Wer sich mit dem Minnesang um 1200 befasst, der wird bei seinen Untersuchungen ohne Zweifel auch auf Heinrich von Morungen stoßen. Der Dichter ist neben Walther von der Vogelweide eindeutig der Favorit der Minnesangforschung. Seine Zeitgenossen aber würdigten Morungen offenbar kaum: „Im Minnesang des 13. Jahrhunderts hat er zwar stilistische und motivische Spuren hinterlassen, eindeutige Zitate, Parodien oder Kontrafakturen von Strophen oder Versen Morungens bei zeitgenössischen Dichterkollegen [...] können [...] nicht nachgewiesen werden“.
Falls Heinrich von Morungen mit dem zu Beginn des 13. Jahrhunderts in zwei Urkunden bezeugten miles Henricus de Morungen identisch ist, so war er ein Ministeriale auf der gleichnamigen Burg bei Sangershausen. Als Mäzen verzeichnen die Urkunden den Markgrafen Dietrich von Meißen, den Schwiegersohn des Thüringer Landgrafen Hermanns I. Die Pension, die Morungen auf Grund nicht näher definierter Verdienste von Dietrich von Meißen empfing, ließ er dem Thomaskloster in Leipzig zu Gute kommen.
Höchstwahrscheinlich dichtete Heinrich Morungen also in der Umgebung des Thüringer Landgrafenhofes, der eines der bedeutendsten literarischen Zentren seiner Zeit gewesen ist.
Ferner wurde er offenbar durch die Lieder der Troubadours und Trouvères angeregt.
Worin mag nun aber der Grund dafür zu finden sein, dass das lyrische Werk des Thüringer Minnesängers einerseits vom mittelalterlichen Publikum kaum beachtet worden ist, die neuzeitliche Forschung sich andererseits umso mehr für Heinrichs von Morungen Œuvre begeistern konnte und immer noch begeistern kann?
Inhalt
1 Exposition
1.1 Heinrich von Morungen – in der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Kritik
1.2 Zur Zielsetzung und Herangehensweise
2 Das Tagelied – ein Gattungsumriss
3 Interpretation
3.1 Die Textgrundlage: Owê, – sol aber mir iemer mê
3.2 Zum Thema des Liedes
3.3 Eine Gattungssynthese: Der Tageliedwechsel
3.4 Zur Bildlichkeit in Heinrichs von Morungen Lied: Komposition und Struktur
3.5 Über die sprachliche und metrische Form des Liedes
4 Conclusion
5 Bibliographie
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1 Exposition
1.1 Heinrich von Morungen – in der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Kritik
Wer sich mit dem Minnesang um 1200 befasst, der wird bei seinen Untersuchungen ohne Zweifel auch auf Heinrich von Morungen stoßen. Der Dichter ist neben Walther von der Vogelweide eindeutig der Favorit der Minnesangforschung. Seine Zeitgenossen aber würdigten Morungen offenbar kaum: „Im Minnesang des 13. Jahrhunderts hat er zwar stilistische und motivische Spuren hinterlassen, eindeutige Zitate, Parodien oder Kontrafakturen von Strophen oder Versen Morungens bei zeitgenössischen Dichterkollegen [...] können [...] nicht nachgewiesen werden“[1].
Falls Heinrich von Morungen mit dem zu Beginn des 13. Jahrhunderts in zwei Urkunden bezeugten miles Henricus de Morungen identisch ist, so war er ein Ministeriale auf der gleichnamigen Burg bei Sangershausen. Als Mäzen verzeichnen die Urkunden den Markgrafen Dietrich von Meißen, den Schwiegersohn des Thüringer Landgrafen Hermanns I. Die Pension, die Morungen auf Grund nicht näher definierter Verdienste von Dietrich von Meißen empfing, ließ er dem Thomaskloster in Leipzig zu Gute kommen.
Höchstwahrscheinlich dichtete Heinrich Morungen also in der Umgebung des Thüringer Landgrafenhofes, der eines der bedeutendsten literarischen Zentren seiner Zeit gewesen ist.[2]
Ferner wurde er offenbar durch die Lieder der Troubadours und Trouvères angeregt.
Worin mag nun aber der Grund dafür zu finden sein, dass das lyrische Werk des Thüringer Minnesängers einerseits vom mittelalterlichen Publikum kaum beachtet worden ist, die neuzeitliche Forschung sich andererseits umso mehr für Heinrichs von Morungen Œuvre begeistern konnte und immer noch begeistern kann?
Zumindest die Tatsache, dass Morungen nicht zum engeren Literaturkanon des 13. Jahrhunderts gehörte, könnte auf biographische Faktoren und überlieferungsbedingte Zufälle zurückzuführen sein. Schließlich führt Gottfried von Straßburg im Literaturexkurs seines Tristan, der den ersten volkssprachlichen Dichterkatalog des Mittelalters enthält, im Hinblick auf den Minnesang als poetae laureati lediglich Reinmar und Walther auf. Alle anderen nahtegalen werden zwar mit einem pauschalen Lob bedacht, bleiben aber in der Anonymität belassen. Möglicherweise sind Morungens wohl ostmitteldeutsche Lieder u. a. auf Grund der vergleichsweise geringen Quantität[3] gar nicht in dem Maße zu Gottfried von Straßburg und anderen Literaten des südwestdeutschen Sprachraumes vorgedrungen wie die Lieder Reinmars oder Walthers.
Ferner bleibt zu bedenken, dass Gottfried von Straßburg den „luziden, transparenten Stil, der ohne große Gedankensprünge, abseitige Pointen und Ausschmückungen auskommt“[4] propagierte, für den Reinmar vermutlich besser in Anspruch genommen werden konnte, als etwa Heinrich von Morungen.
So erscheint es dann umso plausibler, die geringe Verbreitung der Lieder Heinrichs von Morungen nicht nur auf deren Quantität, sondern eben auch – und auf Grund des großen Interesses der Mediävistik des 19. und 20. Jahrhunderts wohl vor allem – auf deren Qualität, auf deren besondere (um 1200 höchst untypische) ‚Mach- Art ’[5] zurückzuführen.
Alois Kircher erkennt bei Morungen bereits einen Widerstreit zwischen „Minne“ und „Poesie“. Kircher sieht den Vers „wan ich dur sanc bin ze der welte geborn“[6] als Ausdruck Heinrichs von Morungen „poetischem Subjektivismus“, der dem „lyrischen Schaffen eine neue, unerhörte Stellung zu[weist]: Dichten erhebt sich aus dienender Funktion zum Selbstzweck seiner Manifestation“[7].
Weiterhin schreibt Ingrid Kasten dem Minnesänger Morungen dichterische Autonomie und die Suche nach dem individuellen Ausdruck zu. Auch für sie spielt der Vers „wan ich dur sanc bin ze der welte geborn“ eine zentrale Rolle. Schließlich fasst Kasten zusammen:
[Morungen] hat offensichtlich in der Kunst eine wesentliche, wenn nicht die einzige Möglichkeit gesehen, sich seiner Existenz in der Welt zu vergewissern und ihr einen ‚Sinn’ zu geben. Die Bedeutung, die Morungen der Kunst beimißt, erklärt sich jedoch nicht allein aus dem Bedürfnis, sich in der Gesellschaft zu ‚verwirklichen’, sondern auch aus dem Wunsch, sich in einem Medium zu dokumentieren, das sein Leben überdauern kann.[8]
Schließlich argumentiert auch Helmut Tervooren für den modernen Dichter Heinrich von Morungen. Er erklärt die Diskrepanz im Rezeptionsinteresse, die so unterschiedliche Wertung des lyrischen Werkes Morungens, mit „der Art und Weise, in der das Mittelalter und die Neuzeit Lyrik produzierte, rezipierte – und goutierte“[9]. Einmal mehr sieht ebenfalls Tervooren den Vers „wan ich dur sanc bin ze der welte geborn“ als zentrale Aussage, mit deren Hilfe Morungen sein im Minnesang einzigartiges Selbstverständnis auf eine bündige Formel bringe. Im Mittelalter finde nicht die dichterische Individualität, sondern der „optimale Ausdruck der allen gemeinsamen Erwartungen“ Anerkennung.
Deshalb habe der „Dichter“ Heinrich von Morungen zu Lebzeiten hinter dem „Minnesänger“ Reinmar zurückgestanden:
Es ist müßig, hier darüber zu streiten, ob [der Vers „wan ich dur sanc bin ze der welte geborn“] Ausdruck eines gesteigerten dichterischen Selbstbewußtseins ist: eines ist er sicher, nämlich ein Bekenntnis Morungens zu seinem Dichtertum. Er sagt: Ich bin Dichter, sonst nichts. Morungen war ein Dichter von ausgeprägter Individualität, er besaß eine kühne Phantasie, eine starke Bildkraft und eine feine musikalische Begabung. Natürlich war er auch Minnesänger, denn der Minnesang war in der damaligen Gesellschaft die einzige Form, in der Liebeslyrik aktualisiert werden konnte; doch bei Morungen spürt man den Drang, die gesellschaftliche Bindung des Minnesangs zu sprengen und die Kunst als Selbstzweck zu sehen. Er sang zwar – wie alle – von der Minne, er sang auch in der Form der Zeit, aber er zwang die Minne, sich dem Primat der Poesie zu unterwerfen.
Alle diese Qualitäten jedoch, die wir seit Klopstock und Goethe als die eigentlich dichterischen schätzen, stempeln Morungen im Mittelalter zum Außenseiter.[10]
Es stellt sich nun unweigerlich die Frage, inwiefern Tervoorens Thesen über Morungen an dessen Werk haltbar sind, das heißt insbesondere, ob und inwieweit die Lieder Heinrichs von Morungen einen „Dichter von ausgeprägter Individualität“, der „eine kühne Phantasie, eine starke Bildkraft und eine feine musikalische Begabung“ besaß, der „zwar – wie alle – von der Minne [sang], [...] auch in der Form der Zeit, aber [...] [der] die Minne [zwang], sich dem Primat der Poesie zu unterwerfen“ – kurz: einen durchaus modernen Dichter seiner Zeit – erkennen lassen.
1.2 Zur Zielsetzung und Herangehensweise
Die vorliegende Arbeit nimmt sich der im vorherigen Abschnitt herausgearbeiteten Fragestellung in der folgenden Art und Weise an:
Die Thesen, die Helmut Tervooren formuliert, werden anhand eines Liedes Heinrichs von Morungen erörtert. Die Arbeit stützt sich auf das Lied Owê, – sol aber mir iemer mê. Die Untersuchung kann meines Erachtens, wenn sie den vorgegebenen Umfang dieser Arbeit nicht hoffnungslos sprengen und dennoch auf der Grundlage einer möglichst soliden umfassenden Textanalyse[11] erfolgen soll, lediglich an Hand eines ausgewählten Liedes durchgeführt werden.
Damit einige wesentliche Aspekte – insbesondere Heinrichs von Morungen Thema und seine Gattungsinnovation – sinnvoll bearbeitet werden können, ist eine kurze Darstellung über die Gattung des Tageliedes zunächst unumgänglich.
Die anschließende Interpretation setzt sich, entsprechend der Zielsetzung, mit dem Thema von Owê, – sol aber mir iemer mê, Heinrichs von Morungen Gattungssynthese, der Bildlichkeit (im Hinblick auf die Komposition und die Struktur) und im weiteren Verlauf der sprachlichen und metrischen Form seines Liedes auseinander.
[...]
[1] Irler, Hans: Minnerollen – Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen. Lang. Frankfurt/ Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001. S. 11.
[2] Es ist nachgewiesen, dass Hermann I. Heinrichs von Veldeke Eneasroman, Herborts von Fritzlar Trojanerkrieg und Wolframs von Eschenbach Willehalm, vermutlich auch Albrechts von Halberstadt mittelhochdeutsche Übersetzungen der Metamorphosen, welche die ovidianischen Motive in Morungens Lyrik angeregt haben könnten, finanzierte.
[3] Von Heinrich von Morungen sind 115 Strophen in 35 Tönen überliefert, das Werk Reinmars ist etwa doppelt so groß.
[4] Irler, Hans: Minnerollen – Rollenspiele, a. a. O. S. 14.
[5] Hier wird ganz bewusst mit dem Wort „Machart“ gespielt.
[6] Heinrich von Morungen: Leitlîche blicke. MF 133,13 – 46 C. Strophe I. V. 7.
[7] Irler, Hans: Minnerollen – Rollenspiele, a. a. O. S. 15f.
[8] Ebd. S. 16f.
[9] Tervooren, Helmut: Heinrich von Morungen und seine Stellung im deutschen Minnesang. In: Heinrich von Morungen: Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren. Verbesserte und bibliographisch erneuerte Ausgabe. RUB 9797. Stuttgart 1992. S. 194.
[10] Ebd. S. 207.
[11] Die Beschränkung in der Textanalyse auf nur einen Aspekt, dafür in verschiedenen Liedern, halte ich im Hinblick auf das Thema nicht für angebracht, da in diesem Fall auf Grund ungenügend umfangreicher Beweise u. a. kein hinreichend fundiertes Ergebnis abgeleitet werden kann.
- Arbeit zitieren
- Kevin Demski (Autor:in), 2003, Heinrich von Morungen - der moderne Dichter um 1200?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17601
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