„Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“ - dies ist das desillusionierte Fazit, welches das Ich in Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“ zum Ende seines Lebens zieht. Die beiden Dinge sind die unvereinbaren Gegensätze, auf die die Welt reduziert wird. Dabei repräsentiert „die Leere“ die Außenwelt und „das gezeichnete Ich“ die Innenwelt. In diesen finalen Zeilen des Gedichts findet sich im Grunde eine gedankliche Zuspitzung der seit jeher bestehenden Problematik der Dichotomie von Geist und Leben. In der natürlich gegebenen Duplizität des Daseins besteht die lebensnotwendige Balance zwischen Innen- und Außenwelt, die jeder Mensch für sich erhalten muss. Bei Gottfried Benn ist an die Stelle der Duplizität allerdings der Dualismus getreten. Eine Ganzheitlichkeit von Geist und Körperwelt ist demnach ausgesc hlossen. Alleine der Geist soll das beherrschende Element sein und sich selber eine eigene Welt kreieren. Diese Ansicht ist stark subjektivistisch. Hier ist deutlich eine starke Übergewichtung der Innenwelt festzustellen, während die reale Außenwelt als „Leere“ als geradezu nicht existent angenommen wird. Was sind aber nun die Folgen eines solchen Verlusts von Duplizität? Was sind die Auswirkungen eines dualistisch ausgerichteten Lebens? Und warum gibt es denn nach der Sicht Benns bzw. des sprechenden Ichs im Gedicht nur diese zwei Dinge? Wieso wird das vielfältige Leben auf „Leere“ und „das gezeichnete Ich“ reduziert? Im Folgenden soll versucht werden auf diese Fragen anhand des Gedichts „Nur zwei Dinge“ Antworten zu finden. Zunächst soll durch die Inhalt sanalyse geklärt werden, welche Informationen dieses Aussagedicht Benns enthält. Dabei wird vor allem darauf eingegangen, wie das sprechende Ich das Leben erfahren hat. Anschließend wird eine Formanalyse vorgenommen. Hier werden die eingesetzten lyrischen Mittel untersucht und in Beziehung zum Inhalt gesetzt. Dabei soll auch die Wirkung und Übertragung der verwendeten Stilfiguren auf die abstrakte Aussageebene betrachtet werden. Nach der Untersuchung von Inhalt und Form wird schließlich die von Benn befürw ortete Antithetik von Geist und Leben anhand der letzten beiden Verse thematisiert. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Gedicht: Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“
3. Inhaltsanalyse
4. Formanalyse
5. „Die Leere und das gezeichnete Ich“: Benns Antithetik von Leben und Geist
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“ – dies ist das desillusionierte Fazit, welches das Ich in Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“ zum Ende seines Lebens zieht. Die beiden Dinge sind die unvereinbaren Gegensätze, auf die die Welt reduziert wird. Dabei repräsentiert „die Leere“ die Außenwelt und „das gezeichnete Ich“ die Innenwelt. In diesen finalen Zeilen des Gedichts findet sich im Grunde eine gedankliche Zuspitzung der seit jeher bestehenden Problematik der Dichotomie von Geist und Leben. In der natürlich gegebenen Duplizität des Daseins besteht die lebensnotwendige Balance zwischen Innen- und Außenwelt, die jeder Mensch für sich erhalten muss.
Bei Gottfried Benn ist an die Stelle der Duplizität allerdings der Dualismus getreten. Eine Ganzheitlichkeit von Geist und Körperwelt ist demnach ausgeschlossen. Alleine der Geist soll das beherrschende Element sein und sich selber eine eigene Welt kreieren.
Diese Ansicht ist stark subjektivistisch. Hier ist deutlich eine starke Übergewichtung der Innenwelt festzustellen, während die reale Außenwelt als „Leere“ als geradezu nicht existent angenommen wird.
Was sind aber nun die Folgen eines solchen Verlusts von Duplizität? Was sind die Auswirkungen eines dualistisch ausgerichteten Lebens? Und warum gibt es denn nach der Sicht Benns bzw. des sprechenden Ichs im Gedicht nur diese zwei Dinge? Wieso wird das vielfältige Leben auf „Leere“ und „das gezeichnete Ich“ reduziert?
Im Folgenden soll versucht werden auf diese Fragen anhand des Gedichts „Nur zwei Dinge“ Antworten zu finden. Zunächst soll durch die Inhaltsanalyse geklärt werden, welche Informationen dieses Aussagedicht Benns enthält. Dabei wird vor allem darauf eingegangen, wie das sprechende Ich das Leben erfahren hat.
Anschließend wird eine Formanalyse vorgenommen. Hier werden die eingesetzten lyrischen Mittel untersucht und in Beziehung zum Inhalt gesetzt. Dabei soll auch die Wirkung und Übertragung der verwendeten Stilfiguren auf die abstrakte Aussageebene betrachtet werden. Nach der Untersuchung von Inhalt und Form wird schließlich die von Benn befürwortete Antithetik von Geist und Leben anhand der letzten beiden Verse thematisiert. Es gilt zu klären, ob eine strikte Trennung von Innen- und Außenwelt überhaupt möglich ist und was eine solche Spaltung bewirken soll, warum sie vorgenommen wird.
Benn lässt sein sprechendes Ich klagen: „Es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“ – aber können diese beiden Teile einer ursprünglichen Einheit getrennt voneinander existieren?
2. Das Gedicht: Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“
Nur zwei Dinge[1]
Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Das Gedicht „Nur zwei Dinge“ wurde von Gottfried Benn am 2. Januar 1953 im Alter von 67 Jahren verfasst. Es gehört zu seinem Spätwerk. Erstmals gedruckt wurde es 1953 im Gedichtband „Destillationen“.
3. Inhaltsanalyse
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht leicht verständlich und durchschaubar. Der Wortschatz ist einfach und klar. Wird allerdings nach einer deutlichen, in prosaischer Sprache präzise beschreibbaren Aussage von „Nur zwei Dinge“ gefragt, so ergeben sich Probleme. Denn hier tritt die poetische Bildersprache hinter Abstrakta zurück, welche sich auf vielfältige Weise und eben nicht eindeutig interpretieren lassen.[2]
Zweifelsfrei lässt sich jedoch sagen, dort spricht ein leiderfahrenes Ich, welches Bilanz des menschliches Daseins zieht und dabei die Welt und das menschliche Leben auf zwei Dinge reduziert: die Leere und das gezeichnete Ich.
Der Sprecher des Gedichts gibt sich nicht eindeutig als lyrisches Ich zu erkennen, da er seine
Erfahrungen nicht aus Sicht der 1. Person singular reflexiv beschreibt, sondern den Menschen selber anspricht. In der ersten Strophe sagt dieses sich hinter allgemeinen Formulierungen verbergende Ich aus, es sei während seines Lebens „durch so viel Formen geschritten“. Diese Formen sind verschiedene Zustände menschlichen Daseins. Das „Ich“ repräsentiert den Zustand des Individualismus, des Selbst, welches für sich alleine steht. Die Erwähnung des „Wir“ bedeutet, dass das Ich zudem den Kollektivismus erfahren hat. Das „Du“ in dieser dreigliedrigen Aufzählung letztendlich steht für die Erfahrung mit Partnerschaftlichkeit, mit der Liebe zu einer bestimmten anderen Person. Jedoch hat keine dieser „Formen“ dem sprechenden Ich zur Erfüllung verholfen, denn „alles [was es erlebte] blieb erlitten“.[3]
Die Zeile um „die ewige Frage: wozu?“ kann auf wenigstens zweierlei Arten ausgelegt werden. Zunächst ist es möglich, dass diese Frage nach dem Sinn und Zweck des Daseins dabei geholfen hat das Leiden zu überstehen. Eine entgegengesetzte Interpretation würde bedeuten, dass es gerade diese Sinn-Frage gewesen ist, die an sich die Leidensquelle des Ichs war. Diese letzte Annahme ist insofern wahrscheinlicher, als der in der zweiten Strophe verwendete Ausdruck „Kinderfrage“ die fragende Suche nach einem Sinn des Lebens als geradezu lächerlich und unreif darstellt.[4]
Das Ich ist offenbar mit zunehmendem Alter bzw. zunehmender Lebenserfahrung zu der Erkenntnis gekommen, dass es „nur eines“ gibt, nämlich das stillschweigende Ertragen des Lebens, welches hier geradezu synonym mit „Leiden“ gebraucht wird. Der Sprecher stellt dies dabei als allgemeingültige Tatsache dar, denn er spricht jeden Menschen direkt an: „Dir wurde erst spät bewußt“. So bezieht er subtil jeden Leser in seine resignierende Melancholie ein und unterstreicht hiermit das allumfassend waltende Leiden und dessen Ertragen. Ausgehend vom eigenen Weltschmerz begibt sich das Ich in die narzißtische Sichtweise, seine Art das menschliche Dasein zu erfahren wäre die einzig wahre und demnach auf alle Menschen zutreffend. Der Meinung des sprechenden Ichs zufolge hat jeder „[s]ein fernbestimmtes: Du mußt“ stillschweigend zu akzeptieren. Das Ertragen wird also zur Lebensformel stilisiert, das leidende Ich wird zum Märtyrer, denn es gibt sich ohne weitere Klage völlig passiv und desillusioniert seinem Schicksal hin.[5] Die Entsinnlichung ist vollzogen, es werden keine Fragen mehr an das Leben gestellt, keine Antworten oder positive Erfahrungen erwartet. Somit erteilt der Sprecher dem aktiv gelebten Dasein eine Absage.
Die parenthetische Zeile „ob Sinn, ob Sucht, ob Sage“ in der zweiten Strophe erzeugt daher einige Unklarheiten, hat sich das Ich doch eben jedem Glauben an einen Sinn oder Zweck entsagt. Auch hier lassen sich über die Bedeutung mehrere Vermutungen anstellen. Die Einbettung der Parenthese zwischen die zentralen Begriffe des „Ertragens“ und des „fernbestimmte[n]: Du mußt“ könnte bedeuten, dass das Ertragen transzendental ist, also über alle Lebensbereiche hinaus geht und nie zu ergreifen, zu begreifen oder zu vermeiden ist.[6] Dies soll bedeuten, dass das Schicksal den Menschen in jeder Lage aufsucht und ihm keine Ausflüchte vor eben jener grausamen (Außen-)Welt offen hält, die nichts außer Schmerz bereitzuhalten scheint. „Du mußt“ – egal, wie der Mensch denkt oder wie er situiert ist, das Leben verursacht sein Leiden. Die angesprochenen Lebensbereiche werden durch die dreifache Reihung der Substantive „Sinn, Sucht, Sage“ wiedergegeben gemäß des Gedankens: Ertrage, völlig egal wohin du zu flüchten versuchst, ertrage das dir vom Leben auferlegte Schicksal.
„Sinn“ bzw. der Wunsch nach dem Entdecken des Sinns würde demnach für eine philosophische Lebenseinstellung sprechen, in der der Mensch die Regression in seine Innenwelt sucht. „Sucht“ steht dann für die körperlichen Aspekte des Lebens. „Sucht“ als Flucht vor dem Schicksal, dem sich letztendlich doch niemand entziehen kann. „Sucht“ nach dem körperlichen Rausch, der einzig die Existenz in der Außenwelt erträglicher machen könnte. „Sage“ müsste dann als vergeblicher Ausbruch aus dem Leben und hinein in die Mythologie verstanden werden, in der das Ich sich der Realität zu entziehen versucht. Doch all diese Fluchtversuche sind wie bereits erwähnt bezeichnenderweise sinn-los. Das „fernbestimmte: Du mußt“, dieses dem Menschen auferlegte Gesetz, legt sich wie ein Schatten über das gesamte Dasein.
Eine andere Möglichkeit zur Interpretation der Parenthese wäre folgende: Das Ich muss die Sinnentleerung ertragen, es muss ertragen, dass es keine Antwort auf die Sinn-Frage findet. Zudem kommt es nicht umhin, Süchte zu ertragen. Damit könnten sowohl Krankheiten gemeint sein als auch unbefriedigtes körperliches Verlangen oder generell der ewige Wunsch nach etwas, das sich nie gänzlich erfüllen lassen wird. Die „Sage“ könnte für den „Mythos Leben“ stehen. Für das Leben, welches so viele Rätsel aufgegeben hat, in das das Ich voller Erwartungen hineingegangen ist und das sich letztendlich als Illusion erwiesen hat. Diese ganze Enttäuschung und Desillusionierung sind nach dieser Auslegung dann die Aspekte, die es aufgrund der Unentrinnbarkeit vor dem „Du mußt“ zu ertragen gilt.
Das Gesetz des stillschweigenden Ertragens steht über dem gesamten Leben. Dies wird in der dritten Strophe angezeigt durch „Rosen [...] Schnee [und] Meere“, die zunächst „erblühte[n]“, bevor sie sogleich „verblich[en]“. Alles, was gut sein könnte, ist nicht von Dauer, sobald sich das Schöne im Leben zeigt, wird es von der Vergänglichkeit erfasst und zerstört.[7] Und gerade weil dieses grausame Gesetz laut des Sprechers der Naturschönheit, der Erfüllung, der Ergründung eines Sinns für Leben und Sterben keinen Raum gibt, so bleiben am Ende nur die zwei Dinge, nämlich „die Leere und das gezeichnete Ich“, welches eben durch diese Leere leidet und erst durch sie zum gezeichneten, und nicht zum erfüllten Ich wurde.
Dabei wird klar, dass „die Leere“ die Außenwelt widerspiegelt und „das gezeichnete Ich“ für die Innenwelt steht. Diese beiden Seiten, die gemeinsam die Duplizität des Daseins ergeben, sind für das sprechende Ich nicht vereinbar. Es klagt die Außenwelt an, sein Inneres zerstört, gezeichnet zu haben. Die Konsequenz daraus ist die Absage an die reale Außenwelt und eine Abspaltung des Geistes von der Körperwelt, die nur noch als nichtiger, unheilbringender „Schein“ dem wahren „Sein“ gegenübergestellt wird. Mit dieser Spaltung entsagt das Ich der Menschlichkeit, die auf eben jener Duplizität beruht, welche das Ich in nahezu ideologischer Absolutheit negiert.
[...]
[1] Gottfried Benn: Späte Gedichte. Wiesbaden, München: Limes Verlag 1979. S. 52.
[2] vgl. Runge, Edith A.: Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 49 (1957). S. 170.
[3] vgl. Kiesel, Helmut: Reim als Botschaft. In: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Band 17. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel Verlag 1994. S. 146.
[4] vgl. Liewerscheidt, Dieter: Gottfried Benns Lyrik. Eine kritische Einführung. München: Oldenbourg Verlag 1980. S. 63.
[5] vgl. Liewerscheid, Dieter: Gottfried Benns Lyrik. S. 65.
[6] vgl. Runge, Edith: Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“. S. 162.
[7] vgl. Schröder, Jürgen: Gottfried Benn und die Deutschen. Studien zu Werk, Person und Zeitgeschichte. Tübingen: Stauffenburg Verlag 1986. S. 74.
- Arbeit zitieren
- Julia Haase (Autor:in), 2003, Die Leere und das gezeichnete Ich - Die Antithetik von Leben und Geist in Gottfried Benns 'Nur zwei Dinge', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34445
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