„>> Familie<< als Struktur liegt fast allen Dichtungen Kleists zum Grunde, vielfach in auffällig gestörter
oder zerstörter Form.“
Diese Feststellung Kreutzers betrifft auch die Novelle Der Findling, welche 1811 erschien.
Die Erzählung handelt von dem Waisenknaben Nicolo, der von dem römischen Güterhändler Antonio Piachi auf einer Geschäftsreise aufgenommen und gemeinsam mit dessen
zweiten Ehefrau Elvire adoptiert wird. Nicolo tritt somit an die Stelle des Sohnes Paolo aus erster Ehe, welcher auf der besagten Reise an einer pestartigen Krankheit verstirbt. Der Adoptivsohn entspricht zunächst den Ansprüchen seiner Adoptiveltern, er entwickelt sich
fortwährend jedoch zu einer brutalen Gefahr für die Eheleute Piachi: Nicolo entdeckt unter anderem behütete Familiengeheimnisse, die ihn dazu veranlassen, seine Adoptivmutter vergewaltigen zu wollen. Elvire stirbt an den Folgen dieses Vergewaltigungsversuchs, woraufhin
Piachi Nicolo mit eigenen Händen umbringt und dafür schließlich selbst auf Befehl des Papstes auf der Piazza del Popolo hingerichtet wird.
Diese die Novelle bezeichnende Destruktivität innerhalb einer Familie evoziert das Anliegen einer Biographieforschung Kleists, um mögliche Indizien für dessen „gestörtes“ bzw. „zerstörtes“ Familienbild in den eigenen Lebenserfahrungen des Autors zu finden.
Und tatsächlich erweist sich Heinrich von Kleists Lebensgeschichte als „permanente Krisengeschichte
[in welcher] der Selbstmord am Wannensee [...] nur als die finale Katastrophe“ gilt. Geboren am 18. Oktober 1777, entstammt Kleist einem der ältesten preußischen
Adelsgeschlechter mit slawischem Ursprung. Seine Kindheit erlebt er in einer patriarchalisch organisierten Großfamilie. Der Vater heiratet Heinrichs Mutter in zweiter Ehe. Nach dessen Tod wird der junge Heinrich in der Pension des Predigers Samuel Heinrich Catel
erzogen, seine Adoleszenz erlebt er beim Regiment. Den als unerträglich empfunden Militärdienst quittiert Kleist (gegen den Willen seiner Familie) schließlich für ein wissenschaftliches Studium in Frankfurt am Main. Zeitgleich verlobt er sich mit Wilhelmine von Zenge,
einer Generalstochter. Diese standesgemäße Verlobung wird zwei Jahre später wieder gelöst. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Findling Nicolo
3. Die Aufnahme und Adoption des Findlings oder Die Infektion mit dem Erreger
3.1 Substitutionen und Stellvertretungen – die Ersetzungskultur in der Novelle Der Findling
4. Das „Monster“ Nicolo
5. Der Eheorganismus Piachi
5.1 Piachi: Vermögen (Ökonomie) und Unvermögen (Impotenz)
5.1.1 Piachi als Komplementärfigur zu Nicolo
5.1.2 Ökonomie und Männlichkeit
5.2 Elvire und das Geheimnis einer trefflichen Frau
Exkurs: (Weiblicher) Geschlechterdiskurs in Der Findling
5.2.1 Zeugungsunfähigkeit – Wer ist schuld?
Exkurs: Ein Zeichen für die Zeugungsunfähigkeit:
Geheimnisdiscours – Enthüllungspsychologie – Substitutionslogik
5.2.2 Das Erzählregime
5.2.3 Der Erzähler und dessen beschränkte Perspektive
6. Abschließende Betrachtung:
Der Erreger Nicolo im geschädigten Familienorganismus Piachi
Literaturverzeichnis
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