Gliederung:
- Einleitung
- Darstellung des Rechts und der Ordnung zur Zeit des Helmbrecht
- Bedeutung der Thematik im Gefüge der höfischen Blütezeit
- Die Rollen und Darstellungen der Familienmitglieder
- Die Mutter
- Die Schwester
- Der Vater
- Die Darstellung des Helden Helmbrecht
- Darstellung der unausweichlichen Familientragödie
- Die Absicht des Autors
- Schlußwort
Einleitung
Im folgenden Text wird der Versuch unternommen, den „Helmbrecht“ von Wernher dem Gartenaere als Familientragödie darzustellen. Dafür muß nicht nur die Schuld des Protagonisten, sondern auch die der einzelnen Familienmitglieder aufgezeigt werden. Erst durch die Zusammenfassung dieser Informationen wird dann schließlich die unausweichliche Familientragödie sichtbar.
Darstellung der Gesellschaft und Ordnung zur Zeit des Helmbrecht Um sich dem „Helmbrecht“ als Familientragödie zu nähern und ihn als solche zu verstehen, muß man zunächst einige grundlegende Punkte der damaligen feudalen Gesellschaft und der Ordnung verdeutlichen.
Über der gesamten damaligen Gesellschaft lag die Ordo-Lehre als Instrument der Ständeteilung. Die Ordo-Lehre besagt, daß jeder Mensch in seinen Stand geboren wird und diesen Platz sein Leben lang ausfüllt. Weiterhin ist dieser Stand gottgewollt und ein Wechsel in einen anderen Stand wurde als sündhaft angesehen und wurde im Glauben der Gesellschaft von Gott bestraft. Die Ursprünge der Ordo-Lehre befinden sich bereits in der Antike, wo die Menschen durch Körperschaften und Steuerlisten in Bezug auf ihren sozialen Stand eingeteilt wurden.
Augustinus aber setzte den Grundstein für die mittelalterliche Ständeordnung, indem er die Welt in einen Geistlichen- und Laien-Orden teilte, unter dem Aspekt, daß die Welt nach dem Schöpferplan Gottes geordnet ist.
Im späten 13. Jahrhundert ist H. Frauenlobs Einteilung der Gesellschaft in Pfaffen, Ritter und Bauern gebräuchlich. Dementsprechend ist auch die Gesellschaft, die Wernher der Gartenaere in seinem „Helmbrecht“ darstellt dieser Dreiteilung unterworfen, wobei sich der Protagonist „Helmbrecht“ durch Geburt im Stand der Bauern befindet.
Die einzelnen Stände, ordo clericus, ordo rusticorum und ordo militaris waren in sich noch weiter geteilt. Beispielhaft erkennt man dies im „Helmbrecht“ am ordo rusticorum an der Unterteilung gebûwer, frîman, meier; darauf soll aber im weiteren Verlauf nicht näher eingegangen werden, da es für die Tragödie der Familie des „Helmbrecht“ nicht weiter ausschlaggebend ist.
Das gültige Recht im späten 13. Jahrhundert.
Zunächst wird hier das gültige Recht des späten 13. Jahrhunderts dargestellt. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden dann die Verstöße der einzelnen Familienmitglieder aufgezeigt.
Kleiderordnung
Kleidungsstücke waren für den Menschen der damaligen Zeit weitaus mehr, als nur Gegenstände, mit denen er seine Nacktheit vor den Mitmenschen verbarg. Die Kleidungsstücke zeigten vielmehr die ständische Zugehörigkeit, eine Widerspiegelung des Besitzes, sowie eine Spiegelung des inneren Seelenlebens nach Außen. Letzteres gilt hauptsächlich für den Stand der Ritter.
Die Bauern trugen autark hergestellte Stoffe, wie z.B. grobgewebte, einfarbige und einfache Stoffe, zumeist in schwarz oder grau. Die Haare der Bauern mußten kurzgeschnitten sein, als Kopfbedeckung diente ihnen eine einfache Kappe.
Der Ritter der höfischen Zeit trug schulterlange Haare, meist blond und gelockt. Als Kopfbedeckung kannte man verschiedene Arten von Mützen, Hüten und Kappen, die oftmals zugleich Standesabzeichen waren. Die Cotte war das Hauptkleidungsstück eines Ritters, darunter ein verziertes Hemd aus teuren Stoffen, darüber den Surcot oder einen Mantel, der zur besonderen Prachtentfaltung diente.
Zu einer vollständigen Ritterrüstung gehörten das swert, gollier, ketenwambîs, warkus und das ros/ors; desweiteren einen Helm, Hersenier, Knie-, Brust-, und Armschutz, Panzerhandschuhe, Eisenhose, vergoldete Sporen, sowie Schild Speer und Lanze.
Das Waffenrecht
Das Waffenrecht umfaßte im Mittelalter fünf Elemente: Das Recht des allgemeinen Waffentragens, auch in Friedenszeiten; das Recht der Heer- und Landfolge; das Fehde- und Zweikampfrecht, sowie die Gerichtsfolge.
Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert wurden die Bauern im Zuge mehrerer Landfrieden weitestgehend entwaffnet. Aber bereits 1179 wurde ihnen gestattet beim Verlassen ihres befriedeten Dorfes ein Schwert zu tragen.
Zur Zeit des Helmbrecht waren die Verbote bezüglich des bäuerlichen Waffentragens aufgehoben. Die endgültige Anerkennung durch den Adel ließ jedoch noch einige Jahre auf sich warten, da dieser Stand an seinem gewohnheitsmäßigen Recht des alleinigen Waffentragens festhielt. Dennoch ist nichts dagegen einzuwenden, daß der junge Helmbrecht seinen väterlichen Hof mit einem Schwert bewaffnet verläßt.
Die Schwertleite
Ursprünglich wurde der freie junge Mann durch die Schwertleite für mündig erklärt. Im 12. Jahrhundert und später wurde die Schwertleite innerhalb der Ritterschaft zur Verleihung von Standesrechten und zur ständischen Abgrenzung gegenüber den aufstiegswilligen Bauern instrumentalisiert. Dieses Ritual wurde in aller Öffentlichkeit von einem männlichem, ranghöheren Adligen durchgeführt.
Mit der Schwertleite übernahm der Anwärter die Ritterpflichten, die hauptsächlich aus christlichen und karitativen Verpflichtungen bestanden, z.B. der Verteidigung von Witwen und Waisen mit dem Schwert.
Familienrecht
Zur mittelalterlichen Hausgemeinschaft zählten nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch das freie Gesinde. Zusammen bildeten sie die Familie, eine Friedens-, Rechts-, und Produktionsgemeinschaft.
Vormundschaft
Das älteste männliche Familienmitglied, zumeist der Vater, besaß die sog. „Muntgewalt“ über die Familie. Diese beinhaltet in ältester Zeit das Züchtigungs-, Verkaufs-, Tötungs- und Verheiratungsrecht. Infolge von gesellschaftlichen Veränderungen schwächte sich die „Muntgewalt“ mehr und mehr ab und ging über in eine Schutz- und Schirmpflicht.
Daraus resultiert die Ehrfurchts- und Gehorsamspflicht aller anderen Familienmitglieder. Selbst der älteste Sohn, der als Hoferbe eingesetzt ist, ist dem Vater bis zur Übernahme des Hofes zu Gehorsam verpflichtet.
Erbrecht und eheliches Güterrecht
Zur Zeit des Helmbrecht galt das sog. „Anerbenrecht“, das besagt, daß der väterliche Hof einem einzelnen Erben zustand. Dieses Recht löste das ältere Erbrecht ab, nach welchem der Hof und der Besitz unter den Söhnen aufgeteilt wurde. Die anderen Kinder wurden entweder durch Verheiratung oder durch Abschichtung aus der väterlichen Munt entlassen und erhielten in diesen beiden Varianten ihr Erbteil. Der Vater ist der Vermögensverwalter der Familie. Er allein verfügt über das Vermögen und den Besitz der Familie. Der Besitz der Ehefrau besteht aus ihrer Mitgift, diese jedoch wird auch von dem Ehegatten verwaltet und dieser entscheidet auch darüber, wie- und ob die Ehefrau es einsetzt.
Es sei jedoch noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Vater der Familie das Geld nur verwaltet; denn die Mitgift der Ehefrau ist gleichzeitig ihre Versorgungsgrundlage im Falle des Ablebens des Mannes. Ebenfalls muß der Vater auch jederzeit dazu in der Lage sein, den Kindern ihre rechtmäßige Abschichtung als Erbteil zu geben.
Patenschaft und künstliche Verwandtschaft man lizet ze Rôme an der phaht, ein kint gevâhe in sîner jugent von sînem toten eine tugent. ein edel ritter was mîn tote:
V. 480 ff
Diesen Versen liegt der alte Volksglaube zugrunde, daß zwischen Pate und Täufling vielfältige sympathetische Beziehungen bestehen. Der Pate übernahm bei der Taufe die Verpflichtung, bei der Erziehung und der christlichen Weisung des Täuflings mitzuwirken.
Auch der Beischlaf mit einer schwangeren beeinflußte nach dem Volksglauben das Ungeborene in Bezug auf seine Charaktereigenschaften
Eheschließungsrecht
Zur Zeit des Helmbrecht gab es vier Formen der Ehe, bzw. Eheschließung, nämlich die Muntehe, die Friedelehe, die Kebsehe und die Raub- und Entführungsehe. Die gängigste Form war die Muntehe. Hierbei entschied der Vater über den zukünftigen Schwiegersohn.
Im Gegensatz dazu wurde die Friedelehe allein durch die Willensübereinkunft des Brautpaares beschlossen. Die Partner dieser Ehe waren gleichberechtigt. Bei dieser Ehe bekommt die Braut keine Aussteuer des Vaters, sondern nur die Morgengabe des Bräutigams. Die Heirat wird jedoch auch öffentlich vollzogen. Die Kebs- und Raubehe kommen für den Helmbrecht nicht in Betracht.
Im ausgehenden 12. und 13. Jahrhundert nutzen die Frauen mehr und mehr das neu aufkommende Selbstverlobungsrecht, welches sich aber nur sehr langsam durchsetzen konnte. Jedoch behält sich der alte Meier Helmbrecht noch das alleinige Verheiratungsrecht vor, wie Gotelint in Vers 1417 darstellt: daß man ihre Schwester ze manne gap.
Zuletzt soll noch die eigentliche Vermählung kurz dargestellt werden, gegen die im Helmbrecht verstoßen wird.
Die rechtmäßige Vermählung besteht aus dem Akt im Ring, dem Hochzeitsmahl, der Brautnacht und der Morgengabe.
Im Ring, bestehend aus Verwandten, findet ein sog. „Konsensgespräch“ zwischen den zukünftigen Eheleuten statt, indem sie beide ihren Ehewillen erklären mußten. Der Anschein der Gleichberechtigung trifft für die Frau aber nicht zu, da sie kaum Einfluß auf die Wahl des Ehepartners nehmen durfte.
Das Hochzeitsmahl wird vom Brautvater ausgerichtet und gehört zu den Vollzugshandlungen einer Ehe.
Darauf folgt die Brautnacht, symbolisch wird dabei vor Zeugen das Bett beschlagen. Beide Handlungen, sowohl Hochzeitsmahl, als auch Brautnacht sind symbolische Versicherungen, daß das Brautpaar von nun an Tisch und Bett als Genossen teilt. Damit die Ehe jedoch rechtskräftig wird, muß der Bräutigam nach der Hochzeitsnacht eine vorher vereinbarte Morgengabe an die Braut übergeben.
Darstellung der Thematik im Gefüge der höfischen Blütezeit.
Im 12./13. Jahrhundert wurde der langsame Verfall der höfischen Sitten und der höfischen Kultur mehr und mehr sichtbar. Der niedere Adel verarmte zunehmend, während einzelne Bauern durch eine starke Zunahme ihres Besitzes aufstrebten. Ebenfalls gab es in dieser Zeit kein idealtypisches Rittertum mehr, das die ritterlichen Pflichten, wie tugent, êre, milte, staete, triuwe und mâze aufrecht erhielt. Das erkennen wir einerseits im Helmbrecht an dem Bericht des Protagonisten nach der Rückkehr vom Hofe:
swer liegen kan der ist gemeit, triegen daz ist hövescheit. er ist gefüege, swer den man mit guoter rede versnîden kan. swer schiltet schalclîche, der ist nû tugentrîche.
Vers 1007-1012
Andererseits an fehlenden Vergleichen von Wernher zu Rittern der damaligen Zeit. „Helmbrecht läßt sich nicht vom alten Ideal des höfischen Lebens in einer relativ harmonischen feudalen Welt in die Irre führen, [...] sondern er strebt von Anfang an nach dem Leben des Räubers“ (P.Göhler, S 391). So handelten auch viele, deren Aufstiegswillen von der Obrigkeit und alten Tradition unterdrückt worden ist. Nicht nur Wernher der Gartenaere, sondern auch Konrad von Würzburg, Neidhart, der Stricker, u.a. versuchten den Verfall der hôvewise anzuklagen. Sie waren es, die das idealtypische Leben am Hofe darstellten und in ihren Werken immer wieder die Protagonisten, die gegen dieses Recht verstießen zu Fall gebracht haben und damit die Ordnung erhalten wollten.
Geschichtlich wurde der Verfall der höfischen Sitten durch das Aussterben der männlichen Linie des Babenberger Herrschergeschlechts (1246) und dem nachfolgenden Interregnum (1254-1273) begünstigt.
Die Rollen und Darstellungen der Familienmitglieder
Nun folgt die Darstellung der einzelnen Familienmitglieder und deren Verstöße gegen das damalig geltende Recht, was unausweichlich zu der Tragödie der Familie Helmbrecht geführt hat. Die nun folgende Darstellung soll deutlich machen, daß der Protagonist nicht allein Schuld an der Tragödie ist, sondern daß alle Familienmitglieder eine Mitschuld an der Tragödie tragen.
Die Rolle der Mutter
Über den Charakter der Mutter Helmbrechts ist wenig bekannt, jedoch wird ihr sowohl vom Helmbrecht:
ja enist er niht der vater mîn:
für wâr wil ich dir daz sagen.
dô mich mîn muoter hêt getragen fünfzehen wochen,
dô kom zuo ir gekrochen ein vil gefüeger hoveman;
Vers 1372-1377
als auch von Gotelint Untreue vorgeworfen:
jâ wæn ouch ich sîn kint
von der wârheit iht ensî.
ez lac miner muoter bî
geselleclîche ein ritter kluoc,
dô si mich in dem barme truoc.
Vers 1384-1388
Weiterhin ist die Verschwendung des hauseigenen Vermögens für die Ausstattung des Sohnes einerseits ein Verstoß gegen geltendes Recht, andererseits eine Absage an die Muntgewalt des Vaters.
Durch Ausstattung des Sohnes leistet die Mutter dem Verstoß Helmbrechts gegen die gottgewollte Ordo-Lehre Vorschub. Sie duldet einerseits den Weggang Helmbrechts nicht nur, sondern unterstützt ihn damit vielmehr.
Dadurch kann man ihr auch eine große Mitschuld an der Verarmung des Hofes geben, da sie durch die Abgabe ihrer Mitgift nicht nur sich selbst schädigt, sondern auch den Vater in eine schlechte Ausgangslage bringt, um Helmbrecht von seinem Vorhaben abzubringen, da der Entschluß Helmbrechts zu gehen bereits feststeht und von einem Elternteil unterstützt wird, bevor der Vater das erste Mal im Märe auftritt.
Die Mutter tritt noch einmal nach der zweiten Rückkehr des Sohnes auf, als sie ihm ein Brot gibt, obwohl der Vater den Sohn wegschickt, ohne ihm etwas geben zu wollen: mich riuwet mîn lode und mîn korn, sît mir sô tiure ist daz brôt. und læget ir von hunger tôt, ich gibe iu nimmer umb einen grûz Vers 1754-1757
Dies zeigt wiederum, daß sich die Mutter nicht an geltendes Gesetz hält, welches die Unterstützung von Verurteilten seitens Familienmitgliedern strengstens verbietet. Der Verstoß der Mutter gegen die Schwertleite ist in doppelter Hinsicht ein Vergehen gegen das geltende Recht. Zunächst ist die Mutter nicht dazu befugt, dem Sohn ein Schwert zu geben, also die Schwertleite durchzuführen. Weiterhin gibt die Mutter Helmbrecht einen gnippen, eine Waffe, die versteckt getragen wird und somit gegen die Waffengesetze verstößt.
Die Rolle der Schwester
Zu Beginn des Märes kann man Gotelint keinerlei Vorwürfe machen, obwohl sie sich an der Arbeit für Helmbrechts Ausstattung beteiligt, dies aber wahrscheinlich auf Geheiß der Mutter.
Jedoch wiegt die Schuld, die Gotelint im späteren Verlauf des Märe auf sich zieht nicht umso geringer.
Nach der ersten Rückkehr Helmbrechts vom Hofe versucht er Gotelint zur Heirat mit Lämmerschling zu bewegen. Dies erreicht er vorwiegend durch die Morgengabe, die Gotelint versprochen wird:
ze morgengâbe wil ich ir geben, daz si dester baz mac leben. ich hân voller secke drî, die sint swære als ein blî.
Vers 1327-1330
Dies bringt eindeutig die Gier in Gotelint zum Vorschein, eine der sieben Todsünden:
werdent mir die secke drî,
bin ich armüete frî,
Vers 1403,1404
Die Hauptschuld, die auf Gotelint lastet, liegt darin, daß sie ihrem Bruder in die Superbia folgt, indem sie sich genau wie ihr Bruder von ihrem Vater lossagt und ihn nicht mehr als leiblichen Vater anerkennt. Vers 1384-1388 (bereits oben abgedruckt) Heimlich entzieht sie sich der Muntgewalt des Vaters und folgt Helmbrecht zum Hofe des Vaters von Lämmerschling, wo sie in die Ehe mit Lämmerschling einwilligt. Jedoch wird die Ehe laut dem damaligen Brauch nicht korrekt vollzogen und war somit ungültig. Zwar galt zur damaligen Zeit bereits das Recht der Selbstverlobung für Frauen, aber dies nutzt Gotelint in aller Konsequenz aus, da sie sich vollständig von ihrer Familie und ihren Verwandten lossagt:
nû wizze daz ich wâge
vater, muoter und mâge. Vers 1429, 1430
Die Bestrafung Gotelints folgt nur wenig später. Gotelint verlôs ir briutegewant;
bî einem zûne man sie vant in vil swacher küste.
si hêt ir beide brüste
mit handen verdecket:
si was unsanfte erschrecket. Vers 1631 ff.
Schon kurz nachdem Die Räuberbande durch die Schergen des Richters aufgegriffen wurde, findet man Gotelint nackt, entblößt und in schwachem Zustand an einem Zaun; daß sie ihr Brautgewand verloren hat versinnbildlicht den Verlust der Jungfräulichkeit, es lag also eine Vergewaltigung durch die Schergen des Richters vor. Notzucht war zu der Zeit grundsätzlich eine Straftat, jedoch mußte es sich bei der vergewaltigten Frau um eine unbescholtene Person handeln, die mit zerzaustem Haar und zerfetzten Kleidern Anklage erhebt. Gotelint hingegen hatte sich von ihren Eltern losgesagt und sich Helmbrechts rechtlosen Gesindel angeschlossen, somit wurde sie zu einer unehrenhaften, vogelfreien Person und die Vergewaltigung blieb nach dem damaligen Recht straffrei.
Dies ist sozusagen auch die Strafe für Gotelints sexuelle Begierde, die an zwei Textstellen deutlich wird. Zunächst ihre Scherze über den Vollzug des Beilagers:
des ein wîp an manne gert.
ouch trûw ich in gewern wol
Vers 1407 f.
Dann die Ungeduld bei der Eheschließung, da laut der damaligen Vorstellung die angehende Ehefrau sich beim Ja-Wort zieren sollte, was als Beweis für ihre jungfräuliche Sittsamkeit galt:
zem dritten mâle: «welt irn?» «gerne, herre, nû gebt mirn!»
Vers 1527 f.
All dies sieht Wernher als verwerflich an und bringt es zur gottgewollten Strafe. Die Rolle des Vaters:
Der Vater steht in dem Märe „Helmbrecht“ für Recht und Ordnung, im Sinne der alten Tradition. Neben Helmbrecht spielt er im Märe eine Hauptrolle. Wie bereits erwähnt, besitzt der Vater die Muntgewalt in der Familie, die ihm jedes Recht gibt, die Familienangehörigen zu züchtigen, jedoch wird schon vor dem ersten Auftreten des Vaters deutlich, daß seine Muntgewalt eingeschränkt ist. Zunächst treten Frauen (Mutter, Gotelint, Nonne) auf, die fieberhaft an der Ausstattung des Helmbrecht arbeiten und somit die Tragödie einleiten. Man erkennt also schon, daß dem Vater bereits zu Beginn die nötige Macht fehlt, um das nahende Unheil abzuwehren; denn man kann davon ausgehen, daß der alte Helmbrecht über die Vorgänge in der Familie informiert war; er hält die Frauen aber nicht von ihrer Handlung ab, vielmehr unterstützt auch er seinen Sohn zu Beginn des Märe, als er ihm das Pferd gab. Zwar versucht er seinen Sohn mit den Worten: dîn ordenunge ist der phluoc Vers 291 an seine Ordnung zu erinnern, jedoch gewährt er ihm durch den Kauf des Pferdes die Möglichkeit, das Recht des Vaters auf die Kontrolle der Geschehnisse am eigenem Hof zu unterlaufen.
Dieser erste Dialog ist nahezu wie ein Schwarz-Weiß-Kontrast dargestellt. Der Vater bittet seinen Sohn zunächst am Hof zu bleiben: Lieber sun, belîp bî mir. Vers 279.
In der Folge versuchte er es mit moralischen Reden: nû volge mîner lêre, des hâstu frum und êre; Vers 287, mit verlockenden Aussichten: ich weiz wol, ez wil geben dir der meier Ruopreht sîn kint Vers 280 und mit der Darstellung der Gefahren und Unannehmlichkeiten: diu hovewîse ist herte, den die ir von kindes lit habent niht gevolget mit. Vers 244 ff.
Eigentlich aber ist der alte Helmbrecht nicht dazu gezwungen, den Sohn mit Worten umzustimmen, da ihm seine Muntgewalt jedes , auch körperliche, Recht gibt, um den Sohn am Fortgang zu hindern.
In der Forschungsliteratur wurde der Helmbrecht oft mit dem biblischen Gleichnis des verlorenen Sohnes verglichen, was laut W.E Jackson verhindert hat, daß der Helmbrecht als Familiengeschichte gesehen wurde.
Durch den Vergleich mit der Parabel des verlorenen Sohnes wird der Charakter des Vaters deutlich. Der biblische Gottvater ist gütig, stark und autoritär, im Gegensatz zum alten Helmbrecht der in seiner Autorität von seinem selpherrishiu kint geradezu unterdrückt wird. Zwar wirkt der alte Helmbrecht bei der ersten Rückkehr des Sohnes noch gütig, indem er ihn warmherzig empfängt, jedoch wird seine Schwäche durch seine Aussage, daß Helmbrecht am Hofe nicht mehr arbeiten muß, deutlich. gâ niuwan ûz unde in. sun, tuo die hovewîse hin;. Vers 1103 f
Die Träume des Vaters hingegen rücken ihn in ein ganz anderes Licht, sie geben ihm den Status des Geweihten, von Gott berufenen. Träume galten im Mittelalter als schicksalhafte Prophezeiungen, die einen Einblick in die Zukunft gewähren, um drohendes Unheil eventuell noch zu verhindern.
Die Träume des Vaters werden vom mittelalterlichen Rezipient als eine Warnung Gottes angesehen, mit der verbundenen letzten Chance, dem Unglück zu entgehen. Die vier Träume des Vaters stellen sich wie folgt dar:
Zunächst hält Helmbrecht zwei strahlende Lichter in der Hand. Der Vater sagt, daß er dasselbe von einem Mann geträumt hat, der dann erblindete. Vers 581-586 Im zweiten Traum trägt Helmbrecht ein Holzbein und hat einen Arm verloren. Vers 593-597
Der dritte Traum besagt, daß Helmbrecht über „Wald und Busch hinwegfliegen“ will, er kann es aber nicht, da ihm ein Flügel gestutzt wurde. Vers 603-610 Der vierte Traum beinhaltet, daß Helmbrecht zwei Meter über dem Boden an einem Baum hängt. Rechts von ihm sitzt ein Rabe, links eine Krähe, die sein Haar „kämmen“. Vers 617-631
Der Vater deutet diese Träume durchweg als schlimme Prophezeiungen und fordert Helmbrecht auf, sich eine zweite Meinung bei „weisen“ Männern einzuholen, was Helmbrecht jedoch in den Wind schlägt, da er die Träume für sich positiv bewertet, gleich darauf nimmt er Abschied und auch hier wird die mangelnde Muntgewalt des Vaters deutlich.
Dies sind die grundsätzlich erkennbaren Charaktereigenschaften des Vaters, die nicht direkt eine Straftat beinhalten. Den einzigen Vorwurf über eine Straftat kann man ihm machen, als er nach der 2. Rückkehr Helmbrechts einen Blinden schlagen will, dies jedoch nicht ausführt, sondern den Knecht schlägt:
er sluoc den kneht: «nû habe dir daz!
dînen meister tæt ich same,
wan daz ich mich des schame, ob ich blinden slüege
Vers 1802 ff.
In diesem letzten Dialog wird die Härte und Strenge des Vaters deutlich, obwohl ihm das Herz zerbricht. Der Vater weiß um Recht und Ordnung und setzt dies sogar über die Barmherzigkeit und Gnade, selbst gegenüber seinem eigenen Kind. Er gewährt seinem verurteilten, blinden Sohn keinen Unterschlupf mehr, dazu wäre er aber auch aufgrund der Erzählabsicht des Autors nicht mehr in der Lage, da dann das fest aufgebaute Konstrukt von Recht und Ordnung einbrechen würde. Wieder spielt der Vater also eine eher hilflose, als autoritäre Rolle, begleitet durch die unterschwellige Unterwanderung seiner Muntgewalt durch die Ehefrau, als sie dem Sohn ein Brot gibt, obwohl der Vater noch kurz zuvor im Dialog sagte, daß er eher einen Fremden bis an seinen Tod bei sich behielt, als seinem Sohn ein Stück Brot zu geben:
den ich mit ougen nie gesach,
den behielt ich unz an mînen tôt, ê ich iu gæbe ein halbez brôt.»
Vers 1794 f.
Abschließend sei zur Rolle des Vaters noch gesagt, daß er anscheinend auch mit seinen namentlich ungenannten Kindern, neben Helmbrecht und Gotelint genug zu schaffen hatte:
ich hân mit mînen kinden weizgot vil ze schaffen.
Vers 778 f.
wol drîstunt ist vester
mîn lîp dan mîner swester: dô man si ze manne gap Vers 1415 ff.
Dies läßt vermuten, daß der alte Helmbrecht schon weit früher Kummer mit seinen Kindern hatte und sich stets vor ihnen behaupten mußte, was seine Rolle als hilflose Marionette erneut verdeutlicht.
Die Darstellung des Protagonisten Helmbrecht
Noch bevor der eigentliche Protagonist Helmbrecht auftritt, wirft Wernher der Gartenaere bereits ein dunkles Licht auf ihn, indem er die Kleidung des Bauerntölpels mit der Absalom-Mähne in nahezu brillanter Form beschreibt und damit seinen Charakter offenlegt. Schon früh zieht er damit also den mittelalterlichen Rezipient auf die Seite des Rechts und der Ordnung, der in der Figur des närrischen Helmbrecht die Superbia erkennt.
Die Haube
Die ersten Verse der Haar- und Haubenbeschreibung weisen eine starke Anlehnung an Neidharts Winterlieder auf und verdeutlichen Helmbrechts Verstoß gegen die Gebote Karls des Großen. Vers 10-19
Obwohl Wernher dieses Motiv von Neidhart mit fast wörtlichen Übereinstimmungen übernimmt, gibt er der Haube schon bald eine ganz eigene Prägung, durch die Ausmalung der einzelnen Haubenbilder, die bei Neidhart fehlen. Die Haubenbilder sind antithetisch konzipiert, sie sollen einerseits als Vorbild, andererseits als Warnung dienen, sozusagen als Spiegel und Gegenspiegel zu Helmbrechts Taten.
Jedes Lebewesen hatte im Mittelalter seine ganz eigene, symbolische Bedeutung, diese war dem damaligen Rezipient zumeist bekannt und mußte durch den Dichter nur angedeutet werden, somit auch die Vögel, die auf Helmbrechts Haube dargestellt werden.
Die negativen Eigenschaften des sitech können direkt auf den Helmbrecht übertragen werden; denn ebenso wie der sitech ein üppiges, farbenfrohes Federkleid trägt, trägt Helmbrecht eine üppige, farbenfrohe Kleidung.
Der sitech ist aufgrund des Weintrinkens ein unkeuscher Vogel, ebenso der Helmbrecht, da Wein ein Herrengetränk war und Bauern rechtlich nicht zugestanden wurde. Ein weiteres Wesensmerkmal dieses Vogels ist auch, daß er sich im betrunkenen Zustand Jungfrauen zuwendet und diese auch vergewaltigt, was ebenfalls auf den Helmbrecht zutrifft.
Der sparwaer ist ein Vogel, der sich gegen die gottgewollte Ordnung stellt, indem er sich zu Vögeln eines höheren Standes gesellt und seine eigenen Artgenossen und Verwandten schädigt. So auch der Helmbrecht, der seinen bäuerlichen Stand verläßt und sich gegen seine Verwandten wendet.
Die tûbe hingegen ist geprägt durch Begierdelosigkeit, Bescheidenheit, Friedfertigkeit, Reinheit, Unschuld und staete, ganz im Gegensatz zu Helmbrecht, der raffgierig und gewalttätig ist. Der größte Feind der Taube ist der sparwaer. Zuletzt noch der galander, ein von Bescheidenheit geprägter Vogel, der sich ohne Widerstand seinem Schicksal fügt, ganz anders aber der Helmbrecht, der nicht dazu bereit ist, sich mit seinem Bauerndasein abzufinden.
Die Darstellung des Eneas, bei der Belagerung Trojas, dient zur bildlichen Darstellung des vorbildlichen Verhaltens eines Kindes gegenüber seinen Eltern. Eneas rettet seinen Vater aus einem brennenden Haus, bevor er aus Troja flieht. Eneas dient in der Geschichte immer wieder als Musterbeispiel für die Gehorsamkeit eines Kindes gegenüber seinem Vater.
Ihm entgegen steht Paris, der wie Helmbrecht der Superbia verfallen ist und durch seine Gier Troja in den Krieg stürzt.
Die auf der Haube dargestellte Karlssage dient nicht nur dazu, den Machtbereich Gottes und die Ausbreitung der christlichen Kultur darzustellen, sondern vielmehr als Darstellung der Stabilisation der göttlichen Ordnung auf Erden.
Helmbrecht verstößt mit seiner Kleidung, seiner Bewaffnung und seiner unrechten Fehde direkt gegen Karles reht.
Die Rabenschlacht steht symbolisch für das Resultat des Ungehorsams von Kindern gegenüber ihren Eltern. Die Söhne Etzels schlagen den elterlichen Rat in den Wind und werden vor Ravenna getötet. Dies soll als Warnung für Helmbrecht gelten. Der höfische Tanz stellt die hôhe muot-Einstellung der adligen Gesellschaft dar, was für Helmbrecht besonders erstrebenswert scheint. Durch das Erstreben der Teilnahme an diesem Tanz versucht Helmbrecht sich von seiner bäuerlichen Verbindung zu lösen. Das Beispiel des höfischen Tanzes stellt die „feudale Harmonie“, das Zusammenleben am Hofe von arm und reich dar, wie es noch der alte Helmbrecht kannte. Laut den Beschreibungen des jungen Helmbrechts scheint diese Harmonie aber der Vergangenheit anzugehören.
Die Haube wurde von einer Nonne hergestellt, die ûz ir zelle entrunnen ist. Vers 111 Hier nahm das Unheil sein Anfang. Wernhers Intention der Nonnenepisode scheint eine Präfiguration des Helmbrecht zu sein. Auch die Nonne hat wegen ihrer eingebildeten hövescheit ihren Stand verlassen und damit ist sie genau wie Helmbrecht eine Verräterin an Gott, dem eigenen Stand, der Familie und des Rechts.
Dadurch, so könnte man meinen, ist die Haube bereits vorbelastet, doch sie ist vielmehr eine Versuchung für Helmbrecht, dessen Schicksal vom Beachten oder Mißachten der Haubensymbolik abhängt.
Die Entschlüsselung der Haubensymbolik nimmt zwar andeutungsweise die Handlung vorweg, doch sie ist mehr als nur ein Zeichen der Durchbrechung der ständischen Ordnung oder des Schicksals des Trägers. Sie ist vielmehr das pädagogische Prinzip der lêre. Es obliegt der Freiheit des Trägers, welchen Weg er wählt, doch das Verlassen des Ordos würde zum unweigerlichen Untergang führen. Wernhers Haubendarstellung beinhaltet also eher die Frage nach dem rechten gottgewollten Leben, als die Problematik des ritterlichen- oder bäuerlichen Lebens.
Die übrige Kleidung Helmbrechts
Zunächst erhält Helmbrecht von der Mutter ein Hemd aus feingesponnenem weißen Leinenstoff, der laut der damaligen Kleiderordnung nur dem Adel zustand. Einen Rock, der mit dem Fell eines Schafes oder einer Ziege gefüttert ist. Ergänzt wird seine Kleidung durch hosen, die je nach Wohlstand auch von Bauern getragen wurden und spargolzen. Schuohe von korrûn bilden den Abschluß. Korduanleder war extrem kostbar und fein und deshalb auch nur dem Adel vorbehalten.
Bereits hier wird deutlich, daß Helmbrechts Kleidung weder eine typisch höfischritterliche, noch eine typisch bäuerliche ist, sondern eher eine geschmacklose Kombination beider.
Ähnlich ergeht es mit der ritterlichen Ausstattung, soweit man sie ritterlich nennen kann, da Helmbrecht nur wenige für einen Ritter charakteristische Ausstattungsgegenstände trägt. Helmbrecht erhält ein swert, ein gollier, einen ketenwambîs, einen warkus und einen hengest. Die vollständige Ritterrüstung wurde bereits im Bereich Kleiderordnung dargestellt.
Ausführlich wird der warkus dargestellt, der in der Forschung mit „Kittelrock“, „Wams“ oder „Leibrock“ übersetzt wird. Die Beschreibungen und Verzierungen dieses warkus deuten aber ehe auf das schlechte Imitat eines Waffenrocks hin. Bereits die Herstellung des warkus aus blauem Tuch deutet auf die Unwissenheit der Familie über ritterliche Kleiderordnung hin, da der warkus eines Ritters stets aus Seide gefertigt wurde. Weiterhin war Bauern das Tragen von blauen Stoffen nur an Sonn- und Feiertagen gestattet.
Ebenfalls deuten die goldenen und silbernen Knöpfe auf diese Unwissenheit hin, da goldene Knöpfe nur von Einschildrittern- und silberne Knöpfe nur von Knappen getragen wurden.
Auch die Edelsteine auf Helmbrechts Rüstung, die sein Äußeres in einen besonderen Glanz hüllten stellten nur scheinbar seinen Aufstieg dar, da es sich um nahezu wertlose Kristalle handelte.
Dies ist sehr interessant, da echten Edelsteinen besondere Eigenschaften zugesprochen wurden, wie z.B. Reinheit, Klarheit und andere magische Fähigkeiten. Da man beim Helmbrecht nur wertlose Imitate findet, wird man die eben genannten Eigenschaften wohl vergeblich suchen.
Im Mittelalter war der Glaube vorherrschend, daß der Träger von Edelsteinen in seinem hôhen muot bestätigt und angetrieben wird, da die Menschen eine enge Verbindung zwischen den seelischen Kräften und der anorganischen Natur zogen. Aufgrund der wertlosen Edelsteine auf Helmbrechts warkus kann man unschwer erkennen, wie es um Helmbrechts hôhen muot bestellt war.
Der warkus ist also ebenfalls geschmackloser und protziger Weise hergestellt und verstößt somit gegen die mâze.
Auch das Pferd, das Helmbrecht von seinem Vater erhält ist keinesfalls ein edles Streitroß, sondern vielmehr ein unedles Reittier, da historische Quellen belegen, daß ritterliche Streitrösser grundsätzlich mit ros/ors bezeichnet wurden, dies taucht im Helmbrecht nicht einmal auf.
Ein weiteres Beispiel, das Helmbrecht als Pseudoritter entlarvt.
Helmbrechts Bewaffnung besteht aus einem swert und einem gnippen, sowie taschen breit. Durch diese Bewaffnung wird unmißverständlich die spätere Handlung des Protagonisten deutlich. Der gnippen ist eine unehrliche Waffe, die stets versteckt getragen wird und damit bereits hinterlistige Straftaten impliziert. Weiterhin hatte der Bayrische Landfrieden von 1229 und auch der von 1244 das Tragen von heimlichen Waffen strengstens verboten. Auch die Beutetaschen, die er von seiner Mutter bekommen hatte verstärken die Annahme, daß Straftaten seitens des Protagonisten zu erwarten waren.
Zuletzt sei noch die Schwertleite erwähnt, die im vorherigen Text bereits beschrieben wurde. Die mütterliche Ritterschaftsverleihung ist nicht nur lächerlich und ungültig, sondern auch eine Gefahr für den Protagonisten, da die von einer Frau ausgeführte Schwertleite dem Ritter Unglück bringen sollte.
Wenn wir nun noch einmal die Ausstattung Helmbrechts zusammenfassen, die Herstellung der Haube von einer aus dem Kloster entlaufenen Nonne, die falsche Kleidung und Bewaffnung, die mütterliche Schwertleite, so erkennen wir schon sehr früh, daß Helmbrechts scheinbarer Aufstieg unter keinem guten Stern steht. Im weiteren Verlauf kann man auch erkennen, daß es nicht im Sinne des Protagonisten war, die ritterlichen Tugenden und Pflichten zu erfüllen; denn sowohl die Ausrüstung, als auch Helmbrechts innere Haltung weist in keinem Falle des Textes eine ritterliche Ebenbürtigkeit auf. Vielmehr wird die Unwürdigkeit des Handlungsträgers von Vers zu Vers deutlicher. Helmbrechts „Ritterlichkeit“ begründet sich ausschließlich auf materiellen Dingen und reinen Äußerlichkeiten: er nam wambîs unde swert, er nam mandel unde roc. Vers 672 f.
Die Straftaten und Vergehen des Helmbrecht
Im 13. Jahrhundert gab es bereits ein berufsmäßiges Verbrechertum, da es kein intaktes oder gut funktionierendes Gerichtswesen und Strafsystem gab. Die Gerichtsbarkeit war zwischen dem König, den Herzogen und Grafen aufgeteilt. Die Exekutive der Gerichtsbarkeit waren Richter und Scherge, diese wurden im Helmbrecht von Gott mit der Ausübung der Gerichtsgewalt betraut. Der Richter war der ausschließliche Träger der Gerichtsgewalt. Es war seine Pflicht, persönlich gegen Landfriedensbrecher vorzugehen.
Jedoch herrschten im 13. Jahrhundert schlimme Zustände im Gerichtswesen, da Richter und Scherge, die auch der verlängerte Arm Gottes genannt wurden, bestechlich waren. Der Richter im Helmbrecht wird jedoch als vorbildlich dargestellt; eine weitere Intention des Dichters die damalige alte Ordnung wieder herzustellen. Der Scherge unterstützte den Richter, indem er Verbrecher überwältigte und diese ihrer gerechten Strafe zuführte. Er trug eine spezielle Amtstracht und eine besondere Waffe, den „Schergenbann“, der laut dem damaligen Aberglauben bewirkte, daß ein von einem Schergen gebannter Verbrecher sich nicht mehr von der Stelle rühren kann. Dem Schergen oblag das Recht, jedem zehnten Verbrecher durch eine Ablösesumme das Leben zu schenken, auch „Henkerszehnt“ genannt. Die Gerichtsverfahren im Helmbrecht, das Verfahren um die „handhafte Tat“ oder das „Verfahren gegen landschändliche Leute“ war formlos. Die Schuldigen wurden in einem sogenannten „Notgericht“ verurteilt, dabei wurden weder die Täter vorgeladen oder eine Anklage erhoben, noch gab es Verteidigungsmöglichkeiten für die Täter.
Helmbrechts grausame Straftaten waren vielfältig und dabei beschränkte er sich keineswegs nur auf die Adligen, sondern er beraubte auch Pfaffen und sogar seinen eigenen Stand. Zwar verbot es der „Diebesanstand“, die eigenen Verwandten und Familie zu berauben, doch auch davor macht die Bande um Helmbrecht-Slintezgeu keinen Halt, wie an dem folgenden Monolog von Helmbrecht unschwer zu erkennen ist:
mîn geselle Wolvesguome,
swie liep im sî sîn muome,
sîn base, sîn ôheim und sîn veter, und wær ez hornunges weter, er lât niht an ir lîbe
dem manne noch dem wîbe
einen vadem vor ir schame,
den fremden und den kunden same.
Vers 1195 ff.
Helmbrecht ist ein gegen Gott gerichteter Mensch, was man schon sehr früh an der Übertretung der Standesgrenzen und der Mißachtung des vierten Gebotes erkennen kann. Doch die Auflistung der nun folgenden grausamen Straftaten macht deutlich, daß es Helmbrecht charakterlich an nahezu allem fehlte.
Seine Gier und seine Verwegenheit waren ungeheuerlich groß und er machte keine Unterschiede über die Größe seiner Beute:
dehein roup was im ze kleine, im was ouch niht ze grôs. Vers 664 f. Er raubte die Menschen bis aufs letzte aus:
er lie dem man niht leffels wert. Vers 671
Schon bald galt Helmbrecht als der skrupelloseste Räuber der Bande und erhielt stets den größten Teil der Beute.
Es sei noch erwähnt, daß es bei Wernher anscheinend keine rechtmäßigen Fehden mehr gab, da diese normalerweise vom Dienstherren entlohnt wurden, was im Text aber an keiner Stelle belegt ist. Wernher bezeichnet diese Form des Kampfes stets als roup, ein Zeichen dafür, daß sich für Wernher die rechte von der unrechten Fehde nicht mehr abzugrenzen schien.
Ein ganzes Jahr hindurch treibt Helmbrecht mit seiner Bande sein brutales Unwesen, indem sie scheinbar keinen Verbrechen auslassen: Viehdiebstahl, Vers 670, Arbeitsgerätediebstahl, Vers 1057 ff; Kleiderraub, Vers 1975, u.a.; Heimsuchung, Vers 1244; Kirchenraub Vers 1067 ff.; unrechte Fehde, Vers 1132, u.a.; Notzucht, Vers 1865; Beraubung und Schändung von Witwen und Waisen, Vers 1463 ff.; Körperverletzung und Totschlag, Vers 1243, u.a.; Ehrenkränkung, Beleidigung, Quälerei, Vers 1243 ff, u.a.; Erpressung, Freiheitsberaubung, Vers 411 ff., u.a.
Die leichte Vorahnung über Helmbrechts Straftaten, die Wernher zu Beginn des Märes bereits durch die Übergabe des gnippen andeutet, bestätigt sich hiermit in brutalster Form und bringt gleichzeitig die raeze als eine von Helmbrechts Hauptcharaktereigenschaft zum Vorschein.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Helmbrechts Charakter wird durch die Namensgebung deutlich. Bei der gesamten Räuberbande kann man vermuten, daß die Räubernamen frei gewählt wurden, da es unwahrscheinlich ist, daß Menschen unchristliche Namen, wie z.B. Hellesac besaßen. Damit kündigten sie auch gleichzeitig die Zugehörigkeit zu ihrem Familienverband auf. Weiterhin implizieren die Namen natürlich auch die Handlung der einzelnen Charaktere.
Der Name Helmbrecht-Slintezgeu verdeutlicht unweigerlich Helmbrechts Gier und Raubeslust, auch besonders gegen seinen eigenen Stand.
Die Vater-Sohn Dialoge verdeutlichen klar, daß sich Helmbrecht über die Muntgewalt des Vaters hinwegsetzt. Er scheint unbelehrbar und unbeirrbar zu sein. Weiter setzt sich Helmbrecht auch noch über das Recht des Vaters hinweg, die Tochter zu verheiraten, indem er Lämmerschling als zukünftigen Gemahl für seine Schwester aussucht:
der bruoder wart ze râte mit der swester drâte,
daz si im volgete von dan. Vers 1433 ff.
Zusammenfassend wird in der Darstellung des Helmbrecht seine Verwegenheit und die Superbia klar deutlich. Nichts und Niemand kann ihn von seiner Handlung abhalten, bis Wernher am Ende doch schließlich die Autorität von Richter und Scherge in einem Exempel an Helmbrecht statuiert, um ganz klar dem Verbrechertum eine Absage zu erteilen und dem Vater in seinen Äußerungen über die Macht des Schergen zu bestätigen.
Die Darstellung der unausweichlichen Familientragödie
Von Anfang an ist das Schicksal des Protagonisten besiegelt. Wernher konzipiert das Märe vom Helmbrecht jedoch nicht als den alleinigen Untergang des Protagonisten, an dem nur dieser die Schuld trägt, sondern vielmehr als eine Familientragödie, in welcher die einzelnen Familienmitglieder eine Teilschuld am Untergang der Familie und des Protagonisten haben.
Zunächst sind es die Frauen, die ihn ausstatten und sozusagen den Weg Helmbrechts vorzeichnen. Diese Ausstattung befestigt Helmbrecht in seinem Entschluß, den Hof zu verlassen noch tiefer, somit wird dem Vater bereits die Basis entzogen, auf welcher sich eine Diskussion mit dem Sohn, welche diesen in konsequenter Weise daran hindert, den Hof zu verlassen, gründet. Aus diesem Grund muß man der Mutter eine große Teilschuld geben, da sie die Ausrüstung Helmbrechts einerseits hätte unterlassen können und andererseits hinter dem Rücken des Vaters agiert.
Auch der Vater hingegen hätte in konsequenter Form von seiner Muntgewalt Gebrauch machen können, er beschränkte sich aber auf die unzureichenden Mittel des Flehens, Bittens und der moralischen Einwirkung und unterstützte ihn zuletzt, indem er ihm den Hengst gab.
Sowohl die Mutter, als auch der Vater mußten bei ihrer Handlung davon ausgehen, daß das Ausstatten des Helmbrechts die Familie verarmen würde und haben damit ebenfalls zum Untergang der Familie beigetragen.
Die Absicht des Autors
Die Traditionen von Recht und Ordnung, denen sich Wernher der Gartenaere verpflichtet fühlte, waren im 13. Jahrhundert im Umbruch bis hin zur Auflösung begriffen.
Wernher formuliert sein Märe in der Form, daß der unausweichliche Untergang des Helden und der Familie als mahnendes und abschreckendes Beispiel der Folgen einer Mißachtung des alten Rechtes gesehen werden kann.
Der alte Meier Helmbrecht kann in seiner Figurenkonzeption als Hüter von Recht und Ordnung, wie es die alte Ordo-Lehre formuliert, angesehen werden. Er steht der Entwicklung, die sich in der Gesellschaft abzeichnet, jedoch hilflos gegenüber. Das alte Ideal der Ritterschaft, das er beschreibt, existiert in der, seiner Rede gegenüber gestellten, Erzählung des Sohnes nicht mehr.
Die einst ehrenhaften ritterlichen Eigenschaften und Verpflichtungen wandelten sich zu einem negativem Spiegelbild dessen, indem Ritter und Adlige nur noch ihren habgierigen und selbstsüchtigen Interessen folgten. Der Verfall der moralischen Sitten zeigte sich im Helmbrecht jedoch nicht nur am Beispiel der Ritterschaft, er klingt auch im Stand der Pfaffen, durch die Verletzung des Zölibats, der Völlerei und der Melancholie an. Auch vor Richtern und Schergen machte der Verfall keinen Halt. Ihre Bestechlichkeit führte einerseits zum Aufblühen des Raubrittertums und andererseits zum beinahen Zusammenbruch des Gerichtswesens.
Als wichtigster Punkt muß aber ganz klar das Aufstreben des zunehmend reicher werdenden Bauerntums gesehen werden, daß wie auch der Helmbrecht in den niederen Adel drängt.
Dieser Entwicklung versuchte Wernher der Gartenaere durch seine Märe entgegenzuwirken, indem er zunächst auf die herrschenden Mißstände hinweist und letztlich darstellt, daß jeder Mensch, egal welchen Standes, der gegen Gottes Ordnung verstößt, seiner gerechten Strafe zugeführt wird.
Abschließend wäre noch zu erwähnen, daß es Wernher nicht einzig allein um die Mißstände innerhalb der damaligen Gesellschaft ging, sondern auch um die Frage, wie der Mensch ein rechtes, gottgefälliges Leben zu führen hat.
In der literarischen Forschung zum Helmbrecht wird diskutiert, ob Wernher der Gartenaere ebenfalls die Absicht besaß, gegen das Habsburger Geschlecht zu propagieren. Die Habsburger unterstützten nämlich in ihren eigenen Machtbestrebungen den Aufstieg derjenigen in das Adelsgeschlecht, die ihnen von Nutzen waren, was der alten Ordo-Lehre aber widersprach und zur Abschwächung des alten Adels führte.
Schlußwort
Erst bei genauer Betrachtung von Wernher dem Gartenaeres Helmbrecht erkennt man die Vielschichtigkeit seines Werkes, wie er in relativ kurzer Form eine doch brillante und einzigartige Geschichte entwickelt. Auf der einen Seite erkennt man klar die Haltung des Dichters, dennoch erreicht es Wernher seine Meinung so gut zu verstecken, daß letztendlich kein Stand und keine politische Seite dieses Werk für sich ausnutzen kann. Was aber nicht bedeutet, daß Wernher sein dichterisches Ziel verfehlt hat, sondern seine Darstellung die gesamte damalige Gesellschaft unterschwellig mit einbezieht.
Es ist also ein Lehrbuch in hochvollendeter Form, das nicht nur Fragen stellt, sondern auch Antworten gibt.
Literaturliste:
Wernher der Gärtner, „Helmbrecht“, Mhd./Nhd., hrsg., übersetzt und erläutert von F. Tschirch, Stuttgart 1974
P. Göhler, Konflikt- und Figurengestaltung im „Helmbrecht“ von Wernher dem Gartenaere, in: Das Märe, die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters, hrsg. von K.H. Schirmer, Darmstadt 1983, S 384-410
W.E. Jackson, Das Märe vom Helmbrecht als Familiengeschichte, in: Euphorion 84, (1990), S 45-58
P. Menke, Recht und Ordo-Gedanke im „Helmbrecht“, Frankfurt am Main u.a. 1993
H. Wenzel, „Helmbrecht“ wider Habsburg, Das Märe von Wernher dem Gärtner in der Auffassung der Zeitgenossen, in: Euphorion 71 (1977), S 230-249
P. von Matt, Verkommene Söhne, mißratene Töchter, Familiendesaster in der Literatur, München 1995, S 51-79
H. Brackert, Helmbrechts Haube, in ZfdA 103 (1974), S 166-184
- Arbeit zitieren
- Olaf Koch (Autor:in), 2001, Der Helmbrecht als Familientragödie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105059
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