"Nein, irgendetwas, sogar deutlich mehr, als wir üblicherweise bereit sind zuzugeben, ist nicht konstruiert, und das ist ein Glück, andernfalls könnten wir zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden."
In dieser Aussage macht Maurizio Ferraris den Grundimpetus der philosophischen Strömung des neuen Realismus aus; einer „Müdigkeit gegenüber dem Postmodernismus“. Dieser hatte mit seinem Fokus auf die Konstruktionsleistungen der Sprache und den verschiedenen Diskurstheorien ab den 1960er Jahren zunehmend Eingang in die Sozial- und Kulturwissenschaften gefunden und spätestens mit Hayden Whites 1973 erschienener „Metahistory“ auch in die Geschichtswissenschaft. Analog zur philosophischen Strömung des neuen Realismus wurden auch hier bald Gegenstimmen laut, die ein neues Verhältnis zum „Faktischen“ bzw. den historischen Ereignissen forderten. Im Folgenden werde ich daher die Theorien von White und Zoltán Simon in Bezug auf dieses Verhältnis vergleichend betrachten.
Exzerpt:
Hier wirkt Whites Theorie jedoch inkonsistent. Denn indem er den eigentlichen Erkenntniswert ausschließlich in der Konstruktionsleistung des Historikers sieht, erscheint seine Theorie konstruktivistische. Um sie gegen relativistische Beliebigkeit abzudichten, postuliert er, dass die Plotstruktur den Ereignissen selbst innewohne. Auch der Erkenntniswert der Erzählung soll sich an der Kohärenz derselben zur Ereignisfolge bemessen. Hier soll also die materielle Basis der Plots gestärkt werden, was jedoch wenig überzeugt, zumal White nicht näher darauf eingeht wie eine Verankerung der Plots in der Geschichte vorgestellt wird. Die Forderung nach Kohärenz zwischen einer Vergangenheit, die ja nach White nur durch das Konstrukt der Plots entsteht und den Plots selbst wirkt widersprüchlich.
Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg
Heidelberg School of Education (HSE)
Übung: Geschichte und Erzählung. Implikationen des „narrative turn“ für Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik
Vorgelegt von: Johannes Konrad
Ist Geschichte nur Narration? Hayden White und Zoltán Simon
„Nein, irgendetwas, sogar deutlich mehr, als wir üblicherweise bereit sind zuzugeben, ist nicht konstruiert, und das ist ein Glück, andernfalls könnten wir zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden.“[1]
In dieser Aussage macht Maurizio Ferraris den Grundimpetus der philosophischen Strömung des neuen Realismus aus; einer „Müdigkeit gegenüber dem Postmodernismus“.[2] Dieser hatte mit seinem Fokus auf die Konstruktionsleistungen der Sprache und den verschiedenen Diskurstheorien ab den 1960er Jahren zunehmend Eingang in die Sozial- und Kulturwissenschaften gefunden und spätestens mit Hayden Whites 1973 erschienener „ Metahistory “ auch in die Geschichtswissenschaft. Analog zur philosophischen Strömung des neuen Realismus wurden auch hier bald Gegenstimmen laut, die ein neues Verhältnis zum „Faktischen“ bzw. den historischen Ereignissen forderten. Im Folgenden werde ich daher die Theorien von White und Zoltán Simon in Bezug auf dieses Verhältnis vergleichend betrachten.
Hayden White ist Professor für Geschichte und Literaturwissenschaft in Stanford und hat mit seiner Theorie, welche die Historiographie als fiktionale Literatur nach den Maßgaben der Literaturwissenschaft betrachtet eine kontroverse Debatte angestoßen. Darin warfen ihm u.a. Roger Chartier und Hans-Ullrich Wehler Relativismus vor, der für die Geschichtswissenschaft und deren Erkenntnisleistung fatal sei.[3] In seiner Monographie „ Metahistory “ rückt White zunächst die narrative Struktur historischer Werke in den Mittelpunkt. Diese sei zentral für unser Verstehen der Vergangenheit, da durch den Vorgang des emplotment die Kluft, die zwischen dem Betrachter und den vergangenen Ereignisseen liege, überbrückt werden könne, indem die Ereignisse in eine bekannte und letztlich sinngebende Struktur gebracht werden.[4] White verfolgt also einen epistemologischen Ansatz in dessen Mittelpunkt die Sprache als Medium der Erkenntnis steht. Die spezifische Art des emplotment ist nach White jedoch keine beliebige, sondern in der zeitlichen Realität des Historikers angelegt. So standen die Historiker des 19. Jahrhunderts noch in der Tradition der Aufklärung und versuchten daher ihr Fortschrittsnarrative kausal zu begründen. Da sie sich dabei jedoch auch idealistischer und moralischer Ansätze bedienten, wohne diesen eine Spannung inne, die die Darstellung ironisch erscheinen lasse.[5] Die Ironie, bzw. die Satire ist nach White daher die narrative Struktur der historischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts.[6] Analog hierzu gibt es nach White auch Erzählungen, die nach dem Muster der Tragödie, der Komödie, oder der Romanze aufgebaut sind.[7] Die Art der Narration entscheidet denn auch wie die historischen Ereignisse ausgewählt, angeordnet und gewichtet werden. Die Ereignisse bilden also gewissermaßen die materielle Basis der Narrationen. Diese haben für White jedoch keinerlei Erkenntniswert. Er entsteht erst durch deren Arrangement in der Narration, die das Geschichtswerk von der Chronik, also der bloßen Auflistung von Ereignissen unterscheidet. Für White gründet Geschichte also auf historischen Fakten; Sie entsteht als solche aber erst durch das in Beziehung setzen derselben. Eine gegebene Reihe an historischen Ereignissen, wird demnach durch Verknüpfung (z.B. kausal) und die unterschiedliche Gewichtung einzelner Ereignisse zu einem Plot. Dieser kann deterministisch sein, wenn das entscheidenden Ereignis am Anfang der Kette gesehen wir, bzw. als eschatologisch setzt man es an deren Ende.[8] Hier wirkt Whites Theorie jedoch inkonsistent. Denn indem er den eigentlichen Erkenntniswert ausschließlich in der Konstruktionsleistung des Historikers sieht, erscheint seine Theorie konstruktivistische. Um sie gegen relativistische Beliebigkeit abzudichten, postuliert er, dass die Plotstruktur den Ereignissen selbst innewohne.[9] Auch der Erkenntniswert der Erzählung soll sich an der Kohärenz derselben zur Ereignisfolge bemessen.[10] Hier soll also die materielle Basis der Plots gestärkt werden, was jedoch wenig überzeugt, zumal White nicht näher darauf eingeht wie eine Verankerung der Plots in der Geschichte vorgestellt wird. Die Forderung nach Kohärenz zwischen einer Vergangenheit, die ja nach White nur durch das Konstrukt der Plots entsteht und den Plots selbst wirkt widersprüchlich.
[...]
[1] FERRARIS, Maurizio, Was ist der Neue Realismus, in: Der Neue Realismus, S.52.
[2] Ebd. S.52.
[3] Vgl. WARAKOMSKA, Anna, Die narrativen Modelle der Geschichtsschreibung in den Theorien von Hayden White und ihre Kritik, in: Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten, S. 97.ff.
[4] Vgl. WHITE, Hayden, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne, S.131 f.
[5] Vgl. WHITE, Metahistory, S.48.
[6] Vgl. Ebd. S.49.
[7] Vgl. WHITE, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 130.
[8] Vgl. Ebd. S.145 f.
[9] Vgl. Ebd. S.132.
[10] Vgl. Ebd. S.143.
- Arbeit zitieren
- Johannes Konrad (Autor:in), 2016, Ist Geschichte nur Narration? Hayden White und Zoltán Simon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/357235