverderbende Romane und dramatisierte Geschichten veröffentlichen:

Kein geringer Gewinn wäre es für die Wahrheit, wenn bessere Schriftsteller sich herablassen möchten, den schlechten die Kunstgriffe abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben, und zum Vorteile der guten Sache davon Gebrauch zu machen. [...] [E]nthält es dann noch einige Realität für den Verstand, streut es den Samen nützlicher Kenntnisse aus, dient es dazu, das Nachdenken des Lesers auf würdige Zwecke zu richten: so kann ihm, unter der Gattung, wozu es gehört, der Wert nicht abgesprochen werden.[6]

Schiller setzt sich mit dieser Meinung programmatisch und vehement von den damals sehr beliebten und weit verbreiteten Moralischen Erzählungen ab, deren Hauptverfechter August Gottlieb Meißner war. In dieser Art von Literatur fand sich laut Schiller nichts von Gebrauch für den Verstand, da es hauptsächlich um Abschreckung ging, die erreicht werden sollte durch Wiedergabe des genauen Verlaufs des langen Prozesses vor Gericht und vor allem der Folter und Tötung des Delinquenten. Außerdem machte sich eine starke Typisierung bemerkbar und die Umstände, die zur Tat führten, blieben unbeachtet.[7]

Es bleibt demnach festzuhalten, dass Schiller sich den Sensationshunger der damaligen Leserschaft zu Nütze machen wollte, indem er die Moralischen Erzählungen in der Gestaltung und Intention seinen Bedürfnissen anpasste. Als Vorbild erschien ihm der Pitaval als angemessen, denn mit der thematischen Schwerpunktsetzung auf den Täter statt nur auf die verruchte Tat regt diese Lektüre den Leser an, sich gedanklich zu beteiligen und sich nicht nur von der blutrünstigen Beschreibung der Folter unterhalten zu lassen. In seinen Umformungen sah Schiller die Möglichkeit, die Lektüre einem bestimmten Zweck zuzuführen, namentlich der Aufklärung der Leserschaft über die Genese von Verbrechen. Das Übel innerhalb der Gesellschaft soll derart aufgedeckt und für jeden sichtbar gemacht werden, dass es von den Menschen identifiziert und rechtzeitig unschädlich gemacht werden kann. Eine Aufklärung der Massen, des gesamten Volkes schwebt ihm vor, gleichzeitig eine Prophylaxe der literarischen Art.

Als Folie für seinen Doppelzweck geeignet scheint Schiller die damals sehr populäre Geschichte des Sonnenwirts Schwan (1729-1760), der jahrelang stehlend und von der Gesellschaft verstoßen durch die deutschen Kleinstaaten, vornehmlich in Württemberg, zog. Zugetragen wurden Schiller die historischen Fakten von seinem Lehrer an der Karlsschule, Jacob Friedrich Abel, dessen Vater damals als Amtmann Schwahn festnahm. Obwohl dessen Leben zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vom Verbrecher aus verlorener Ehre schon ein Vierteljahrhundert vorher am Galgen geendet hatte, war seine Verbrecherlaufbahn doch so unerhört, dass Schiller sich einer interessierten Leserschar sicher sein konnte. Laut Kawa wird an den nur insgesamt sechs der Schiller-Forschung erhaltenen zeitgenössischen Rezensionen deutlich, dass sich die Erzählung wirklich nahtlos in den Rezeptionshorizont der damals populären Texte einfügte.[8]

Mit welchen literarischen Mitteln die Leser gleichzeitig unterhalten und damit an den belehrenden Stoff gebunden wurden, wird nun Gegenstand eingehender Analyse sein.

2.2 Die programmatische Vorrede der Erzählung

Schiller stellt seiner Erzählung einige philosophisch-ästhetische Überlegungen und Thesen voraus, die erste Hinweise auf seine Erzähltechnik und Intention geben.

Bereits im ersten Satz bezeichnet Schiller die sich anschließende Verbrecherlaufbahn des Protagonisten, in der es immerhin auch ein Menschenleben zu beklagen gilt, als eine „Verirrung“[9] (3).

Ebenfalls bezeichnend ist meiner Meinung nach die Änderung des Titels der Erzählung von der Erstausgabe 1786 von Verbrecher aus Infamie zu der stilistisch leicht überarbeiteten Fassung Verbrecher aus verlorener Ehre, veröffentlicht 1792 in der Sammlung Kleinere Prosaische Schriften. Schiller-Biograph Alt sieht hierin einen „inhaltlich gleichbedeutenden Titel“[10]. Ich halte es jedoch für denkbar, dass Schiller sich bewusst für diese feinere Wortdifferenzierung entschieden hat. Das von ihm eingetauschte Wort „Infamie“ ist laut Duden der Etymologie gleichwertig als Ehrlosigkeit, Niedertracht und Schändlichkeit zu übersetzen. Da Schiller in seiner Erzählung, wie ich noch ausführen werde, darauf hinaus will, dass unter anderem die Gesellschaft eine Mitschuld am Verbrechertum des Protagonisten trägt, ihn förmlich in selbiges hineindrängt, macht sich die Gesellschaft schuldig an seiner Ehrlosigkeit. Die „Ehrlosigkeit“ wird an den Protagonisten herangetragen. Hingegen bezeichnet die von Schiller nicht verwendeten Begriffe „Niedertracht“ mit der Übersetzung „gemein und schäbig“ und „Schändlichkeit“ mit der Übersetzung „abscheulich“ doch eher Charakterzüge, die nicht von außen an die Person herangetragen werden, sondern in ihr liegen. Mit der Titelwahl Verbrecher aus verlorener Ehre statt Verbrecher aus Infamie hat Schiller meiner Ansicht nach noch deutlicher Position bezogen für den Protagonisten Christian Wolf und für die Tatsache, dass dessen Verhalten mehr von außen als von seinem Inneren bestimmt wird.

Mit der Änderung des Namens des Protagonisten, vom historisch belegten Friedrich Schwahn zu Christian Wolf, eröffnet sich ein weiterer Hinweis darauf, wie Schiller seinen Protagonisten vom Leser verstanden haben will - als zwiegespaltenes Wesen. Hierzu ist in der Forschung bisher nur wenig oder Unvollständiges zu finden.[11] In den von mir gelesenen Aufsätzen fand ich eine ausführlichere Deutung des Vor- und Nachnamens bei Poppe und Aurnhammer[12], für deren Interpretationen die Tatsache spricht, dass die gesamte Einleitung von diametral angeordneten Begriffen durchzogen ist. Der Vorname Christian weist demnach auf eine religiöse Konnotation, wohingegen der Nachnahme Wolf das Natürliche und Triebhafte zum Ausdruck bringt. Weitere Gegensatzpaare sind „Trieb und Neigung“ (3), „Weisheit und Torheit“ (5), „Laster und Tugend“ (5), „heilsame Kräuter“ und „giftige[r] Schierling“ (5), sowie „eng[e] bürgerlich[e] Sphäre (...) in der schmalen Umzäunung der Gesetze“ im direkten Vergleich zum ungezügelten „Ungeheuer Borgia“ (4). Die von Schiller betonte Doppelnatur des Menschen tritt für den Leser deutlich hervor.

Einerseits möchte Schiller dem Leser verdeutlichen, dass in der „Seelenlehre“ das menschliche Herz als etwas „Zusammengesetztes“ (3) angesehen wird, das reich ist an Gegensätzen dieser Art. Im Menschen finden sich demnach „Weisheit und Torheit, Laster und Tugend in einer Wiege beisammen“ (5), „in einer Ordnung“ (4), „[e]ine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen [...] (3) und dies ist die „ unveränderlich[e] Struktur der Seele“ (5) [Hervorhebungen im Original]. Soweit die Erkenntnisse vom Seelenforscher und Anthropologen Schiller.

Als Aufklärer wiederum weiß Schiller um die „ veränderlichen Bedingungen, welche sie [die Seele, J. H.] von außen bestimmen“ (5). Im sozialen Miteinander der Menschen entscheidet es sich laut Schiller, wie diese zugleich lasterhafte und tugendliche Seele des Individuums äußerlich in Aktion tritt, ob sie sich in „eine merkwürdige Verbesserung oder Verschlimmerung auflös[t]“[13].

Wie ist es nun möglich, dem Leser diese Doppelnatur der menschlichen Seele und den Einfluss auf sie von außen zu veranschaulichen, ohne dass „die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend [gemeint ist der gesetzestreue Bürger, J. H.] auf die gefallene [gemeint ist der Verbrecher, J. H.] herunterblickt“ (5)? Wie macht man einem Menschen klar, dass in ihm, ohne sein Wissen, die Anlage zum Verbrecher gegeben ist?

Schiller begibt sich hierzu auf eine Gratwanderung. Er versucht eine Ähnlichkeit zwischen dem Verbrecher und dem Lesern herzustellen, um somit die „Lücke zwischen dem historischen Subjekt [in unserem Fall Wolf, J. H.] und dem Leser“ zu schließen, da diese Lücke „alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet“ (4). Gert Sautermeister hat es auf den Punkt gebracht: Schiller stellt sich einem „aufklärerischen und ästhetischen Doppelproblem“[14]. Welche Probleme das inhaltlich mit sich bringt, wird besonders deutlich in der Mordszene und als Wolf sich freiwillig stellt (s. 4.1 und 4.3).

Wie soll diese Lücke zwischen dem Leser und dem Verbrecher geschlossen werden? Hierzu vertieft Schiller in der Vorrede seine Programmatik. Er stellt klar, dass er seine Leser nicht wie damals üblich „durch hinreißenden Vortrag bestech[e]n“ will, sondern dem Leser die „republikanische Freiheit“ zugestehen will, „selbst zu Gericht zu sitzen“ (4 f.) über die Geschichte und das Schicksal von Christian Wolf. Dazu

muß der Held kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh’ er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten. (5) [Hervorhebungen im Original]

Ich zitiere diese Stelle der Einleitung deswegen so ausführlich, weil in der Schiller-Forschung verschiedene Deutungen der stilistischen Methode Schillers kursieren. Nach meinen Erkenntnissen bezeichnet der von Schiller abgelehnte „hinreißende Vortag“ die Foltermethoden und das Ende des Straftäters am Galgen, von denen damals in den bereits erwähnten Moralischen Erzählungen und Verbrecherbiographien minutiös und kein grausames Detail auslassend berichtet wurde. Diese Beschreibungen sollen aber für das Urteil seiner Leser über den Delinquenten keinerlei Bedeutung haben. Für eine Urteilsfindung des Lesers im Schillerschen Sinne ist nicht die Tat das entscheidende Kriterium, sondern der Täter und seine Biographie, die Genese des Verbrechens. Wie sich an der oben zitierten Textstelle klar erkennen lässt, ist dies die von Schiller geforderte „Kälte“ des Helden und damit auch die des Lesers.

Rezensenten wie Gerhard Köpf[15] und Rainer Schönhaar[16] interpretieren diese „Kälte“ im Sinne eines dokumentarischen Schreibstils, den sie vom Autor Schiller und seinem Erzähler erwarten. Benno von Wiese attestiert Schiller eine Sprache „mit zuschauender Kälte“, es werde „aus der Distanz heraus mitgeteilt“[17]. Bei Winfried Freund findet sich die Behauptung, Schiller wolle eine „möglichst objektive Wiedergabe der Fakten im Sinne einer Beweisaufnahme“[18]. Storz ist der Meinung, dass dem „armen Schlucker“ Wolf gegenüber „dem Autor die kühle Distanz leicht“[19] falle. Košenina ist der Ansicht, dass der „geforderte kalte Protokollstil“ nicht eingehalten wird[20]. Bennholdt-Thomsen und Guzzoni erwarten eine „formal unbeteiligte kalte Behandlung des Gegenstandes“ und eine „nicht emotional präjudiziert[e]“[21] Rezeption.

All dies würde aber der angestrebten Hervorhebung der Ähnlichkeit zwischen Verbrecher und Leser entgegenstehen, die Schiller in den einleitenden Worten als sein Ziel benennt. Der Aufklärer Schiller fordert doch ganz explizit den „heilsamen Schrecke[n], der die stolze Gesundheit warnet“ (4). Was die Genannten in der Folge ihrer falschen Deutung von Schillers Maxime des „kalten Helden und Lesers“ übersehen beziehungsweise als Mangel betiteln, ist, mit welch einer völlig beabsichtigten literarischen Virtuosität Schiller es schafft, seine Leser langsam zur Parteinahme für Wolf zu führen. Dies geschieht auf vielfältigste Weise und bezieht sich auf den Inhalt, die Form und die Erzähltechnik, wie es Aurnhammer sehr treffend erkennt und unter der Bezeichnung „Engagiertes Erzählen“[22] zusammenfasst.

Zu Schillers Einführung in die Erzählung bleibt zusammenfassend zu sagen, dass für Schiller, der sich hier anfangs quasi als Herausgeber direkt an den Leser wendet und dessen Blickrichtung auf das geschehen schon ab hier den Leser lenkt, keinerlei Zweifel an der Kausalität und absoluten Nachvollziehbarkeit eines martialischen Verbrechens besteht. An den Verbrecher soll der Leser derart herangeführt werden, dass er einerseits die Ähnlichkeit zu diesem bemerkt, andererseits soll er lernen, ein Ausschlagen der Seele in die falsche Richtung zu erkennen, dementsprechend zu verhindern und den Fall als zum Richter berufener Leser neu beurteilen.

Dass Schillers Pietät darin besteht, nicht hauptsächlich Wolf die Rechnung aufzumachen, sondern der Gesellschaft und Justiz, werde ich im Folgenden eingehender untersuchen und belegen.

[...]


[1] Zeller 2005, S. 75. Bernhard Zellers Ausführungen hierzu sind auf wenige Zeilen des Nachwortes beschränkt.

[2] Ausführliche Informationen zu diesem Aspekt finden sich bei Kawa 1990, S. 5-10.

[3] Der vollständige Brief ist zu finden in der Nationalausgabe (NA), Hg. v. Blumenthal und Wiese, S. 59.

[4] Der vollständige Brief ist zu finden bei Lecke 1969, S. 783.

[5] Ebd., S. 793.

[6] Vorrede zu „Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit“ [Pitaval], Hg.
v. Alt et. al. 2004, S. 864 ff. Sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung des Verbrechers aus verlorener Ehre
schrieb Schiller das Vorwort für den nach seinem Herausgeber genannten Pitaval, einer Sammlung von
Protokollen tatsächlicher Rechtsfälle. In ihnen fanden die Täterpsyche und dessen Vorgeschichte
erstmalig Beachtung. Außerdem fanden sich deutliche Hinweise auf das defizitäre Rechts- und
Sozialsystem. Zu Grunde lag dieser Sammlung allen Anschein nach die Erkenntnis, dass Verbrechen ein
Phänomen ist, über das sich ausgetauscht werden muss, und zwar nicht nur in den Kreisen der Justiz.

[7] Für eine grundlegende Analyse zu diesem Thema vgl. Oettinger 1972 und auch Kawa 1990, S. 22-25.

[8] Kawa 1990, S. 21.

[9] Ich zitiere in Klammern im laufenden Text nach der Ausgabe Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus
verlorener Ehre und Jacob Friedrich Abel: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans. Hg. v. Mahl 2004.

[10] Alt 2004, S. 477.

[11] Vgl. hierzu folgende Autoren: Kawa 1990, S. 10, der eine ironische Anspielung auf die
Vollkommenheitslehre des gleichnamigen Aufklärungsphilosophen vermutet, dabei aber übersieht, dass
der Genannte sich „Wolff“ schreibt. Alexander Košenina in Luserke-Jaqui 2005, S. 306 f., der ebenfalls
diese Deutung in Erwägung zieht, aber zusätzlich erkennt, dass sich der Name Wolf im
Sinnzusammenhang mit Schillers medizinischer Dissertation Über den Zusammenhang der tierischen
Natur des Menschen mit seiner geistigen
deuten lässt. Die Bedeutung des Vornamens Christian erläutert er jedoch
nicht näher. Eine Änderung des Nachnamens von Schwahn in Wolf sieht Köpf 1978, S. 13, aus Rücksichtnahme
auf Schillers Verleger Schwan gegeben.

[12] Poppe 2005, S. 26 und Aurnhammer 1990, S. 258.

[13] In der am 11. November 1784 erschienenen Ankündigung der „Rheinischen Thalia“, Alt et. al. 2004, S. 857.

[14] Sautermeister 1985, S. 273.

[15] Köpf 1978, S. 48 f.

[16] Schönhaar 1969, S. 76.

[17] Wiese 1956, S. 45.

[18] Freund 1975, S. 13.

[19] Sorz 1959, S. 175.

[20] Košenina in Luserke-Jaqui 2005, S. 309.

[21] Bennholdt-Thomsen und Guzzoni 1979, S. 48.

[22] Aurnhammer 1990, S. 254-270. Dies ist die ausführlichste und überzeugendste Analyse von Schillers
Erzähltechnik unter den von mir ausgesuchten Aufsätzen.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Inwieweit wurde Schiller zum literarischen Anwalt des "Verbrechers aus verlorener Ehre"?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Philosophie und Geisteswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
31
Katalognummer
V76318
ISBN (eBook)
9783638805568
ISBN (Buch)
9783656568711
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine ganz vorzügliche Ausarbeitung, die nicht zuletzt durch ihren souveränen Überblick über die Forschung und die Begabung zur synthetisierenden Argumentation beeindruckt.
Schlagworte
Inwieweit, Schiller, Anwalt, Verbrechers, Ehre
Arbeit zitieren
Jana Henseleit (Autor:in), 2005, Inwieweit wurde Schiller zum literarischen Anwalt des "Verbrechers aus verlorener Ehre"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76318

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